Sozialgericht Aurich
Urt. v. 16.01.2015, Az.: S 1 R 241/13

Anspruch eines Sozialhilfeempfängers auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung

Bibliographie

Gericht
SG Aurich
Datum
16.01.2015
Aktenzeichen
S 1 R 241/13
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2015, 11327
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGAURIC:2015:0116.S1R241.13.0A

Tenor:

  1. 1.

    Die Klage wird abgewiesen.

  2. 2.

    Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung.

Der am D. geborene Kläger stammt aus dem Libanon. Im Jahr 1992 ist er in die Bundesrepublik Deutschland verzogen. Von 1993 bis 2001 war er als Lagerarbeiter beschäftigt. Seitdem ist er arbeitslos. Derzeit bezieht er Leistungen nach dem SGB II.

Den auf die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung gerichteten Antrag vom 03.11.2011 lehnte die Beklagte mit dem Bescheid vom 29.02.2012 ab. Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 15.04.2013 zurückgewiesen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch ein Leistungsvermögen von sechs Stunden/Tag besitzen würde. Hierbei stützte sich die Beklagte im Wesentlichen auf ein chirurgisch-orthopädisches Gutachten von E. vom 18.01.2011, ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten von F. vom 04.05.2011, ein internistisches Gutachten von G. vom 17.02.2012 und ein weiteres neurologisch-psychiatrisches Gutachten von H. vom 29.01.2013. H. führte aus, dass der Kläger aktuell nicht regelmäßig arbeitsfähig sei. Durch eine konsequente ambulante Schmerztherapie könne sein Leistungsvermögen jedoch innerhalb eines halben Jahres dergestalt gebessert werden, dass er wieder in der Lage sei, regelmäßig leichte körperliche Tätigkeiten von 6 Stunden täglich zu verrichten.

Hiergegen hat der Kläger durch seine Prozessbevollmächtigten am 21.05.2012 beim Sozialgericht (= SG) Lüneburg Klage erhoben und geltend gemacht, dass die Beklagte das Gutachten von H. unzutreffend interpretiert habe, weil darin ein aufgehobenes Leistungsvermögen des Klägers festgestellt worden. Im Übrigen sei bei der Untersuchung von H. kein Dolmetscher eingesetzt worden, so dass nicht festgestellt werden könne, ob das Krankheitsbild vollständig und richtig erfasst worden sei.

Im sozialgerichtlichen Verfahren wurden zunächst Berichte der behandelnden Ärzte, der und J. eingeholt. Während K. die Auffassung vertreten hat, dass der Kläger aus rheumatologischer Sicht voll arbeitsfähig sei, ist L. davon ausgegangen, dass das Leistungsvermögen des Klägers aus neurologisch-psychiatrischer Sicht nur unter drei Stunden/Tag betragen würde.

Unter dem 18.05.2015 hat M. ein weiteres nervenärztliches Gutachten erstattet. Dies gründet sich u. a. auf die ambulante Exploration und Untersuchung des Klägers am 14.05.2014, bei der auch eine Dolmetscherin für die arabische Sprache anwesend war. M. ist zu dem Ergebnis gelangt, dass der Kläger täglich noch acht Stunden verrichten kann, wenn bei der Arbeitsplatzgestaltung bestimmte Anforderungen beachtet werden.

Die Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,

  1. 1.

    die Bescheide der Beklagten vom 29.02.2012 und den Widerspruchsbescheid vom 15.04.2013 aufzuheben,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung ab Antragstellung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Entscheidung lagen die Gerichtsakten und die Akten der Beklagten zugrunde. Auf ihren Inhalt wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig, da der Kläger keinen Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung hat.

Gem. § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (= SGB VI) besteht ein Anspruch auf eine Rente wegen Erwerbsminderung nur, wenn der/die Versicherte

1. teilweise oder voll erwerbsgemindert ist, 2. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt hat, 3. die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind.

Die allgemeine Wartezeit und die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen sind zwar (derzeit) erfüllt. Der Kläger ist jedoch nicht erwerbsgemindert i. S. der gesetzlichen Rentenversicherung. Teilweise erwerbsgemindert sind nämlich nur Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Die Anerkennung der vollen Erwerbsminderung setzt voraus, dass eine Erwerbstätigkeit nicht einmal mehr drei Stunden pro Tag möglich ist (§ 43 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 2, Abs. 3 SGB VI).

Die Voraussetzungen für die Erwerbsminderung werden mit dem beim Kläger festgestellten Leistungsvermögen nicht erreicht. Dies ergibt sich aus den überzeugenden Gutachten der N. und O ... Hierbei ist darauf hinzuweisen, dass im sozialgerichtlichen Verfahren zwar grundsätzlich auch die im Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten und Stellungnahmen verwertbar sind (vgl. BSG, Urt. v. 08.12.1988 - 2/9b RU 66/87; BSG SozR Nr. 66 zu § 128 SGG). Dies gilt jedoch im vorliegenden Verfahren nicht für die Gutachten der P. und Q., da bei deren Exploration und Untersuchung kein Dolmetscher für die vom Kläger gesprochene arabische Sprache anwesend war, obwohl der Kläger nur unzureichende Deutschkenntnisse hat. Die Aussagekraft dieser Gutachten ist daher extrem eingeschränkt (vgl. Keller in Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 11 Aufl., § 118, Rz 11m, m. w. N.). Die Prozessbevollmächtigte des Klägers hat in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hingewiesen, dass beim Fehlen eines Dolmetschers speziell bei neurologisch-psychiatrischen Beschwerden nicht festgestellt werden kann, ob das Krankheitsbild vollständig und richtig erfasst wurde. Daher kann die Kammer - was den neurologisch-psychiatrischen Bereich betrifft - ihre Entscheidung im Wesentlichen nur auf das Gutachten von M. stützen. Aus dem gleichen Grund ist auch im Rahmen dieses Gerichtsbescheids eine vertiefte Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Voten der P. und Q. nicht erforderlich.

Nach den überzeugenden Ausführungen der R., S. und O. besteht beim Kläger noch ein tägliches Leistungsvermögen von mindestens sechs Stunden. Im chirurgisch-orthopädischen und im internistischen Bereich liegen zwar nach den Gutachten der R. und S. degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, eine Adipositas, eine Retropatellararthrose und der Verdacht auf eine undifferenzierte Kollagenose vor. Diese Gesundheitsstörungen sind jedoch nur mit geringen Funktionseinschränkungen verbunden und führen zu keiner zeitlichen Einschränkung des Leistungsvermögens. Auch der behandelnde Arzt K. hat bestätigt, dass aus rheumatologischer Sicht volle Arbeitsfähigkeit besteht. Ganz im Vordergrund stehen beim Kläger allerdings die Beschwerden im neurologisch-psychiatrischen Bereich. Nach dem Gutachten von M. bestehen im Wesentlichen eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung, welche die organischen Leiden überlagert und eine Dysthymia geringer Ausprägung, wodurch insbesondere die Stressbelastbarkeit gemindert ist. Eine zeitliche Limitierung des Leistungsvermögens ist damit jedoch nicht verbunden. Den Beschwerden des Klägers wird vielmehr durch die genannten Anforderungen an die Arbeitsplatzgestaltung Rechnung getragen. So kann er nur noch leichte Arbeiten körperlicher Art im Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen verrichten. Arbeiten, bei denen er länger als 15 Minuten am Stück auf dem Fleck stehen muss, unter Hitze-, Kälte- oder Zugluftexposition oder in Zwangshaltungen kann er nicht mehr durchführen. Tätigkeiten auf Leitern und Gerüsten sind wegen des einschießenden Schmerzerlebens und einem Gefühl der Standunsicherheit nicht möglich. Aufgrund der herabgesetzten Stressbelastbarkeit sollten auch keine Tätigkeiten unter Zeitdruck, am Fließband, in Wechsel- oder Nachtschicht oder an laufenden Maschinen durchgeführt werden. Das Heben und Tragen von schweren Lasten sollte vermieden werden. Der Einschätzung des behandelnden Arztes L. konnte die Kammer daher nicht folgen.

Eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine spezifische außergewöhnliche Leistungseinschränkung kann die Kammer nicht erkennen, zumal die Gehfähigkeit nicht eingeschränkt ist und dem Kläger von M. sogar die Durchführung einer Ausdauersportart wie moderates Walking bzw. Radfahren, angeraten wurde.

Auch unter dem Aspekt der Berufsunfähigkeit besteht kein Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, da der Kläger nach dem 02.01.1961 geboren ist (§ 240 Abs. 1 Nr. 1 SGB VI).

Die Entscheidung konnte durch Gerichtsbescheid erfolgen, da der Sachverhalt geklärt ist und die Beteiligten hierzu gehört wurden (§ 105 SGG). Die Beteiligten haben sich mit dieser Entscheidungsform auch einverstanden erklärt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Aus gegebenem Anlass weist die Kammer jedoch darauf hin, dass in vergleichbaren Fällen zur prüfen ist, ob der Beklagten die Kosten für die im sozialgerichtlichen Verfahren durchgeführten Begutachtungen auferlegt werden können (§ 192 Abs. 4 SGG), wenn die erforderliche Teilnahme eines Dolmetschers an der Exploration und Untersuchung nicht erfolgt ist und daher die Sachverhaltsaufklärung auf das Gericht abgewälzt wurde.

Wichtiger Hinweis: Bezüglich der Aufrechterhaltung des Versicherungsschutzes für eine Rente wegen Erwerbsminderung wird der Kläger ausdrücklich darauf hingewiesen, sich im Fall der Arbeitslosigkeit auch dann stets bei der zuständigen Agentur für Arbeit als arbeitsuchend zu melden, wenn mit einer Vermittlung oder mit Leistungen nicht zu rechnen ist. Hinsichtlich der Einzelheiten sollte er sich ggf. mit der Beklagten in Verbindung setzen.