Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 26.02.2004, Az.: 16 K 13/03
Erzielung von Einkünften aus nichtselbständiger Tätigkeit; Gemeinsame Veranlagung von Eheleuten zur Einkommensteuer; Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 26.02.2004
- Aktenzeichen
- 16 K 13/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 14869
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2004:0226.16K13.03.0A
Rechtsgrundlagen
- § 1 Abs. 3 EStG
- § 70 Abs. 2 EStG
Fundstelle
- EFG 2004, 1784-1785 (Volltext mit amtl. LS)
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Das nach den Vorschriften des EStG als Steuervergütung gezahlte deutsche Kindergeld fällt in den sachlichen Anwendungsbereich des EWGV Nr. 1408/71; es ist eine Familienleistung i.S.d. Art. 4 Abs. 1 Buchst. h EWGV Nr. 1408/71.
- 2.
Zur Auslegung von Art. 14 Abs. 2 Buchst. b, Buchst. i EWGV Nr. 1408/71.
Tatbestand
Der Kläger, der deutscher Staatsangehöriger ist, hat seinen Wohnsitz in den Niederlanden. Er ist bei einem Unternehmen, der R-KG, mit Sitz in M in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt und erzielt aus dieser Tätigkeit Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Der Kläger, der nach § 1 Abs. 3 Einkommensteuergesetz (- EStG -) als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt wird, wird durch das Finanzamt L zusammen mit seiner Ehefrau zur Einkommensteuer veranlagt. Die Ehefrau des Klägers, die niederländische Staatsangehörige ist und zusammen mit dem Kläger in den Niederlanden wohnt, ist nicht berufstätig. Die Beklagte gewährte dem Kläger seit Dezember 1980 laufend Kindergeld, zuletzt unter Berücksichtigung des Kindes D, das am .......1983 als gemeinsamer Sohn des Klägers und seiner Ehefrau geborenen wurde.
Der Kläger hatte mit der Gemeente E, einer Gemeinde in den Niederlanden, mit Datum vom 25. November 1992 einen unbefristeten Arbeitsvertrag (Arbeidsovereenkomst) geschlossen, auf den wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird. Nach dem Arbeitsvertrag war der Kläger ab dem 1. Oktober 1992 bei der Gemeente E mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 8 Stunden pro Woche als Marktreiniger (Marktschoonmaker) beschäftigt. Der Bruttoarbeitslohn des Klägers betrug nach dem Arbeitsvertrag zunächst monatlich HFL 541,26 und stieg im Laufe der Zeit kontinuierlich an. Die Tätigkeiten (werkzaamheden) des Klägers als Marktreiniger für die Gemeente E waren am 31. März 2000 beendet. Ab April 2000 übte der Kläger seine Tätigkeit als Marktreiniger wegen einer "Reorganisation bei der Gemeinde E" - wie es in einem Schreiben des Bureau voor Duitse Zaken (nachfolgend auch "BDZ" genannt) in Nijmegen vom 21. Oktober 2002 an die Beklagte heißt - nicht mehr aus. Der Kläger erhielt von der Gemeente E jedoch bis einschließlich Oktober 2002 weiterhin monatliche Gehaltszahlungen. Das Arbeitsverhältnis des Klägers zur Gemeente E endete am 31. Oktober 2002. Die Hauptstelle der Sociale Verzekeringsbank in Amstelveen hatte mit den zuständigen deutschen Stellen eine Vereinbarung auf Grund von Art. 17 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 dahingehend geschlossen hatte, dass der Kläger während des Zeitraums vom 1. Oktober 1992 bis 31. März 2000 ausschließlich der deutschen Sozialversicherung unterlag. Für den Zeitraum ab April 2000 gibt es keine für den Kläger geltende Vereinbarung nach Art. 17 EWGV Nr. 1408/71 mehr.
Die Beklagte erhielt von dem Arbeitsvertrag des Klägers mit der Gemeente E im Rahmen einer Überprüfung der Anspruchsvoraussetzungen im Jahr 2001 Kenntnis. Das BDZ teilte der Beklagten in einem Schreiben vom 6. September 2002 auf deren Nachfrage mit, dass der Kläger seit dem 1. April 2000 den niederländischen Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit unterliege. Die Beklagte hob daraufhin die Festsetzung des Kindergelds durch einen auf § 70 Abs. 2 EStG gestützten Bescheid ab April 2000 auf und forderte von dem Kläger gemäß § 37 Abs. 2 Abgabenordnung (- AO -) in der Zeit von April 2000 bis Mai 2001 gezahltes Kindergeld zurück. Der Kläger legte gegen den Aufhebungsbescheid Einspruch ein, den die Beklagte als unbegründet zurückwies. Für die Zeit ab November 2002 gewährt die Beklagte dem Kläger wieder Kindergeld für das Kind D.
Der Kläger hat am 6. Januar 2003 Klage erhoben.
Der Kläger trägt vor, er unterliege auch für die Zeit von April 2000 bis Oktober 2002 hinsichtlich der Zahlung des Kindergeldes dem deutschen Recht. Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 2 EStG seien nicht gegeben, weil eine Änderung in den Verhältnissen nicht eingetreten sei. Der Kläger sei seit April 2000 in den Niederlanden nicht mehr erwerbstätig. Deshalb sei auch die Vereinbarung nach Art. 17 EWGV Nr. 1408/71 auf den Zeitraum bis 31. März 2000 beschränkt worden.
Der Kläger beantragt,
ihm Kindergeld für sein Kind D für die Zeit von April 2000 bis Oktober 2002 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagte trägt vor, nach Art. 13 EWGV Nr. 1408/71 unterlägen Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedsstaates. Es sei davon auszugehen, dass das Beschäftigungsverhältnis des Klägers in den Niederlanden bis Oktober 2002 gedauert habe. Aufgrund seines Wohnsitzes in den Niederlanden unterliege der Kläger ab April 2000 gem. Art 14 Abs. 2 EWGV Nr. 1408/71 nur den niederländischen Rechtsvorschriften. Daran ändere sich durch die Freistellung des Klägers von der Arbeitsleistung nichts. Die Festsetzung des Kindergelds sei deshalb zutreffend gem. § 70 Abs. 2 EStG ab April 2000 aufgehoben worden.
Gründe
Die Klage ist begründet. Der Bescheid vom 11. September 2002 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 3. Dezember 2002 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung - FGO -).
Der Beklagte hat die Kindergeldfestsetzung mit dem angefochtenen Bescheid zu Unrecht ab April 2000 aufgehoben. Denn der Kläger hat auch für die Zeit von April 2000 bis Oktober 2002 Anspruch auf Kindergeld für seinen Sohn D.
1.
Der Kläger hat für den Streitzeitraum nach den isoliert betrachteten Vorschriften des EStG Anspruch auf Kindergeld für sein Kind D gem. §§ 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG, da der Kläger nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig zu behandeln war. Das Kind D war als leibliches Kind des Klägers gem. § 63 Abs. 1 Nr. 1 i.V. mit § 32 Abs. 1 EStG zu berücksichtigen. Die Voraussetzungen eines Ausschlusstatbestandes, insbesondere des § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG, sind im Streitfall nicht erfüllt. Hiervon gehen die Beteiligten auch zu Recht übereinstimmend aus.
2.
Entgegen der von der Beklagten vertretenen Auffassung ist der Anspruch des Klägers auf Kindergeld nicht nach Art. 13 Abs. 1, 14 Abs. 2 Buchst. b) i) EWGV Nr. 1408/71 in der für den Streitzeitraum geltenden Fassung ausgeschlossen.
a.
Das nach den Vorschriften des EStG als Steuervergütung gezahlte deutsche Kindergeld fällt in den sachlichen Anwendungsbereich der EWGV Nr. 1408/71; es ist eine Familienleistung i.S. des Art. 4 Abs. 1 Buchst. h EWGV Nr. 1408/71. Der Senat verweist insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen auf die BFH-Urteile vom 13. August 2002 VIII R 54/00 und VIII R 61/00, BStBl II 2002, 869 (nur Leitsatz; Volltext veröffentlicht in juris). Der Kläger wird auch vom persönlichen Geltungsbereich der EWGV Nr. 1408/71 erfasst. Er ist Arbeitnehmer i.S. von Art. 1 Buchst. a) EWGV Nr. 1408/71, für den Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedsstaaten gelten oder galten (Art. 2 Abs. 1 EWGV Nr. 1408/71).
b.
Nach Art. 13 Abs. 1 Satz 1 EWGV Nr. 1408/71 unterliegen vorbehaltlich der Art. 14c und 14f EWGV Nr. 1408/71 Personen, für die die Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedsstaates. Welche Rechtsvorschriften diese sind, bestimmt sich nach Titel II der Verordnung (Art. 13 Abs. 1 Satz 2 EWGV Nr. 1408/71). Der Kläger unterliegt weder den Sonderregelungen des Art. 14c EWGV Nr. 1408/71 (Sonderregelungen für Personen, die im Gebiet verschiedener Mitgliedsstaaten gleichzeitig abhängige Beschäftigung und eine selbständige Tätigkeit ausüben) noch des Art. 14f EWGV Nr. 1408/71 (Sonderregelungen für in mehr als einem Mitgliedsstaat tätige Beamte, die in einem dieser Staaten im Rahmen eines Sondersystems versichert sind).
Gemäß Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) EWGV Nr. 1408/71 gilt, soweit die Art. 14 bis 17 EWGV Nr. 1408/71 nicht etwas anderes bestimmen, dass eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedsstaats abhängig beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staates unterliegt, und zwar insbesondere auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedsstaates wohnt. Hiernach unterliegt der Kläger grundsätzlich den Rechtsvorschriften der Bundesrepublik Deutschland hinsichtlich des Kindergelds, da er in der Bundesrepublik Deutschland abhängig beschäftigt ist. Abweichend von dem Grundsatz des Art. 13 Abs. 2 Buchst. a) EWGV Nr. 1408/71 gilt nach Art. 14 Abs. 2 Buchst. b) i) EWGV Nr. 1408/71 insbesondere folgende Sonderregelung: Eine Person, die gewöhnlich im Gebiet von zwei oder mehr Mitgliedsstaaten abhängig beschäftigt ist und nicht unter Art. 14 Abs. 2 Buchst. a) der Verordnung fällt - was bei dem Kläger nicht der Fall ist - unterliegt den Rechtsvorschriften des Mitgliedsstaats, in dessen Gebiet sie wohnt, wenn sie ihre Tätigkeit zum Teil im Gebiet dieses Staates ausübt oder wenn sie für mehrere Unternehmen oder mehrere Arbeitgeber tätig ist, die ihren Sitz oder Wohnsitz im Gebiet verschiedener Mitgliedsstaaten haben. Die Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 2 Buchst. b) i) EWGV Nr. 1408/71, der als Rechtsgrundlage für die Anwendung der Niederländischen Vorschriften über die Systeme der sozialen Sicherheit im Streitfall allein in Betracht kommt, liegen jedoch nicht vor.
Art. 14 Abs. 2 Buchst. b) i) erste Alternative EWGV Nr. 1408/71 ist nicht erfüllt, weil der Kläger in den Niederlanden für seinen deutschen Arbeitgeber mit dem Sitz in M keine Tätigkeit ausübte. Hierüber besteht zwischen den Beteiligten auch kein Streit.
Indessen liegen auch die Voraussetzungen des Art. 14 Abs. 2 Buchst. b) i) zweite Alternative EWGV Nr. 1408/71 nicht vor. Denn der Kläger war im Streitzeitraum nicht für mehrere Unternehmer oder mehrere Arbeitgeber, die ihren Sitz oder Wohnsitz im Gebiet verschiedener Mitgliedstaaten haben (hier die R-KG mit dem Sitz in der Bundesrepublik Deutschland und die Gemeente E in den Niederlanden), tätig. Der erkennende Senat legt Art. 14 Abs. 2 Buchst. b) i) zweite Alternative EWGV Nr. 1408/71 dahin aus, dass er eine tatsächlich ausgeübte Tätigkeit voraussetzt. Das bloße Bestehen eines Arbeitsvertrages, aus dem der Arbeitnehmer keine aktive Tätigkeit (Arbeitsleistung) mehr erbringt, erfüllt die Voraussetzungen von Art. 14 Abs. 2 Buchst. b) i) zweite Alternative EWGV Nr. 1408/71 nicht. Diese Auslegung folgt bereits aus dem Wortlaut der Bestimmung. Art. 14 Abs. 2 Buchst. b) i) EWGV Nr. 1408/71 spricht in beiden Alternativen von einer Tätigkeit bzw. von einem tätig sein der betreffenden Person. Diese Regelung zeigt, dass es für die Frage, welchen Rechtsvorschriften eine Person unterliegt, grundsätzlich nicht auf das Bestehen eines Arbeitsvertrages ankommt sondern dass die tatsächliche Ausführung der Arbeit maßgebend ist. Nach diesen Grundsätzen wurde der Kläger im Streitzeitraum nicht in den Niederlanden für die Gemeente E im Sinne von Art. 14 Abs. 2 Buchst. b) i) zweite Alternative EWGV Nr. 1408/71 tätig. Denn der Kläger übte seine Tätigkeit als Marktreiniger für die Gemeente E seit April 2000 nicht mehr aus. Auf den Umstand, dass das Arbeitsverhältnis des Klägers mit der Gemeente E erst zum 31. Oktober 2002 endete, kommt es für Art. 14 Abs. 2 Buchst. b) i) zweite Alternative EWGV Nr. 1408/71 nicht an.
3.
Der Beklagte war nach alledem nicht berechtigt, die Festsetzung des Kindergelds ab April 2000 gem. § 70 Abs. 2 EStG aufzuheben. Das für das Kind D im Jahr 1983 noch unter Geltung der Vorschriften des Bundeskindergeldgesetzes festgesetzte Kindergeld gilt gem. § 78 Abs. 1 Satz 1 EStG als zum 01.01.1996 nach den Vorschriften des EStG festgesetzt. Eine Änderung der Verhältnisse i.S. von § 70 Abs. 2 EStG liegt im Streitfall indessen nicht vor, da der Kläger auch ab April 2000 den deutschen Rechtsvorschriften über Familienleistungen unterlag und folglich weiterhin einen Anspruch auf die Gewährung von Kindergeld nach den Vorschriften des EStG hatte. Durch die von dem erkennenden Senat ausgesprochene Aufhebung des Bescheids vom 11. September 2002 wird die ursprüngliche Kindergeldfestsetzung wieder wirksam mit der Folge, dass die Beklagte dem Kläger auch für den Streitzeitraum von April 2000 bis einschließlich Oktober 2002 Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu zahlen hat.
4.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 Abs. 3, Abs. 1 FGO i.V. mit §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung (- ZPO -). Die Revision wird gem. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zugelassen.