Sozialgericht Aurich
Urt. v. 17.03.2015, Az.: S 13 SO 71/10

Bibliographie

Gericht
SG Aurich
Datum
17.03.2015
Aktenzeichen
S 13 SO 71/10
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2015, 44836
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Eine Betreuung über Tag und Nacht im Sinne des § 54 Abs. 3 SGB XII liegt nicht nur bei einem 24 Stunden andauernden dauerhaften Aufenthalt in einer Pflegefamilie ohne Verlassen des Hauses vor, sondern auch bei nicht behinderten Menschen vergleichbaren auch längeren Abwesenheiten in der Freizeit oder Schulzeit.
Im Regelfall wird bei jedweder geistiger oder körperlicher Behinderung die vollstationäre Aufnahme in eine Einrichtung der Behindertenhilfe durch die Aufnahme in die Pflegefamilie im Sinne des § 54 Abs. 3 SGB XII vermieden.

Tenor:

1. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 9.011,34 € für die Kosten der Hilfe für F. vom 05.08.2009 bis 10.04.2010 zu zahlen.

2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

3. Der Streitwert wird auf 9.011,34 € festgesetzt.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Tragung der Kosten der Vollzeitpflege des Herrn F., geboren G. 1992, für die Zeit seiner Unterbringung bei Pflegeeltern bis zur Volljährigkeit. In der Sache besteht Streit über die Kosten für die Zeit vom 05.09.2009 bis 10.04.2010 in Höhe von insgesamt 9.011,34 Euro. Der Kläger hatte als Träger der Jugendhilfe diese Leistungen gem. §§ 27, 33 des Achten Buche des Sozialgesetzbuches - Jugendhilfe (SGB VIII) erbracht.

F. befand sich seit dem 14.04.1994 in einer Pflegefamilie in H. im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Klägers. Vor der Inpflegegabe lebte der Junge bei seiner leiblichen Mutter in I., im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten. Vom 14.04.1994 bis zum 10.04.2010 erbrachte der Kläger als Träger der Jugendhilfe diese Leistungen.

Auf Antrag vom 02.12.1993 wurde mit gerichtlichem Beschluss vom 28.01.1994 dem Stadtjugendamt I. das Sorgerecht für F. übertragen. Das Wohl des Kindes, insbesondere das geistige und seelische Wohl, sei aufgrund der mangelnden Erziehungsfähigkeit sowie aufgrund der fehlenden Bereitschaft und Fähigkeit der Kindeseltern zur Gefahrenabwehr akut gefährdet. Infolge dieser Entscheidung wurde F. in seine zumindest bis zum Jahre 2010 bestehende Pflegefamilie in H., im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Klägers, gegeben.

Mit Schreiben vom 28.10.1997 beantragten die Pflegeeltern eine Erstausstattung für F. und begründeten diesen Antrag damit, dass er ein Kind mit Entwicklungsrückständen am Rande einer geistigen Behinderung sei. Insbesondere zeige er unkontrolliertes und zerstörerisches Verhalten, wodurch viele Kleidungsstücke nach kurzer Zeit unbrauchbar seien sowie sein Bettzeug zerstört sei. Aus einem Vermerk in der Akte des Klägers vom 09.07.1998 ist dann ersichtlich, dass zu diesem Zeitpunkt weiterhin die gleichen Verhaltensdefizite bestanden. Zu dieser Zeit lief ausweislich des Vermerks eine Überprüfung, ob bei F. eine geistige Behinderung vorliegt. Er war für den Besuch des heilpädagogischen Kindergartens der Lebenshilfe J. vorgemerkt. Eine ganztägige Betreuung war erforderlich, weil F. sein aggressives Verhalten gegen andere Kinder sowie gegen Gegenstände und Sachen richtete. Aus einem weiteren Vermerk vom 10.05.2005 ist erkennbar, dass auch zu diesem Zeitpunkt keine Besserung der Situation bestand. Weiterhin führte sein unbändiger Bewegungsdrang dazu, dass er immer noch einen erheblichen Verschleiß an Bekleidung und anderen Gebrauchsgegenständen hatte. Zu Hause war er nur deswegen tragbar, weil die Pflegeeltern ihn ständig unter Kontrolle hielten. Zu diesem Zeitpunkt wurde auch positiv vermerkt, dass F. emotional in der Pflegefamilie integriert war, so dass zu dieser Zeit Überlegungen, ihn in einer Einrichtung betreuen zu lassen nicht angestellt wurden. Mit zunehmendem Alter wurde über eine Betreuung im Werkstattbereich der Lebenshilfe nachgedacht. F. sei in seinem Verhalten so auffällig, dass eine auch wie auch immer geartete Ausbildung undenkbar erscheine. In der Folge stellte der Kläger die Hilfe in sozialpädagogische Pflegehilfe um.

Nach fortgesetztem Verhalten in oben beschriebener Art gab eine Amtsärztin des Klägers am 21.10.2008 eine Einschätzung ab, dass der Junge aufgrund seiner leichtgradigen intellektuellen Retardierung in Verbindung mit Verhaltensstörungen zum Personenkreis des § 53 des Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches - Sozialhilfe (SGB XII) gehöre.

In dieser Stellungnahme wird von Verhaltensauffälligkeiten im Detail berichtet, so war F. durch die Gruppenstärke im Regelkindergarten überfordert. Im heilpädagogischen Kindergarten der Lebenshilfe in J. besserte sich die Situation etwas. Nach einem Versuch der Beschulung in einer Regelgrundschule kam es zu einer Umschulung in die Schule für geistige Entwicklung in K. In der Schule reagierte F. weiterhin auf Überforderungssituationen mit Schreien, Weinen und aggressiven Störungen. Im lebenspraktischen Bereich benötigte F. ständig Anleitung und Aufsicht bei der Kleidung und hygienischen Versorgung. Er konnte keinen Bezug zu Geld entwickeln. Eine witterungsgemäße Ankleidung war nicht möglich, auch fehlte ihm ein Ordnungssystem für seine Sachen. Er konnte sich nicht einmal tageweise selbst mit Nahrung versorgen. Die Pflegeeltern wünschten zu diesem Zeitpunkt ein angeleitetes Freizeitangebot z. B. über den Familienentlastenden Dienst für F.. Die Amtsärztin gab in ihrer Einschätzung ebenfalls die Prognose ab, dass die Eingliederung in den Werkstattbereich der Lebenshilfe eine erfolgversprechende Perspektive bedingen könnte.

Bei F. stellte das zuständige Landesamt mit Feststellungsbescheid vom 02.03.2009 auf Antrag vom 20.10.2008 einen Grad der Behinderung von 100 fest sowie das Vorliegen der Nachteilsausgleiche Merkzeichen „G“, „B“, „H“. Diese Entscheidung stützte es auf die Funktionsbeeinträchtigungen einer Entwicklungsstörung mit Einschränkungen der geistigen Leistungsfähigkeit und des Sozialverhaltens und sah zu April 2013 eine Nachuntersuchung/Nachprüfung vor.

Mit Schreiben vom 07.12.2009 bat der Kläger den Beklagten um Übernahme der Angelegenheit und machte eine Erstattung gem. §§ 104, 111, 113 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren (SGB X) geltend. Er legte darin dar, dass mit der zum 05.08.2009 in Kraft getretenen Neureglung des § 54 Abs. 3 SGB XII die Familienpflege für Kinder und Jugendliche mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung der Eingliederungshilfe im Sinne der §§ 53 ff. SGB XII zugewiesen sei. Mit Schreiben vom 01.04.2010 lehnte der Beklagte die Übernahme ab.

Mit seiner am 16.12.2010 erhobenen Klage ist der Kläger weiterhin der Auffassung, dass er einen Erstattungsanspruch gem. § 104 SGB X geltend machen könne. Eine Leistungskonkurrenz ergebe sich aufgrund der Regelung des § 10 Abs. 4 des Achten Buches des Sozialgesetzbuches - Jugendhilfe (SGB VIII). Bei körperlich/geistig und seelischer Behinderung sei die Eingliederungshilfe nach dem SGB XII vorrangig gegenüber Jugendhilfeleistungen. F. falle unter diese Regelung des § 54 Abs. 3 SGB XII, weil gerade die Hilfen in Pflegefamilien vom Gesetz umfasst seien. Die örtliche Zuständigkeit des Beklagten ergebe sich aus § 107 i.V.m. § 98 SGB XII. Diese Zuständigkeit bestimme sich nach dem gewöhnlichen Aufenthalt vor Aufnahme in eine Pflegefamilie. Zu diesem Zeitpunkt habe sich der Junge in I. und damit im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten aufgehalten.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger die im Zeitraum vom 05.08.2009 bis zum 10.04.2010 erbrachten Kosten der Jungendhilfe für F. in Höhe von insgesamt 9.011,34 Euro zu erstatten und

den Beklagten zur Kostentragung zu verpflichten.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen und

den Kläger zur Tragung der Kosten zu verpflichten.

Der Beklagte ist der Auffassung, dass zwar bei dem Jungen eine wesentliche geistige Behinderung vorliege, aber vorrangig Jugendhilfeleistungen in Form der Hilfe zur Erziehung an die Pflegeeltern erbracht worden seien. Des Weiteren sei durch die Aufnahme des F. in die Pflegefamilie kein Aufenthalt in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe vermieden worden. Damit sei der Tatbestand des § 54 Abs. 3 SGB XII nicht einschlägig. Insbesondere sei selbst bei theoretischer Möglichkeit der vollstationären Aufnahme eine Aufnahme in einer Einrichtung der Behindertenhilfe ausgeschlossen, vielmehr sei eine Aufnahme in einer Einrichtung der Jugendhilfe möglich gewesen. Diese Einschätzung stützt der Beklagte zusätzlich darauf, dass neben der Hilfe in der Pflegefamilie weitere externe Hilfen erbracht worden seien. Bei F. hätten schwerwiegende Erziehungsdefizite bestanden und dies sei der Grund für die Aufnahme in die Pflegefamilie gewesen. Wegen der weiteren Hilfen sei eine Tag und Nacht Betreuung in der Pflegefamilie nicht durchgeführt worden.

Das Gericht hat in dieser Angelegenheit am 17.03.2015 eine mündliche Verhandlung durchgeführt bezüglich deren Inhalt auf das Protokoll Bezug genommen wird. Weiterer Gegenstand der Entscheidungsfindung waren die Gerichtsakten sowie die von den Beteiligten überreichten Verwaltungsakten.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die Klage ist als Leistungsklage im Sinne des § 54 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. Die beteiligten Träger der öffentlichen Verwaltung stehen sich in einem Gleichordnungsverhältnis gegenüber, so dass der Erlass eines Verwaltungsaktes nicht möglich ist. Für die Erhebung der echten Leistungsklage bedarf es weder eines Vorverfahrens noch der Beachtung einer Klagefrist (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer SGG Kommentar 11. Auflage 2014 § 54 Rn 41).

Die sachliche Zuständigkeit des Sozialgerichts ergibt sich aus § 51 Abs. 1 Nr. 10 SGG i.V.m. § 114 SGB X. Nach diesen Regelungen gilt für den Erstattungsanspruch derjenige Rechtsweg, der auch für den Anspruch auf die Sozialleistung eröffnet ist. Bezüglich dieser Bewertung ist auf das Vorbringen des Klägers abzustellen. Somit ist es unerheblich, dass der Kläger als Träger der Jugendhilfe gegenüber F. Jugendhilfeleistungen erbracht hat.

Nach seinem für die Beurteilung der Zuständigkeit maßgeblichen Begehren wären gegenüber F. Leistungen der Eingliederungshilfe durch den Beklagten zu erbringen gewesen. Für Ansprüche dieser Art wiederum wären nach der Regelung des § 51 Abs. 1 Nr. 6a SGG die Sozialgerichte sachlich zuständig.

Ebenso ist das erkennende Gericht nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 des Niedersächsischen Ausführungsgesetzes zum SGG örtlich zuständig. Örtlich Zuständig ist gem. § 57 Abs. 1 Satz 1 SGG das Sozialgericht, in dessen Bezirk der Kläger seinen Sitz hat. Die Ausnahmevorschrift des § 57 Abs. 1 Satz 2 SGG greift nicht ein, da Kläger und Beklagter juristische Personen des öffentlichen Rechtes sind. Der Anspruch ist auch in zulässiger Weise gegen den passiv legimitierten Beklagten gerichtet, da für die dem Kläger bewilligten Leistungen keine Zuständigkeit des überörtlichen Sozialhilfeträgers nach Landesgesetz begründet ist. Die Leistungsklage ist auch nicht deswegen unzulässig, weil sie unbestimmt wäre, der Kläger hat seinen Antrag ausdrücklich beziffert.

Die Begründetheit der Klage ergibt sich daraus, dass der Kläger einen Anspruch auf Kostenerstattung nach § 104 SGB X gegen den Beklagten hat. Nach § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X gilt, dass ein vorrangig verpflichteter Leistungsträger einem nachrangig verpflichteten Leistungsträger Erstattungsleistungen erbringen muss, wenn der nachrangig verpflichtete Leistungsträger Sozialleistungen gegenüber den Leistungsberechtigten erbracht hat und dies mit Rechtsgrund erfolgt ist.

Dieser Anspruch ist bezüglich des Begehrens des Klägers einschlägig, da keine vorrangig zu prüfenden Erstattungsansprüche gem. §§ 102, 103 oder 105 SGB X bestehen. § 105 SGB X erfordert wegen fehlender Zuständigkeit rechtsgrundlos erbrachte Leistungen. Dies ist nicht der Fall, da dem leistungsberechtigten F. in § 35a SGB XIII jedenfalls ein Rechtsgrund zugutekommt. Ebenso wenig kommt die Regelung des § 102 SGB X zur Anwendung, weil im streitigen Fall keine vorläufige Leistungserbringung im Sinne des § 43 des Ersten Buche des Sozialgesetzbuches - Allgemeiner Teil (SGB I) erfolgt ist. Der Rechtsgrund für die Leistung ist auch nicht nachträglich, rückwirkend weggefallen, so dass es zu einer Anwendung des § 103 SGB X käme.

Zur Anwendung des § 104 SGB X ist es erforderlich, dass die Leistungen zeitgleich und von der Leistungsart her vergleichbar sind (Roos in von Wulffen/Schütze SGB X Kommentar 8. Auflage 2014 § 104 Rn 11 m.w.N.). Dies ist bezüglich der dem Kläger gegenüber erbrachten Hilfen in seiner Pflegefamilie der Fall. Diese kann im Rahmen der Eingliederungshilfe nach dem SGB XII wie auch im Rahmen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII in gleicher Art erbracht werden.

Die Verpflichtung des Klägers als Träger der Jugendhilfe ist gegenüber der Verpflichtung des Beklagten als Träger der Sozialhilfe nachrangig. Eine nachrangige Verpflichtung besteht dann, wenn der nachrangig verpflichtete Leistungsträger bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre. Der andere Leistungsträger muss demzufolge vorrangig verpflichtet sein. (Roos a.a.O. Rn 6). Die vorrangige Verpflichtung des Beklagten ergibt sich aus den Regelungen des § 54 Abs. 3 SGB XII in Zusammenschau mit § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII.

Die zum 05.08.2009 durch den Gesetzgeber eingeführte Regelung des § 54 Abs. 3 SGB XII lautete im streiterheblichen Zeitraum: Eine Leistung der Eingliederungshilfe ist auch die Hilfe für die Betreuung in einer Pflegefamilie, soweit eine geeignete Pflegeperson Kinder und Jugendliche über Tag und Nacht in ihrem Haushalt versorgt und dadurch der Aufenthalt in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe vermieden oder beendet werden kann. Die Pflegeperson bedarf einer Erlaubnis nach § 44 des Achten Buches. Diese Regelung tritt am 31.Dezember 2013 außer Kraft.

Der Gesetzgeber hat mit dieser Regelung des § 54 Abs. 3 SGB XII zum 05.08.2009 jede erforderliche Betreuung eines behinderten Kindes in einer Pflegefamilie typisierend als Eingliederungshilfe nach dem SGB XII bestimmt. Diese Neuregelung erreicht, dass sowohl geistig und körperlich behinderte Kinder wie auch allein seelisch behinderte Kinder zu ihrem Wohl in Pflegefamilien untergebracht werden können. (vgl. Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 25.09.2014 - B 8 SO 7/13 R; vgl. Scheider in Schellhorn u.a. SGB XII Kommentar 18. Auflage 2010 § 54 Rn 81 m.w.N.) Auf einen wie auch immer gearteten Schwerpunkt der Einschränkung ist nicht abzustellen.

Bezüglich F. wurde im streitigen Zeitraum Hilfe für die Betreuung in einer Pflegefamilie erbracht. Er hielt sich auch über Tag und Nacht in deren Haushalt auf. Auf einen „Rund-um-die-Uhr“ Aufenthalt für 24 Stunden in der Familie kommt es dabei - entgegen dem Vorbringen des Beklagten - nicht an. Maßgeblich ist wie bei einem nicht behinderten jungen Menschen alleine die Frage, wo er sich regelmäßig aufhält, wo er sein zuhause hat. Ein Verlassen der Familie auch für längere bspw. Schulzeiten oder externe Freizeitangebote ändert nichts daran, dass der junge Mensch „Tag und Nacht“ versorgt wird. Ebenso wenig ändern auch längere Übernachtungszeiten bspw. im Urlaub etwas daran, dass „Tag und Nacht“ betreut wird. Bei seiner Pflegefamilie handelt es sich auch um geeignete Pflegepersonen, denen eine Erlaubnis nach § 44 des Achten Buches erteilt wurde. Diese Erlaubnis ist unmittelbar aus den Akten zwar nicht ersichtlich, aber aus dem Vorbringen der Beteiligten in der mündlichen Verhandlung ist erkennbar, dass unstreitig vom Vorliegen der Voraussetzungen der Erlaubnis ausgegangen wird. Dieses unstreitige Vorbringen der Beteiligten hält die Kammer nach eigener Bewertung für überzeugend vor dem Hintergrund, dass die Pflegefamilie des F. jahrelang bzw. jahrzehntelang Pflegekinder erfolgreich betreut. Gleichermaßen ergibt sich aus diesem Umstand die Eignung der Pflegeperson.

Gemäß der Regelung des § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII gehen Leistungen nach dem SGB VIII normalerweise Leistungen nach dem SGB XII vor. Jedoch gilt gem. § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII in der im streitigen Zeitraum gültigen Fassung: Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Zwölften Buch für junge Menschen, die körperlich oder geistig behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, gehen Leistungen nach diesem Buch vor. Dies bedeutet im Ergebnis, dass ein Vorrang der Leistungen nach dem SGB VIII und damit eine Kostenträgerschaft des Klägers alleine in denjenigen Fällen besteht, in denen ausschließlich nachgewiesenermaßen eine seelische Behinderung besteht und keine körperliche bzw. geistige Behinderung vorliegt. Die Kammer ist aufgrund der Aktenlage davon überzeugt, dass bei F. keine ausschließlich seelische Behinderung bestand. Diese Einschätzung stützt die Kammer leitend darauf, dass zeitnah zum streitigen Zeitraum das Niedersächsische Landesamt als zuständige Behörde für die Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft mit Feststellungsbescheid vom 02.03.2009 einen GdB von 100 mit Nachteilsausgleichen Merkzeichen „G“, „B“ und „H“ festgestellt hat. Diese Entscheidung wurde auf eine Entwicklungsstörung mit Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit und des Sozialverhaltens gestützt. Die Einschränkungen der geistigen Leistungsfähigkeit sieht die Kammer in jedem Fall als den Grad der geistigen Behinderung übersteigend an.

Diese Einschätzung wiederum findet sich auch in der medizinischen Stellungnahme der Amtsärztin vom 21.10.2008 überzeugend bestätigt. Die Kammer erkennt bei eigener Prüfung, dass ein junger Mensch im Alter von 16 Jahren, der im lebenspraktischen Bereich ständig Anleitungen und Aufsicht bei Ankleidung und hygienischen Versorgung bedarf, nicht allein als seelisch behindert angesehen werden kann. Diese Einschätzung wird weiter dadurch gestützt, dass er insbesondere sich nicht einmal tageweise selbst angemessen mit Nahrung versorgen kann. Vor diesem Hintergrund der tatsächlichen Situation erscheint die Stellungnahme der Amtsärztin bezüglich der Zugehörigkeit zum Personenkreis des § 53 SGB XII und damit zu den geistig bzw. körperlich behinderten Personen im Sinne des Eingliederungshilferechts überzeugend und nachvollziehbar. Weiterer Ermittlungen bedarf es nach Auffassung der Kammer nicht. Ebenso wenig bedarf es der Ermittlung bzw. Feststellung, ob neben der körperlich/geistigen Behinderung eine seelische Behinderung vorliegt, da es nach der zutreffenden Entscheidung des Bundessozialgerichts zu dieser Frage vom 25.09.2014 (Urteil zum Aktenzeichen B 8 SO 7/13 R) unabhängig vom Schwerpunkt der behinderungsbedingten Einschränkung bei jeglichem Vorliegen einer Mehrfachbehinderung mit körperlich oder geistigen Komponenten zu einer Zuweisung in das System der Eingliederungshilfe kommt. Diese Einschätzung teilt die Kammer ausdrücklich. (ebenso Sozialgericht - SG - Aachen, Urteil vom 24.06.2014 - S 20 SO 8/14 mwN; SG Karlsruhe, Urteil vom 30.01.2014 - S 1 SO 3007/12). Ohne dass dies entscheidungserheblich für den streitigen Zeitraum wäre, stellt die Kammer auch fest, dass aus den Akten nicht erkennbar ist, dass die gesundheitliche Situation des Jungen sich seit erster Aufnahme in die Pflegefamilie im Jahre 1994 wesentlich geändert hätte.

Die Kammer erkennt auch die weitere Voraussetzung der Regelung des § 54 Abs. 3 SGB XII der Vermeidung des Aufenthalts in einer vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe als vorliegend. Sie vermag sich nicht dem Vorbringen des Beklagten dahingehend anzuschließen, dass eine Aufnahme des F. in eine Jugendhilfeeinrichtung möglich gewesen wäre. Diese Einschätzung stützt die Kammer ebenfalls auf den zeitnah erstellten amtsärztlichen Bericht vom 20.10.2008. Die dort geschilderten Defizite im Bereich der Selbstversorgung ermöglichen es nicht, eine adäquate Betreuung in der Jugendhilfeeinrichtung zu bieten. Vielmehr bedarf es vor dem Hintergrund dieser Defizite deutlich umfassender Betreuung auch im grundpflegerischen Bereich, die alleine in Einrichtungen der Behindertenhilfe gewährt werden kann. Diese Einschätzung wird im Übrigen durch die früheren Stellungnahmen in der Verwaltungsakte bestätigt, nach denen eine Aufnahme einer regulären Ausbildung für F. für unmöglich erachtet wird und die Aufnahme in eine Werkstatt für behinderte Menschen als allein zielführend angesehen wird. Bei alleinigem Vorliegen einer seelischen Behinderung wäre eine solche Aufnahme nicht als zielführend anzusehen. Auch ist aus dem Vermerk vom 10.05.2005 ersichtlich, dass zu diesem Zeitpunkt ausdrücklich bekundet wird, dass es keiner Überlegungen, F. in einer Einrichtung zu betreuen, bedarf. Vielmehr wird dort die Betreuung in der Pflegefamilie aufgrund der emotionalen Bindungen des F. an seine Pflegeeltern als sinnvoll und damit ausdrücklich die Aufnahme in einer stationären Einrichtung vermeidend angesehen. Im Übrigen erscheint der Kammer eine differenzierte Abgrenzung zwischen der Möglichkeit der Aufnahme des behinderten Jugendlichen in eine vollstationäre Einrichtung der Behindertenhilfe gegenüber der Aufnahme in eine vollstationäre Einrichtung der Jugendhilfe vor dem Hintergrund der obigen zitierten Rechtsprechung nicht erforderlich. Dies ist zwar nicht entscheidungserheblich, aber die Kammer erkennt, dass bei dezidierter Differenzierung dieser Art entgegen der Absicht des Gesetzgebers und der diese Absicht bestätigenden Rechtsprechung (a.a.O.) eine Ermittlung des Schwerpunktes der Behinderung erforderlich wäre. Dies sollte nach dem Willen des Gesetzgebers durch die Gesetzesänderung ausdrücklich vermieden werden. (vgl. insbesondere BSG a.a.O.).

Von daher geht die Kammer davon aus, dass im Regelfall bei jedweder geistiger oder körperlicher Behinderung die voll stationäre Aufnahme in eine Einrichtung der Behindertenhilfe durch die Aufnahme in die Pflegefamilie im Sinne des § 54 Abs. 3 SGB XII vermieden wird.

Derjenige Aspekt, dass nach Aktenlage und Vorbringen des Klägers für F. weitere soziale Hilfen erbracht worden sind, vermag an der Einschätzung, dass die Aufnahme in die Pflegefamilie die Aufnahme in eine vollstationäre Einrichtung vermieden hat, nichts zu ändern. So ist die Regelung des § 54 Abs. 3 SGB XII bezüglich der Versorgung von Jugendlichen über Tag und Nacht - wie bereits ausgeführt - nicht in dem Sinne zu verstehen, dass die Jugendlichen sich nirgendwo anders aufhalten dürften als in der Pflegefamilie. Eine solche Annahme im Sinne einer 24-stündigen „rund-um-die-Uhr“ Betreuung jeden Tag der Woche als alleine den Aufenthalt in einer vollstationären Einrichtung vermeidend anzusehen kann von der Kammer nicht geteilt werden. Auch im Rahmen einer vollstationären Aufnahme in eine Einrichtung der Behindertenhilfe können junge Menschen weitere Sozialleistungen für externe Aktivitäten oder Träger erhalten. Die Aufnahme in die Einrichtung bedingt ebenso wenig wie die Aufnahme in die Pflegefamilie eine abschließende Gewährung von Hilfeleistungen.

Die örtliche Zuständigkeit des Beklagten ergibt sich aus den Regelungen des § 107 i.V.m. § 98 Abs. 2 SGB XII. Nach § 107 SGB XII gilt die Regelung des § 98 Abs. 2 SGB XII entsprechend, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher in einer anderen Familie oder bei anderen Personen als seinen Eltern oder einem Elternteil untergebracht ist. Nach § 98 Abs. 2 SGB XII ist für diese Leistungen der Träger der Sozialhilfe örtlich zuständig, in dessen Bereich der Leistungsberechtigte den gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung hat oder in zwei Monaten vor der Aufnahme zuletzt gehabt hatte. F. hatte bei Aufnahme in die Pflegefamilie seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bereich des Beklagten, in I.. Dieser Aufenthalt vor Aufnahme in die Pflegefamilie ist auch im Sinne des § 98 Abs. 2 Satz 2 SGB XII maßgeblich für die örtliche Zuständigkeit. Die Auffassung des Beklagten, dass der Zeitpunkt des Einsetzens der Sozialhilfe im Sinne dieser Regelung erst der 05.08.2009 gewesen sei, da erst zu diesem Zeitpunkt das Gesetz sich geändert habe, vermag die Kammer nicht zu überzeugen. Vielmehr belegt gerade die Regelung des § 98 Abs. 2 Satz 2 dass bei Aufnahme in die Pflegefamilie vor Einsetzen der Sozialhilfe es auf die Situation vor Aufnahme in die Pflegefamilie ankommt. Dies ist wie bereits oben ausgeführt im Jahre 1994 der Aufenthalt in I.. Entscheidend ist nach der gesetzlichen Regelung der gewöhnliche Aufenthalt, der für die erste Einrichtung maßgebend war, dies ist der Zeitpunkt vor erstmaliger Aufnahme in die Pflegefamilie.

Die Höhe der zuzusprechenden Erstattungsleistungen ergibt sich aus dem überzeugenden und vom Beklagten nicht angegriffenen Vortrag des Klägers. Dieser entspricht im Übrigen den in der Akte vorhandenen Buchungsbelegen. Es handelt sich hierbei um die Kosten des Pflegegeldes, das an die Pflegefamilie im streitigen Zeitraum gezahlt wurde.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs. 1 SGG. Nach dieser Regelung werden dann Kosten nach dem Gerichtskostengesetz erhoben, wenn weder der Kläger noch der Beklagte zu den nach § 183 SGG Gerichtskostenprivilegierten Personenkreis gehören. Die Tatsache, dass beide Beteiligten als Sozialleistungsträger wiederum gem. § 64 Abs. 3 SGB X bezüglich der Erhebung der Kosten privilegiert sind, führt nicht zu einer Anwendung des § 183 SGG. Daher sind gem. § 197a Abs. 1 SGG die Regelungen der §§ 154 - 162 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) anzuwenden. Der Kläger ist mit seinem Begehren im vollen Umfang durchgedrungen, so dass die Kostentragung des Beklagten sich aus § 154 Abs. 1 VwGO ergibt.

Die Festsetzung des Streitwertes erfolgt unter Beachtung der §§ 63 Abs. 2 Satz 1 und 52 Abs. 3 Gerichtskostengesetz. Der Antrag des Klägers ist eindeutig beziffert in Höhe von 9.011,34 Euro und der Streitwert dementsprechend festzusetzten.

Die Berufung ist nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG nicht zulässig. Der Streitwert erreicht nicht den Betrag von 10.000,00 Euro und es handelt sich um eine Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen öffentlichen Rechts. Auch sind keine Widerkehrenden oder laufenden Leistungen für mehr als ein Jahr betroffen. Die Kammer hat die Berufung nicht zugelassen, weil bezüglich der im Verfahren aufgeworfenen Streitfrage mit der Entscheidung des Bundessozialgerichts (a.a.O.) eine höchstrichterliche Entscheidung bereits ergangen ist.