Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 20.12.2005, Az.: 1 B 66/05

Abschiebung; Abschiebungsschutz; Afghanistan; Beweismittel; Existenzminimum; Folgeantrag; Folgeverfahren; Rechtsgewissheit; Stufenverfahren; Verfolgungsintensität; Wiederaufnahmeverfahren

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
20.12.2005
Aktenzeichen
1 B 66/05
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 50977
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Das Folge- und Wiederaufnahmeverfahren ist gestuft in eine Beachtlichkeits- und eine Erfolgsprüfung.
2. Liegt ein schlüssiger Vortrag in der 1. Stufe vor, so kann die Erheblichkeit nur in einer 2. Stufe, also im Rahmen eines neuen Asylverfahrens geprüft und beantwortet werden.
3. Fehlt es an der erforderlichen Rechtsgewissheit für die Erfolglosigkeit eines Folgeantrags (in der 2. Stufe), so ist Abschiebungsschutz zu gewähren.

Gründe

1

Der Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes im Asylfolgeverfahren hat Erfolg. Dieser hat einen Anspruch auf vorläufigen Schutz vor Abschiebung. Denn an der Rechtmäßigkeit der Abschiebung bestehen ernstliche Zweifel.

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1. Allgemein ist auszuführen:

3

Lehnt das Bundesamt den Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ab, fordert sie den Asylbewerber aber im Hinblick auf § 71 Abs. 5 Satz 1 AsylVfG - wie hier - nicht erneut unter Androhung der Abschiebung auf, Deutschland zu verlassen, richtet sich vorläufiger Rechtsschutz nach §§ 71 Abs. 4, 36 AsylVfG und § 123 Abs. 1 VwGO. Nach § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG und Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG darf die Abschiebung nur ausgesetzt werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme bestehen. Hiervon kann nur dann ausgegangen werden, wenn das Bundesamt die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens zu Unrecht abgelehnt hat und vom Gericht nicht mit der erforderlichen Rechtsgewissheit festgestellt werden kann, dass ein Asylanspruch bzw. Abschiebungsschutz eindeutig nicht besteht.

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Gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG ist ein weiteres Asylverfahren durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Das ist der Fall, wenn sich die Sach- oder Rechtslage nachträglich zu Gunsten des Betroffenen geändert hat, wenn neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden oder wenn Wiederaufnahmegründe gegeben sind.

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Das Wiederaufnahmeverfahren nach §§ 71 Abs. 1 AsylVfG, 51 VwVfG ist gestuft in eine Beachtlichkeits- und eine Erfolgsprüfung: Voraussetzung für die Wiederaufnahme ist - lediglich - ein glaubhafter und substantiierter Vortrag von Tatsachen, aus denen sich das Vorliegen der Voraussetzungen eines der Tatbestände des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG ergibt (§ 71 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG). Für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens bedarf es eines Beweises des neuen Vortrages noch nicht: Für die Frage des Wiederaufgreifens ist es nicht von Bedeutung, ob der neue Vortrag tatsächlich zutrifft, ob die Verfolgungsfurcht begründet ist und die Annahme einer asylrechtlich relevanten politischen Motivierung der Verfolgung gerechtfertigt ist. Diese Fragen sind Gegenstand des eigentlichen Asylbegehrens (zweite Stufe), in diese Fragen kann erst eingetreten werden, wenn das Verfahren wieder aufgenommen worden ist. Erforderlich für ein Wiederaufgreifen ist allerdings, dass bei einem Wiederaufgreifen wegen geänderter Sachlage der neue Tatsachenstoff glaubhaft und substantiiert vorgetragen wird. Aus dem substantiierten Vortrag muss sich ergeben, dass sich die der früheren Entscheidung zugrundegelegte Sachlage tatsächlich verändert hat, lediglich pauschale Behauptungen ohne nachprüfbare Einzelheiten reichen nicht aus. Bei der Änderung der Sach- und Rechtslage (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) ist zudem maßgeblich der zeitliche Bezugspunkt des vorhergehenden Asylverfahrens. Abzustellen ist auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht, nur zeitlich nach diesem maßgeblichen Datum eingetretene neue Tatsachen können damit im Folgeverfahren zulässigerweise geltend gemacht werden. Sind die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen (erste Stufe) gegeben, findet auf der zweiten Stufe die Erfolgsprüfung statt, nämlich die Prüfung, ob ein Anspruch auf Asyl nach Art. 16a Abs. 1 GG und/oder Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG besteht.

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Die Zweistufigkeit der Behandlung von Folgeanträgen ist zunächst dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zugewiesen. Das gestufte Verfahren hat aber auch für die Prüfung beim Verwaltungsgericht Bedeutung: Die vom Bundesamt angenommene Unzulässigkeit des Folgeantrages ist der maßgebliche Prüfungsgegenstand des Eilrechtsschutzverfahrens. Hat das Bundesamt zu Recht die Durchführung eines Folgeverfahrens abgelehnt, hat auch der bei Gericht gestellte Antrag keinen Erfolg. Kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass das Bundesamt die Durchführung eines Folgeverfahrens zu Unrecht abgelehnt hat, führt dies nicht schon automatisch zum Erfolg des Antrages auf Gewährung gerichtlichen Rechtsschutzes. Denn das Gericht kann den Antrag auch dann ablehnen, wenn mit der erforderlichen Rechtsgewissheit festgestellt werden kann, dass ein Asylanspruch eindeutig nicht besteht (BVerfG, Beschl. v. 8.3.1995 - 2 BvR 2148/94 -, InfAuslR 1995, 342). Hiervon kann ausgegangen werden, wenn sich bei dem zugrunde zu legenden Sachverhalt die Verneinung des Asylanspruches geradezu aufdrängt, wenn das Fehlen einer politischen Verfolgung offen zu Tage liegt und keine vernünftigen Zweifel an der Erfolglosigkeit des Asylbegehrens bestehen. Mit Blick auf Individualverfolgungen kann von einem offensichtlich unbegründeten Asylbegehren ausgegangen werden, wenn etwa die im Einzelfall geltend gemachte Gefährdung des Asylsuchenden den erforderlichen Grad der Verfolgungsintensität nicht erreicht, die behauptete Verfolgungsgefahr allein auf nachweislich gefälschten oder widersprüchlichen Beweismitteln beruht oder das Asylvorbringen sich insgesamt als unglaubwürdig erweist. Wird eine kollektive Verfolgungssituation geltend gemacht, kommt eine Abweisung eines Asylbegehrens als offensichtlich unbegründet nur bei Fallgestaltungen in Betracht, denen eine gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung zugrunde liegt.

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2. Daraus folgt für den vorliegenden Fall: Zwar kann sich der Antragsteller voraussichtlich nicht mit Erfolg auf das Grundrecht nach Art. 16 a Abs. 1 GG und Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG berufen. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass er jedenfalls im Rahmen der Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. Abs. 7 AufenthG einen Anspruch auf Durchführung eines Asylfolgeverfahrens hat. Denn der Antragsteller hat im Wesentlichen vorgetragen, dass seine Ehefrau, sein Sohn und eine seiner Töchter von dem Drogenhändler Khan umgebracht worden seien, er in der Provinz C. also keinen Familienanschluss mehr habe, und er befürchte, von dem Drogenhändler wegen des Verlustes von Opium, das sein Sohn habe transportieren sollen, in Anspruch genommen und ebenfalls zur Rechenschaft herangezogen bzw. getötet werde. Dieser Sachverhalt werde durch ein Schreiben des Freundes des Antragstellers aus seiner Heimat bestätigt.

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Die Darlegung dieses neuen Sachverhaltes und die Vorlage des neuen Beweismittels sind nicht von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtung ungeeignet, einen Anspruch auf Abschiebungsschutz zu begründen. Eine „Schlüssigkeit“ des Vortrages ist gegeben, die „Erheblichkeit“ kann nur im Rahmen eines neuen Asylverfahrens geprüft und beantwortet werden. Es kann bei dem hier gegebenen Sachverhalt nicht schon von vornherein die Durchführung eines Folgeverfahrens abgelehnt werden. Denn der Vortrag ist seiner Art und seinem Umfang nach grundsätzlich geeignet, im Falle der Rückkehr nach Afghanistan eine konkret-individuelle Gefährdung des Antragstellers im Sinne von § 60 Abs. 7 AufenthG zu begründen. Dies gilt zum einen für eine Rückkehr des Antragstellers in seinen Heimatort, da nach der Auskunft des Auswärtigen Amtes im Lagebericht vom 29. November 2005 der Einfluss der Drogenbarone wächst und hierdurch das Gewaltpotential gegenüber der Bevölkerung erhöht wird. Zum anderen ist auch im Falle einer Rückkehr des Antragstellers nach Kabul eine solche Gefährdung nicht mit der erforderlichen Rechtsgewissheit auszuschließen, da davon auszugehen ist, dass der 61jährige Antragsteller nicht aus eigener Kraft zur Sicherung seines Existenzminimums in der Lage sein dürfte (vgl. auch VG Sigmaringen, Urt. v. 18.7.2005 - A 2 K 11626/03; VG Karlsruhe, 9.11.2005 - A 10 K 12303/03). Es kann jedenfalls nicht von vornherein angenommen werden, dass der Vortrag des Antragstellers von vornherein unglaubhaft und das vorgelegte Beweismittel ohne Zweifel eine Fälschung oder eine bloße Gefälligkeitsbescheinigung sind. Diese Fragen sind Gegenstand des eigentlichen Asylbegehrens. In diese Fragen kann erst eingetreten werden, wenn das Verfahren wieder aufgenommen worden ist.

9

Im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist daher, wenn - wie hier - nicht mit der erforderlichen Rechtsgewissheit festgestellt werden kann, dass ein Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG eindeutig nicht besteht, die aus dem Tenor ersichtliche Verpflichtung der Antragsgegnerin auszusprechen.

10

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83 b AsylVfG.

11

Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.