Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 01.12.2005, Az.: 1 A 311/03
Abschiebungsverbot; Asylbewerber; Buddhismus; Ergebnisorientierung; Glaubwürdigkeit; Konstanz; Realkennzeichen; Strukturgleichheit; Unverständnismerkmal; Verfolgung
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 01.12.2005
- Aktenzeichen
- 1 A 311/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 50851
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 86 Abs 1 VwGO
- § 448 ZPO
Tatbestand:
Der Klägerin geht es um die Feststellung eines Abschiebungsverbots bzw. von Abschiebungshindernissen gem. § 60 AufenthG.
Die 1981 geborene Klägerin vietnamesischer Staatsangehörigkeit (unbekannten Glaubens) kam im März 2003 über Frankreich in das Bundesgebiet und stellte hier erstmals einen Asylantrag. Zur Begründung gab sie an, sie habe tagsüber auf dem Feld gearbeitet und nachts regimekritische Zeitungen verteilt, die sie von einem Freund ihres Vaters erhalten habe. Hierbei sei sie zweimal erwischt worden, was zur Folge gehabt habe, dass sie sich jede Woche 3-mal bei der Polizeibehörde habe vorstellen müssen. So sei sie viele Male verhört und für ein oder zwei Nächte festgehalten worden. Außerdem sei sie im April und September 2002 für jeweils 7-10 Tage verhaftet und eingesperrt worden. Sie habe nur ein „bisschen Reis“ bekommen und habe auf dem Boden schlafen müssen; es habe kein Licht und keinen Strom gegeben. Sie sei geschlagen und angeschrien worden. Insgesamt sei sie ungefähr 20-mal inhaftiert worden. Als sie die Vorladung zur Polizeidienststelle ihres Wohnviertels vom 20. Febr. 2003 erhalten habe, sei sie aus Angst vor einer weiteren Verhaftung mit entsprechender Behandlung geflohen.
Durch Bescheid vom 1. September 2003 wurde dieser Antrag mit der Begründung abgelehnt, es bestünden nicht unerhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Klägerin, da sie sich in Widersprüche verwickelt habe und die Umstände ihrer Inhaftierung nicht habe lebensnah schildern können. Im Falle einer Verurteilung der Klägerin hätte diese nicht politischen Charakter. Außerdem wurde festgestellt, dass weder Abschiebungsverbote noch - hindernisse vorlägen. Die Klägerin wurde aufgefordert, binnen eines Monats auszureisen; andernfalls werde sie nach Vietnam abgeschoben.
Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin am 17. September 2003 bei der erkennenden Kammer Klage erhoben und zur Begründung vorgetragen, sie sei im Falle einer Rückkehr nach Vietnam als politisch aktive Dissidentin bedroht. Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 1. September 2003 zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG erfüllt sind.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet, soweit es der Klägerin um die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG geht.
Die Anerkennung als Flüchtling (Art. 33 Abs. 1 der Genfer Konvention, § 60 Abs. 1 AufenthG) setzt voraus, dass der Klägerin bei einer Rückführung nach Vietnam unter Berücksichtigung aller Umstände, die derzeit bekannt sind, künftig eine asylerhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung droht. Hierfür ist eine Prognose anzustellen, die im vorliegenden Fall zu Gunsten der Klägerin ausgeht.
1. § 60 Abs. 1 AufenthG hat das Verhältnis zur Asylanerkennung (Art. 16 a GG) tiefgreifend verändert (vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage, 1. Teil Kap. 5 III 3, § 60 AufenthG, Rdn. 12, 13). Mit der Vorschrift hat sich nämlich unter dem Eindruck der Richtlinie 2004/ 83/EG v. 30.9. 2004 ein Perspektivwechsel zu einer prognostischen Opferbetrachtung vollzogen (vgl. dazu VG Stuttgart, Urteil v. 17.1.2005 - A 10 K 10587/04 - m.w.N.; Urteil der Kammer v. 7.9. 2005 - 1 A 240/02 -).
Da inzwischen die Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 in Kraft getreten ist, sind auch deren Standards im Wege der Auslegung des § 60 AufenthG richterlich schon beachtlich (vgl. auch EuGH, Urt. v. 9.3.2004 - C 397/01 - Pfeiffer, Rn. 101 ff). Das gilt auch angesichts dessen, dass die Frist zur Umsetzung in das nationale Recht noch nicht abgelaufen ist (Art. 38 Abs. 1 d. Richtlinie; vgl. dazu VGH Baden-Württ., Beschl. v. 12.5.2005 - A 3 S 358/05 - , InfAuslR 2005, S. 296 = Asylmagazin 2005, S. 28 m.w.N; VG Braunschweig Urt. v. 8.2.2005 - 6 A 541/04 -; VG Stuttgart aaO.; VG Karlsruhe, Urt. v. 14.3. 2005 - A 2 K 10264/03 -; VG Köln Urt. v. 10.6.2005 - 18 K 4074/04.A - ; BGH, NJW 1998, 2208 [BGH 05.02.1998 - I ZR 211/95]). Vgl. insoweit Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, Art. 16 a GG, X Europäisches Asylrecht, Rdn. 142:
„Die neuen Definitionen für die Nachfluchtgründe (Art 5 RL 2004/83/EG) betreffen unmittelbar nur die Asyl- u. nicht die Flüchtlingsanerkennung. In letzterer Hinsicht ist deren Anwendung formell von der Umsetzung der EGRL abhängig. Da aber bisher keine verbindlichen Festlegungen für diesen Bereich im innerstaatliches Recht existieren, können die neuen Definitionen anstelle der bisherigen Grundlagen (dazu Rn 49 ff) sofort angewandt werden (zu den Besonderheiten für Nachfluchtgründe im Folgeantragsverfahren vgl § 28 II AsylVfG; Duchrow, ZAR 2044, 339). Hinsichtlich des Asylgrundrechts könnte angesichts der festgestellten Abweichungen (dazu Rn 139) entweder der Wortlaut von § 28 I AsylVfG, der auf den Nachfluchtgrundbeschluss des BVerfG zurückgeht, im Zuge der Umsetzung der RL entsprechend geändert werden oder die Rspr von sich aus die RL-Definitionen zur Auslegung auch des Asylgrundrechts heranziehen.“
Auch Meyer/ Schallenberger, NVwZ 2005, 776, halten die gen. Richtlinie schon vor ihrer innerstaatlichen Umsetzung im Rahmen einer richterlichen Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG für heranziehbar:
„Damit haben sich die EU-Mitgliedstaaten erstmals auf eine gemeinsame Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention geeinigt. Soweit § 60 I AufenthG (vgl. § 51 I AuslG) die Genfer Flüchtlingskonvention in Bezug nimmt, wird bei seiner Auslegung unmittelbar auf die im Folgenden zu besprechende Richtlinie zurückzugreifen sein. Dies gilt auch schon vor der Umsetzung der Richtlinie, soweit die Richtlinie den Begriff des Flüchtlings im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention definiert.“
Diese Beachtlichkeit der gen. Richtlinie gilt vor allem deshalb, weil die Bundesregierung in den Ratsgremien bereits auf der Grundlage des Entwurfs eines Zuwanderungsgesetzes verhandelt, also selbst eine Interdependenz zwischen Richtlinie und Zuwanderungsgesetz hergestellt hat (vgl. V 3.4.2 des Berichtes der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, August 2005, S. 512 m.w.N.). Nur deshalb besteht in Deutschland ein geringer Änderungsbedarf, dem bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist (10.10.2006) kaum noch Rechnung getragen werden dürfte:
„Aufgrund der Wechselwirkung zwischen der Richtlinie und dem Zuwanderungsgesetz ist der Änderungsbedarf im deutschen Asyl- und Flüchtlingsrecht grundsätzlich nicht so umfassend. Im Hinblick auf die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft enthält die Richtlinie...... sehr detaillierte Regelungen.“ - Bericht, a.a.O., S. 513 -
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Bedrohung ist somit aufgrund einer individuellen Prüfung (Art. 4 Abs. 3 Richtlinie) dann zu bejahen, wenn bei zusammenfassender Wertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgungsfurcht (Art. 4 Abs. 4 Richtlinie) sprechenden Umstände nach Lage der Dinge ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Umständen nach richterlicher Wertung qualitativ überwiegen (vgl. dazu BVerfGE 54, 341/354; BVerwG, DÖV 1993, 389 [BVerwG 03.11.1992 - BVerwG 9 C 21/92]; OVG Lüneburg, Urt. v. 26.8.1993 - 11 L 5666/92 ). Vgl. dazu OVG Frankfurt/Oder v. 14.4.2005 - 4 A 783/01 - :
„Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise i.S. einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Asylsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne begründete Furcht vor einem Ereignis kann deshalb auch dann vorliegen, wenn auf Grund einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht.“
Auf eine Kausalität zwischen Verfolgung und Flucht kommt es - mangels erlittener Verfolgung und mangels einer aus solchen Gründen erfolgten Flucht - bei einer solchen prognostischen Beurteilung der „Furcht vor Verfolgung“ oder der künftigen Gefahr, „einen ernsthaften Schaden zu erleiden“ (Art. 4 Abs. 4 Richtlinie), nicht an. Es ist vielmehr eine zukunftsorientierte Einschätzung dazu abzugeben, ob die vorgetragene Furcht vor künftiger Verfolgung (vgl. die beispielhaft genannten Verfolgungshandlungen und -gründe, Art. 9 und Art. 10 der Richtlinie 2004/83/EG) nach Lage der Dinge berechtigt ist.
Ein solches Überwiegen der unter Wertungs- und Abwägungsgesichtspunkten für eine Verfolgungsfurcht der Klägerin sprechenden Umstände iSv § 60 AufenthG iVm der Richtlinie 2004/83/EG ist hier gegeben.
2. Dahinstehen kann, ob die Klägerin aus einer „latenten Gefährdungslage“ iSd dazu entwickelten Rechtsprechung aus Vietnam geflohen ist, also die nicht entfernte Möglichkeit bestand, dass sie nach dem Verteilen politischer Zeitungen in Hanoi Opfer eines Übergriffs werden würde (BVerwGE 81, 170/172 f). Sie ist nach ihren Angaben von Hanoi aus zunächst nach Saigon gereist, hat sich hier einige Tage aufgehalten und sich so dem Zugriff der Polizei in Hanoi entzogen, und ist dann von dort über Frankreich nach Deutschland gekommen. Ob in Hanoi bereits die Voraussetzungen einer Gefährdungslage vorlagen, die zu einem Umschlagen in eine politische Verfolgung hätten führen können, mag offen bleiben.
Ebenso kann dahinstehen, ob ihre Ausreise als Beleg für eine auf abweichender Gesinnung beruhende politische Gegnerschaft verstanden werden könnte (BVerwG, InfAuslR 1989, S. 169 [BVerwG 06.12.1988 - BVerwG 9 C 22.88]). Denn die Klägerin ist im Falle einer Rückkehr nach Vietnam auf der Grundlage einer Prognose aus anderen Gründen bedroht.
3. Ausgangspunkt dabei ist, dass es einen objektiven Nachfluchttatbestand darstellt, wenn sich die politische Einstellung des Heimatstaates gegenüber regimekritischen Betätigungen verändert (BVerwG, EZAR 206 Nr. 4) und somit im Heimatstaat veränderte Verhältnisse herrschen. Auf derartige Ereignisse (Art. 5 Abs. 1 Richtlinie 2004/83/EG) hat der Asylbewerber keinen Einfluss. Ihre Veränderung kann eine Nichtanerkennung nicht stützen, kann vielmehr zur Anerkennung führen - gerade auch mit Blick auf § 28 AsylVfG.
Das gilt angesichts der gen. Richtlinie 2004/83/EG mit ihrer grundsätzlichen Anerkennung von Nachfluchtgründen objektiver wie subjektiver Art, die allesamt einen „Bedarf an internationalem Schutz“ hervorrufen (Art. 5), in besonderem Maße, so dass geänderte Einstellungen und Verschärfungen im Herkunftsland bei § 28 AsylVfG als objektiver Nachfluchttatbestand stets beachtlich und iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bedrohungsrelevant sind. Die Richtlinie ist im vorliegenden Bedeutungszusammenhang gesetzessystematisch und rechtsmethodisch auch heranzuziehen (a.A. wohl OVG NRW, Urt. v. 12.7.2005 - 8 A 780/04.A -, Asylmagazin 10/2005, S. 26/27). Denn der Gesetz- wie auch Richtliniengeber hat sich ganz ausdrücklich zu den Grundsätzen der Genfer Flüchtlingskonvention bekannt (§ 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG, Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2004/83/EG) und auch im Falle subjektiver Nachfluchtgründe - bei objektiven ohnehin - grundsätzlich einen „Schutzbedarf“ anerkannt. Dieser kommt „insbesondere“ (Art. 5 Abs. 2 Richtlinie, was den 2. Halbsatz des § 28 Abs. 1 S. 1 AufenthG anders akzentuiert) dann zum Zuge, wenn sich die Nachfluchtaktivitäten als Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder nur Ausrichtung darstellen.
Aber auch dann, wenn das nicht so ist, kann bei selbst geschaffenen Verfolgsgründen und -gefahren ausnahmsweise (bei entsprechender Fallgestaltung) eine Anerkennung in Betracht kommen (§ 28 Abs. 1 AsylVfG) - auch bei Folgeanträgen (§ 28 Abs. 2 AufenthG, Art. 5 Abs. 3 Richtlinie).
Bei Verhaltensweisen, die bei wertender Betrachtung typischerweise nicht mehr von dem Zweck erfasst werden, der die Unerheblichkeit des Nachfluchtverhaltens begründet (risikolose Verfolgungsprovokation), wie das z.B. bei der Wahl des Ehepartners mit anschließender christlicher Erziehung (BVerwGE 90, 127/131) oder bei einer Konvertierung (VG Schleswig, AuAS 6/1992, S. 12) der Fall ist, kommt ohnehin - auch soweit sie sich als subjektive Nachfluchtgründe darstellen - die Möglichkeit einer Anerkennung in Betracht (Marx, Kommentar zum AsylverfahrensG, 3. Auflage, § 28 Rdn. 41 ff).
3.1 Hier liegt es so, dass sich die Verhältnisse in Vietnam iSe objektiven Nachfluchtgrundes gerade in letzter Zeit erheblich verschärft haben, wie die entsprechenden sachkundigen Berichte über die Verhältnisse in Vietnam aus dem Jahre 2005 zeigen. Die Aktivitäten der Klägerin würden heute sehr viel schärfer geahndet als in der Zeit 2002/2003, als die Klägerin Vietnam verlassen hat. Deshalb ist die Klägerin im Falle der Rückkehr bedroht.
Für die insoweit erforderliche Gesamtschau und -bewertung ist die Einschätzung von Sachkennern, Gutachtern und Beobachtern der vietnamesischen Verhältnisse zu berücksichtigen, die in den jüngeren Urteilen der Kammer dargestellt ist (vgl. z.B. Urteile v. 7.9.2005 - 1 A 240/02 - und v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -). Darauf kann hier Bezug genommen werden.
Nach den letzten Lageberichten des AA (v. 28.8.2005 und v. 12.2.2005) ist es so, dass regierungskritische Aktivitäten in Vietnam nicht nur mit „größter Aufmerksamkeit“, sondern ggf. sogar eben auch mit polizeilich-justiziellen Maßnahmen „verfolgt“, öffentliche Kritik an Partei und Regierung und die Wahrnehmung von Grundrechten nicht toleriert werden und Dissidenten Repressionen seitens der Regierung ausgesetzt sind. Aktive Gegner des Sozialismus können nach den weit gefassten und (willkürlich) weit verstandenen Vorschriften jederzeit inhaftiert und bestraft werden. Amnestien des Jahres 2005 (vgl. dazu die Pressemitteilung des AA v. 8.9.2005) verweisen insoweit „nicht auf einen grundsätzlichen Wandel“ in Vietnam (ebenso Lagebericht AA v. 28.8. 2005).
Inhaftiert oder bestraft werden inzwischen in Vietnam nämlich nicht nur aktive Gegner des Sozialismus und des „Alleinherrschaftsanspruchs der KPV“, sondern auch solche, die (möglicherweise fälschlich) nur dafür gehalten werden - woran „auch das neue StGB nichts ändert“ (Lageberichte v. 12.2.05 und v. 28.8.05). Maßgeblich ist, ob eine „Verletzung der Staatsinteressen“ konstatiert werden kann (vgl. VG Meiningen, Urt. v. 20.9.2005 - 2 K 20124/04.Me -, S. 13 d. Urt.-Abdr.).
„Trotz der wirtschaftlichen Öffnung hat sich die Lage der Menschenrechte nicht gebessert und ist das Land heute von Freiheit und Demokratie weiter denn je entfernt. Noch immer ist Vietnam ein Ein-Parteien-Staat, in dem die Kommunistische Partei einen absoluten Machtanspruch vertritt. Vor allem die Glaubens-, Presse- und Meinungsäußerungs- sowie die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit werden von den vietnamesischen Behörden systematisch verletzt. Auch in den Vereinten Nationen zeigt Hanoi keine Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog über die Defizite bei der Durchsetzung der Menschenrechte im eigenen Land. Ganz im Gegenteil... „
- Pogrom/bedrohte Völker, Heft 3/2005, S. 34 -.
Deshalb werden „alle elektronischen und Printmedien des Landes durch die Regierung überwacht, das Internet eingeschlossen“ (so Lagebericht v. 12.2.05):
„Dessen Kontrolle wurde durch einen neuen Erlass - gemeinsam unterzeichnet von den Ministerien für Öffentliche Sicherheit, Kultur, Planung und Telekommunikation! - am 14.07.2005 weiter verschärft. Danach müssen die Betreiber von Internet-Cafés (wo die überwältigende Mehrheit der Vietnamesen Zugang zum Internet hat) die Personalien der Nutzer und die von ihnen aufgesuchten Webpages registrieren.“ (so Lagebericht des AA v. 28.8.05).
Viele Journalisten üben „Selbstzensur“, so dass sachkundige Berichte über die Verhältnisse in Vietnam nur noch vereinzelt auftauchen.
„Journalisten in Vietnam stehen laut Pressegesetz unter der Staatskontrolle: "Journalisten haben die Aufgabe, die offizielle Linie der Kommunistischen Partei und der Regierung zu propagieren. Alle Informationen müssen dem Interesse des Landes und des Volkes dienen. Journalisten werden mit Geldstrafen belegt, wenn ihre Berichte die legitimen Wirtschaftsinteressen von Organisationen und Einzelpersonen verletzen, selbst wenn die Berichte der Wahrheit entsprechen". Wie oft hat die Regierung Druck auf Journalisten ausgeübt, damit diese wissen, daß nur die Wirtschaft, aber nicht die Politik liberalisiert wird.“ - so menschenrechte Nr. 2 / 2005, hrg. v. IGFM, S. 25 -
Versuche, mit Flugblättern oder Zeitungen über Sachverhalte zu informieren und eine Resonanz in der Bevölkerung zu erzeugen, „werden strikt unterbunden“ (Lagebericht v. 12.2.05,. S. 6) - nach zwei Aufständen, nämlich dem vom Februar 2001, in dessen Folge zahlreiche Menschen nach Kambodscha und von dort in die USA flohen, und jenem vom April 2004, bei dem es zu 3 Todesopfern kam (Lagebericht AA v. 28.8.2005).
Angesichts solcher Gesamtumstände in Vietnam ist der Vortrag der Klägerin sehr nachvollziehbar, dass sie, nachdem sie beim Verteilen politischer Zeitungen beobachtet, bei der Polizei gemeldet und so „erwischt“ worden sei, jeweils für ca. 2 Wochen inhaftiert, sie währenddessen auch einmal geschlagen und sie nur unzureichend mit Lebensmitteln versorgt worden sei, man sie habe absichtlich hungern lassen (S. 3 des Protokolls v. 1.12. 2005), u.zw. deshalb, um „Informationen und Aussagen“ über die Auslieferungswege der von ihr verteilten Zeitungen zu erlangen. Diese als Folter zu kennzeichnende Behandlung (vgl. Art. 1 der UN-Folterkonvention v. 10.12.1984, BGBl. 1990 II S. 247) fügt sich in das Gesamtbild ein, das aus Vietnam berichtet wird.
Denn die vietnamesische Polizei und Justiz schreckt auch vor Folterungen (vgl. Art. 3 EMRK, Art. 1 der UN-Folterkonvention) keineswegs zurück, wie die Meldung der IGFM (kath.net) v. 17.12. 2004 zeigt:
„Mindestens fünf der sechs inhaftierten mennonitischen Christen in Vietnam sind im Gefängnis fortgesetzt misshandelt worden. Zwei vor kurzem freigelassene Mennoniten berichteten der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), dass auch die infolge von Misshandlung psychisch krank gewordene Le Thi Hong Lien vor Schlägen nicht verschont blieb. Die IGFM wirft der vietnamesische Polizei vor, dass sie in allen ihren Gefängnissen die Gewalt bewusst eingesetzt hat, um falsche Geständnisse zu erzwingen.“
Die Verschärfung der Lage in Vietnam zeigt sich auch daran, dass sämtliche Dokumente, die im Zusammenhang mit gerichtlichen Verfahren gegen Personen stehen, denen Verstöße gegen die sog. „nationale Sicherheit Vietnams“ zur Last gelegt werden, seit kurzem per Erlass als „Staatsgeheimnisse“ eingestuft werden. Im letzten Jahr wurden offiziell über 80 Todesurteile verhängt, davon 64 vollstreckt. Informationen hierüber sind inzwischen ebenfalls zum „Staatsgeheimnis“ erklärt worden (ai-Jahresbericht 2005, S. 359), so dass auch darüber nicht mehr offiziell berichtet werden darf.
3.2 Die Bedrohung der Klägerin rührt auch aus den exilpolitischen Aktivitäten der Klägerin hier in Deutschland (Bl. 38 ff. GA) her.
Die ab September 2003 gezeigten Aktivitäten stellen sich als Ausdruck und Fortsetzung seiner schon im Heimatstaat vorhandenen und erkennbar betätigten Überzeugung dar. Hierbei ist zu unterstreichen, dass auch ein Engagement in der Heimat von nur untergeordneter Bedeutung - je nach individuellen Umständen - Ausdruck einer inneren festen politischen Überzeugung sein kann (BVerfG, InfAuslR 1989, 31; InfAuslR 1990, 197; In-fAuslR 1992, 142). Insbesondere muss das Engagement nicht bereits den Charakter und Ausprägungsgrad von Vorfluchtgründen haben und damit schon Anlass zu Verfolgungsmaßnahmen gegeben haben (BVerfG, InfAuslR 1989, 31; InfAuslR 1990, 127 [BVerwG 12.12.1989 - BVerwG 9 C 6.88]). Erforderlich ist lediglich die Fortführung einer zuvor aufgezeigten Lebenshaltung - ohne dass diese schon zu einer Gefährdung oder Verfolgung geführt haben muss.
Die von der Klägerin vorgetragenen Aktivitäten (das Verteilen politischer Zeitungen) reichen als sichtbares Engagement - wenn auch von untergeordneter Bedeutung - für eine politische Grundüberzeugung, die gegen das vietnamesische Regime und dessen Machtausübung (S. 3 des Protokolls v. 1.12.05) gerichtet ist, ohne Weiteres aus. Das gilt in besonderem Maße deshalb, weil das Regime selbst im Falle der Klägerin bereits zu „Vorsichtsmaßnahmen“ gegriffen und die Klägerin bei festlichen Anlässen in „Vorbeugehaft“ genommen hatte. Auf diese Weise sollte - „zur Vorsicht“ - verhindert werden, dass die Klägerin sich in irgendeiner Weise gegen den Staat und dessen Interessen betätige. Praktiken dieser Art sind aufgrund wiederholter Berichte von betroffenen Asylbewerbern bekannt. Diese Einschätzung der Klägerin als einer politisch unzuverlässigen Staatsbürgerin mit falscher Gesinnung, die als potentiell gefährlich betrachtet wurde, belegt die in einer „Schicksalsgemeinschaft“ mit ihrem Bruder und ihrem Vater zum Ausdruck kommende politische Grundüberzeugung, die offenbar vom vietnamesischen Staat ernst genommen wurde. Andernfalls hätte es der Inhaftierungen nicht bedurft.
3.3 Die Klägerin ist entgegen den Ausführungen im angefochtenen Bescheid auch glaubwürdig. Selbstverständlich kann nicht jede Ungenauigkeit oder (geringfügige) Widersprüchlichkeit im Vortrag eines Asylbewerbers schon als Beleg für einen im Kern unglaubwürdigen Vortrag gewertet werden. Das gilt insbesondere für Zeitangaben und die genaue Zahl von Ereignissen. Aus diesbezüglichen Ungenauigkeiten kann nicht - wie im angefochtenen Bescheid - eine Unglaubwürdigkeit abgeleitet werden, vor allem dann nicht, wenn das vorgetragene Gesamtgeschehen sich in sonstige Erkenntnisse einfügt und im Abgleich zu anderen Informationsquellen als zutreffend angenommen werden kann. Erst dann, wenn die Tatsachenwidrigkeit und Widersprüchlichkeit den berechtigten Schluss zulässt, der Vortrag sei insgesamt nicht auf eigene Erlebnisse gestützt, kann von Unglaubwürdigkeit gesprochen werden (vgl. VG Braunschweig, Beschl. v. 5.3.2003 - 6 B 75/03 -; BGH NJW 1999, 1562, 1564 [BGH 19.01.1999 - 1 StR 171/98]).
Bei der individuellen Prüfung aller Angaben der Klägerin unter Berücksichtigung ihrer Mimik und Gestik sowie ihrer allgemeinen und persönlichen Umstände ergibt sich, dass die Klägerin sich um einen kohärenten und im Kern plausiblen Vortrag hinsichtlich ihrer Erlebnisse noch in Vietnam sowie ihres exilpolitischen Einsatzes für Demokratie und Menschenrechte in Deutschland bemüht hat. Dabei hat sie sich nicht gescheut, die „Komplikation“ - insoweit abweichend von ihrem Bruder - vorzutragen, dass sie beim Verteilen der Zeitungen eben nicht von der Polizei „erwischt“ worden sei, sondern von anderen Bürgern, die sie angezeigt hätten. Zudem hat sie davon berichtet, dass und warum sie die Schule schon in der 6. Klasse habe verlassen müssen (S. 3 des Protokolls v. 1.12.05), was als Realkennzeichen für ihre Glaubwürdigkeit spricht. Auch ihr Eingeständnis, beim Lesen der Zeitungen hätten ihr „manche Fachbegriffe“ gefehlt, so dass sie die Zeitungen nicht ganz verstanden, daher nur grob und pauschal gewusst habe, was sie verteile, spricht für die Glaubwürdigkeit der Klägerin (sog. Unverständnismerkmal, BGH, NJW 1999, 2746/2748). Schließlich hat sie ohne Ergebnisorientierung davon erzählt, dass sie nur „ab und zu“ zur Pagode in Hannover gegangen sei und keine „vertiefte Beziehung zum Buddhismus“ habe (Protokoll, aaO.). Die im angefochtenen Bescheid konstatierte „Auffälligkeit“, dass die Klägerin zur „Verfolgung“ ihres Bruders kaum und dann auch nur angeblich widersprüchliche - im Kern jedoch allenfalls ungenaue - Angaben über dessen Inhaftierungen machen konnte, belegt, dass sich die Geschwister hinsichtlich ihrer Aussagen nicht abgesprochen haben. Die wechselseitige Bestätigung ihrer eigenen Angaben und jener ihres Bruders nur in Grundzügen - ohne Benennung etwa „abgesprochener“ Daten - ist daher gerade ein deutlicher Beleg für die Glaubwürdigkeit der Klägerin (Kriterium der Strukturgleichheit und Konstanz bei Abweichungen in Nebenpunkten), zumal ihre Erlebnisse sich zwanglos in die allgemeinen Berichte und journalistischen Nachrichten über die Zustände in Vietnam einfügen. Auch die Motivation für ihre Verteilertätigkeit - allgemeiner „Ärger“ über Machtballung und -ausübung - hat sie angesichts ihrer Schulbildung sehr plausibel dargelegt. Die von ihr geschilderten Details über ihre Verhaftungen (Schlafen „auf dem Boden ohne Matratze und Unterlage“, Als Essen „gekochten Reis mit Salz“, Verbot von „Duschen und Baden“) überzeugten. Sie hat die beim Bundesamt aufgetretenen Divergenzen nachvollziehbar geklärt, so dass insgesamt die Glaubwürdigkeit der Klägerin festgestellt werden kann (Art. 4 Abs. 5 Richtlinie). Die angebliche Fehlerhaftigkeit der vorgelegten Vorladung (S. 4 des angef. Bescheides) ist im Übrigen nicht belegt, wobei sehr zweifelhaft ist, ob die behauptete Trennung von Polizei- und Sicherheitsapparat gerade in Vietnam noch praktiziert wird, da dort keinerlei Gewaltenteilung existiert und staatliches Handeln sich als „wenig transparent und rechenschaftspflichtig“ darstellt (AA, Lagebericht v. 28.8. 2005). Damit bedürfen die Angaben und Aussagen der Klägerin, die in der mündlichen Verhandlung einen sehr überzeugenden Eindruck hinterließ, unter Berücksichtigung der gen. Richtlinie keines weiteren Nachweises mehr (Art. 4 Abs. 5 der gen. Richtlinie; vgl. BVerwGE 55, 82).
3.4 Damit handelt es sich bei der exilpolitischen Betätigung der Klägerin in Deutschland (vgl. Bl. 41 ff GA), die angesichts des Verteilens von politischen Zeitungen einer schon im Herkunftsland angelegten „Ausrichtung“ (Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie) bzw. dort gewachsenen Überzeugung entspricht, nicht um einen (nachträglich) erst aus eigenem Entschluss geschaffenen subjektiven Nachfluchttatbestand iSv § 28 Abs. 1 AsylVfG, sondern vielmehr um eine Betätigung, welche sich auf eine „Überzeugung“ (§ 28 Abs. 1 AsylVfG) bzw. „Ausrichtung“ (Art. 5 Abs. 2 Richtlinie) gründet, die ersichtlich bereits in Vietnam ihre Wurzeln hat („Ausdruck und Fortsetzung“ einer entsprd. „Ausrichtung“, Art. 5 Abs. 2). Zudem reagiert der vietnamesische Staat darauf anders - nämlich härter - als früher (Verwobensein objektiver und subjektiver Nachfluchtgründe).
Somit kann keine Rede davon sein, dass die Klägerin ihr Vorbringen nur auf „Umstände“ iSv § 28 Abs. 1 AsylVfG stützt, die erst nach Ablehnung seines früheren Antrages (neu) entstanden sind (§ 28 Abs. 2 AsylVfG) und die sich als solche darstellen, die sie allein „aus eigenem Entschluss“ sich selbst neu geschaffen hat (§ 28 Abs. 1 AsylVfG). Vgl. insoweit Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, 4. Teil § 28 IV Rdn. 21:
„Der Ausschluss nach Abs 1 greift dann ausnahmsweise nicht ein, wenn die Aktivitäten auf einer bereits früher geäußerten Einstellung beruhen u. z B wegen des jugendlichen Alters oder anderen objektiven Gründen nicht bereits früher unternommen wurden.“
3.5 Die der Klägerin als einer „Andersdenkenden“ bei einer Rückkehr nach Vietnam drohenden Maßnahmen der vietnamesischen Sicherheitskräfte dürften ihre leibliche Unversehrtheit, ihre physische Freiheit sowie ihre Meinungsfreiheit und vor allem ihre „politische Überzeugung“ zum Gegenstand haben (Art. 10 Abs. 1 e der Richtlinie). Sie ist in Deutschland in mehrfacher Hinsicht exilpolitisch aktiv gewesen und noch aktiv (vgl. die im Verfahren vorgelegten Unterlagen), was den vietnamesischen Sicherheitskräften nicht verborgen geblieben sein dürfte.
Zu Recht ist die Klägerin daher der Meinung, dass man ihr diese Aktivitäten - auf dem Hintergrund ihrer bereits bekannten Tätigkeit als Verteilerin von politischen Zeitungen - bei einer Rückführung nach Vietnam vorhalten werde, sie im Falle der Rückkehr inhaftiert und man zumindest „energischer“ gegen sie vorgehen werde (S. 3 d. Protokolls v. 1.12. 2005). Sie ist daher in einem hohen Maße gefährdet. Die Klägerin wird im Hinblick auf ihr Verhalten schon in Vietnam und auf ihre exilpolitische Betätigung hier in Deutschland sowie im Übrigen auch wegen ihrer Asylantragstellung somit als aktive Regimegegnerin und Dissidentin angesehen werden. Als solche ist sie iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bedroht.
3.6 Weiterer Anknüpfungspunkt für Verfolgungsmaßnahmen gegen die Klägerin ist die Tatsache, dass es in Vietnam sog. „administrative Haftstrafen“ auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2. 1999) gibt. Auch dieser Aspekt ist in den jüngeren Urteilen der Kammer dargestellt worden, so dass darauf verwiesen werden kann (vgl. z.B. Urt. v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -).
3.7 Aufgrund dieser vielschichtigen Situation Vietnams ist eine Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden nicht abzugeben - zumal ein politisch begründeter Entscheidungsspielraum einschließlich offener Willkür gegenüber unangepassten Andersdenkenden oder Oppositionellen bzw. solchen, die dafür nur gehalten werden, gerade bei Justizakten zum Staats- und Selbstverständnis Vietnams gehört. „An der Tatsache, dass die Justiz faktisch Partei und Staat unterstellt ist, hat die Reform jedoch nichts geändert“ (Lagebericht v. 28.8.2005).
Demgemäss hat auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 22. Nov. 2005 - 2 BvR 1090/05 - den Vortrag einer vietnamesischen Beschwerdeführerin zu einem gravierenden Mangel an Rechtsstaatlichkeit in Vietnam als entscheidungserheblich bewertet und u.a. ausgeführt:
„...Eine solche Prüfung ist geboten, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Beschwerdeführerin in Vietnam ein Verfahren droht, das gegen unabdingbare, von allen Rechtsstaaten anerkannte Grundsätze und damit gegen den völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard im Sinne des Art. 25 GG verstößt und die Tatverdachtsprüfung darüber Aufschluss geben kann (vgl. ...). Völkerrechtliche Mindeststandards könnten auch verletzt sein, wenn im Strafverfahren eine Aussage als Beweis verwendet wird, die unter Folter erpresst wurde (vgl...). „
3.8 Auf die Rückführungsabkommen aus den 90er-Jahren kommt es - entgegen den Ausführungen im angefochtenen Bescheid - heute (Ende 2005) nicht mehr an: Der Sachverständige Dr. Will hält an seiner Auffassung fest, dass Rückkehrer nach öffentlicher Kritik am vietnamesischen Regierungssystem in aller Regel auch mit Verfolgung rechnen müssen (vgl. Dr. Will im Gutachten v. 11.2.2003; vgl. auch Dr. Will v. 14.9. 2000, S. 1). Auch der Sachverständige Dr. Weggel (Stellungn. v. 10.8. 2003 an VG Darmstadt) ist der Ansicht, dass das Rückübernahmeabkommen von 1995 (nebst Briefwechsel) sich „als Schlag ins Wasser erwiesen“ und die „vietnamesische Regierung der Rückführung jedes nur mögliche Hindernis in den Weg“ gelegt habe: „Beim Besuch der BMZ-Ministerin in Hanoi (Oktober 2000) wurde das Abkommen von 1995 nicht einmal noch der Erwähnung für wert befunden.“ Die „völkerrechtlichen Verpflichtungen“ sind damit, da sie in Vietnam missachtet werden, bedeutungslos. Vgl. dazu ai-Jahresbericht 2003 u. Lagebericht des AA v. 1.4.2003: „Aushöhlung“ des Dreierabkommens UNHCR-Vietnam-Kambodscha durch den vietnamesischen Staat, Vereinbarung eines „Memorandum of Understanding“ (MOU) v. 25.1.2005 (Lagebericht AA v. 28.8.05).
Im Übrigen mag es sein, dass eine Bestrafung speziell nur „wegen ungenehmigter Ausreise“ in Vietnam nicht stattfindet, so wie das den Abkommen der 90er-Jahre zugrunde liegt (Ziff. 5 des Schreibens des Vizeaußenministers der Soz. Rep. Vietnam v. 21.7.1995). Jedoch werden Ausgrenzungs- und Verfolgungsmaßnahmen bis hin zu Strafen wegen abweichender Gesinnung, wegen eines Glaubens, wegen kritischer Meinungsäußerungen, politischer Betätigung usw. weiterhin ergriffen, so dass es auf die bilateralen Abkommen nicht ankommt (VG Meiningen, Urt. v. 20.9.2005 - 2 K 20124/04.Me - S. 15 d. Urt.-Abdr.).
Unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände ist es daher prognostisch beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Vietnam „bedroht“ ist (§ 60 Abs. 1 AufenthG). Sie ist folglich als Flüchtling iSv § 3 AsylVfG anzuerkennen.
4. Eine Entscheidung zu Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG kann im Hinblick auf die zuvor dargestellte Entscheidung zu § 60 Abs. 1 AufenthG unterbleiben (§ 31 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AsylVfG analog). Die Abschiebungsandrohung ist insoweit rechtswidrig, als eine Abschiebung nach Vietnam angedroht worden ist (§ 59 Abs. 3 AufenthG).