Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 19.12.2005, Az.: 1 B 61/05

Abänderung; Ausreise; beachtliche Wahrscheinlichkeit; Botschaft; Erstverfahren; exilpolitische Betätigung; Folgeverfahren; Gefahrenabschätzung; neue Umstände; objektive Nachfluchtgründe; politische Verfolgung; Prognose; Refoulement-Verbot; Reisepass; Risikoabschätzung; Schutzbedürftigkeit; subjektive Nachfluchtgründe; Vietnam; vollendete Tatsache; Zumutbarkeit

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
19.12.2005
Aktenzeichen
1 B 61/05
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 50875
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 20.08.2001 - AZ: 1 A 119/00

Gründe

1

Der Antrag gem. § 80 Abs. 7 VwGO hat keinen Erfolg.

2

Zur Begründung wird auf den Beschluss vom 30. Mai 2005 - 1 B 23/05 - verwiesen, dort S. 4 ff, sowie auf die jüngeren Urteile der Kammer mit ihrer Gefahren- und Risikoabschätzung.

3

1. Es geht speziell im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zunächst einmal um Zweifel auf der Grundlage einer summarischen Prüfung, nicht um eine sichere Gewißheit. Diese Zweifel haben sich des Weiteren auf eine (Wahrscheinlichkeits-)Prognose zu beziehen, nicht aber auf sichere Tatumstände der Vergangenheit. Es geht um die aktuelle Schutzbedürftigkeit der Klägerin (jetzt) im Dezember 2005 und hierbei um die Zumutbarkeit einer in der Zukunft liegenden Rückkehr nach Vietnam. In zeitlicher Hinsicht kommt es dabei auf sämtliche Umstände an, die nach dem rechtskräftigen Abschluss des Erstverfahrens durch Urteil des VG Braunschweig vom 20. August 2001 (1 A 119/00) liegen, die vor allem aber in Vietnam - anhand der dort beobachteten Veränderungen - erst noch (prognostisch) zu erwarten sind. Dabei ist als ein Umstand unter anderen Gesichtspunkten auch die vorgetragene Ausstellung eines Reisepasses durch die vietnamesische Botschaft im März 2005 zu berücksichtigen. Dieser singuläre Umstand darf bei einer Risikoabschätzung jedoch nicht überbewertet werden (s.u. 3).

4

Zudem ist stets das Risiko der Schaffung vollendeter Tatsachen zu beachten, das sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu Gunsten eines Antragstellers auswirkt: Ist dieser erst einmal abgeschoben, können Einschätzungs- und Prognosefehler nachträglich nur noch schwer bzw. gar nicht mehr korrigiert werden.

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2. Betont sei, dass es im Rahmen des § 60 Abs. 1 AufenthG auf eine nachvollziehbare Verfolgungsfurcht im Falle einer künftigen Rückkehr (ohne jede Kausalität zwischen Verfolgung und Flucht in der Vergangenheit) ankommt. Vgl. dazu OVG Frankfurt/Oder v. 14.4.2005 - 4 A 783/01 - :

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Fehlt es dagegen an Vorfluchtgründen oder an dem erforderlichen Ursachenzusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht, so kommt eine Anerkennung des Asylsuchenden nur dann in Betracht, wenn ihm im Falle einer Rückkehr in sein Heimatland politische Verfolgung mit sogenannter beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (BVerwG, Urteile vom 29. 11. 1977 - 1 C 33.71 -, BVerwGE 55, 82 [83], und vom 23. 7. 1991 - 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, 367 [377]). Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise i.S. einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Asylsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne begründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn auf Grund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. Beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist deshalb dann anzunehmen, wenn bei der vorzunehmenden zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. 11. 1991 - 9 C 118.90 -, BVerwGE 89, 162 [169 f.]).

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3. Allein der hier vorgetragene (zusätzliche) Umstand, dass die Klägerin „völlig problemlos von der vietnamesischen Botschaft“ einen neuen Reisepass erhalten hat, vermag die Risikoprognose anhand einer Abwägung aller Umstände für den Fall einer Rückkehr nach Vietnam jedoch nicht nachhaltig zu erschüttern. Die Ausstellung eines Reisepasses durch eine Botschaft, die um das Ansehen des von ihr vertretenen Staates in Europa bemüht ist, kann nämlich nicht ohne Weiteres mit dem Verhalten der Sicherheitsorgane und der Justiz im Herkunftsland Vietnam selbst verglichen und etwa gleichgesetzt werden. Erfahrungsgemäß verhält sich Botschaftspersonal anders als es Sicherheitsorgane in einem mit entsprechender Machtfülle ausgestatteten Staat tun.

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4. Der Hinweis der Antragsgegnerin darauf, dass der Folgeantrag lediglich mit „rein subjektiven selbst geschaffenen Nachfluchtgründen“ begründet worden sei, trifft im Übrigen nicht zu: Unter objektiven Nachfluchtgründen sind auch Vorgänge und Ereignisse im Heimatland des Asylsuchenden zu verstehen, die dort auf der Grundlage einer - auch schleichenden - Änderung des politischen Systems oder der behördlichen Reaktionen oder aber aufgrund der dortigen Strafgesetze ausgelöst werden und zu erwarten sind, so dass dem aus ganz anderen Gründen im Gastland befindlichen Asylbewerber nunmehr für den Fall seiner Rückkehr in sein Heimatland doch Verfolgungsmaßnahmen drohen - z.B. wegen seiner politischen Haltung oder wegen der Zugehörigkeit zu einer jetzt (neuerdings) im Herkunftsstaat verfolgten Gruppe (so BVerfGE 74, 51 ff/ 64, 65). Solche Veränderungen im Herkunftsland haben in Vietnam stattgefunden, wie die neueren Urteile der Kammer aufzeigen.

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Die exilpolitische Betätigung der Antragstellerin, die sich als subjektiver Nachfluchtgrund mit dem dargestellten objektiven Grund mischt, kann daher nicht isoliert bewertet werden. Zudem sind subjektive Nachfluchtgründe nicht etwa stets unbeachtlich, sondern ausnahmsweise eben doch, wie § 28 Abs. 1 AsylVfG aufzeigt (Regel-Ausnahme-Verhältnis). Das gilt ganz besonders angesichts der Genfer Flüchtlingskonvention, die subjektive Nachfluchtgründe nicht etwa ausgrenzt, sondern ein Refoulement-Verbot kennt.