Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 02.12.2005, Az.: 1 B 62/05

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
02.12.2005
Aktenzeichen
1 B 62/05
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 43116
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGLUENE:2005:1202.1B62.05.0A

Gründe

1

Der Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger, dessen erster Asylantrag erfolglos war (Urteil der 1. Kammer des VG Lüneburg vom 21.4.2004 - 1 A 256/03 - ). Sein am 9. November 2005 gestellter Asylfolgeantrag, u.a. damit begründet, dass er zum Christentum übergetreten sei und außerdem ein Urteil des VG Minden v. 13.1.2005 (9 K 5560/03) vorliege, demgemäß hinsichtlich des betreffenden Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorlägen, ist vom zuständigen Bundesamt bislang - Schreiben an den Antragsgegner vom 28. November 2005 (Bl. 37 GA) - dahingehend beschieden worden, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG nicht vorlägen, ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt werde und der Antragsteller noch einen förmlichen Bescheid erhalte, der jedoch gem. § 71 Abs. 4 u. 5 AsylVfG nicht Voraussetzung für eine Abschiebung sei. Aufgrund des Beschlusses des AG Walsrode v. 1.12.2005 - 6 XIV 644 B - ist der Antragsteller zur Sicherung der Abschiebung in Sicherungshaft genommen worden, wobei dieser Beschluss zugleich den Hinweis enthält, eine Sicherungshaft könne nur bzw. erst dann verhindert werden, "wenn das zuständige Verwaltungsgericht eine entsprechende ggfs. einstweilige Entscheidung getroffen haben sollte". Im Protokoll v. 1.12.2005 ist nochmals die Erklärung des Antragstellers enthalten, er sei "mittlerweile vom Islam zum christlichen Glauben konvertiert", so dass er "vor diesem Hintergrund" nicht nach Afghanistan zurück könne, weil er befürchten müsse, dort "allein aufgrund seines Wechsels vom Islam zum Christentum gesteinigt zu werden".

2

Hierauf hat der Antragsteller am 1. Dezember 2002 (17.58 Uhr) bei der erkennenden Kammer beantragt, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragsteller vorläufig nicht abzuschieben und ihn gem. § 60 a AufenthG vorläufig zu dulden.

3

Der auf die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gerichtete Antrag hat in dem Umfange Erfolg, wie das dem Beschlusstenor zu entnehmen ist. Damit darf die vorgesehene Abschiebung des Antragstellers zunächst nicht durchgeführt werden.

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1. Es kann hier dahinstehen, ob der Rechtsschutzantrag sich hier nach § 80 Abs. 5 VwGO oder aber nach § 123 VwGO richtet. Denn wie in Literatur und Rechtsprechung klar geworden ist, bestehen gerade bei Fallgestaltungen der vorliegenden Art hinsichtlich des vorläufigen Rechtsschutzes erhebliche Unsicherheiten und Differenzen (vgl. etwa Marx, Kommentar zum Asylverfahrensgesetz, 3. Auflage § 71 Rdn. 84 ff. / Rdn. 88; Renner, Ausländerrecht, 7. Auflage, § 71 AsylVfG Rdn. 43, 48 / 49 m.w.N.), die einer Effektivität dieses Rechtsschutzes, wie er von Art. 19 Abs. 4 GG gefordert wird, eher hinderlich sind. Deshalb mag offen bleiben, ob hier ein Antrag gem. § 80 Abs. 5 oder aber ein solcher gem. § 123 VwGO zu stellen ist, in dessen Rahmen sich die Rechtsschutzgewährung dann zu bewegen hat, zumal der eine in den anderen Antrag unter Beachtung des Rechtsschutzziels stets auch umgedeutet werden kann.

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2. Der Antrag hat in der Sache einstweilen Erfolg.

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Denn zur Erhaltung der Entscheidungsfähigkeit - nicht nur des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens, sondern vor allem auch eines sich möglicherweise anschließenden Klageverfahrens - ist es gemäß den §§ 123 Abs. 3 VwGO, 938 Abs. 2 ZPO geboten, dem Antragsgegner die Durch- und Umsetzung von Vollstreckungsmaßnahmen jeglicher Art vorläufig zu untersagen ("Schiebebeschluß" im Sinne der Rechtsprechung des BVerfG, vergl. dazu BVerfGE 88, 185 = NVwZ 1993, 767 und BVerfG - 1. Kammer des 2. Senats - NVwZ-Beilage 2/1996 A 1). Das ist vor allem im Interesse einer verfassungsrechtlich gebotenen Effektivität des Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) erforderlich, um eine Veränderung des derzeit bestehenden Zustandes zu Lasten des Antragstellers zu verhindern (Sicherungsanordnung gemäß § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO). Denn der Gewährleistungsinhalt der im demokratischen Rechtsstaat zu schützenden individuellen Rechtspositionen - hier jener auf ein rechtliches Gehör und auf eine rechtliche Prüfung der ablehnenden (Formular) Entscheidung des Bundesamtes vom 28. November 2005 - zielt darauf ab, die jeweils konkret betroffene Lebenswirklichkeit zu erfassen, mitzugestalten und zu regeln, nicht aber nur eine gleichsam theoretisch-abstrakte Geltung erst nachträglich zugesprochen zu bekommen (vgl. dazu BVerfGE 94, 225). Insoweit wird für das vorliegende Verfahren wegen weiterer Einzelheiten auf den Rechtsschutzantrag des Antragstellers nebst Anlagen und das Protokoll des Amtsgerichts Walsrode v. 1.12.2005 verwiesen.

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3. Im übrigen stehen der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gem. Art. 19 Abs. 4 GG nicht etwa ausnahmsweise besonders gewichtige Gründe entgegen, die es erlaubten, schon vor Abschluss eines Verfahrens der Hauptsache (Wiederaufgreifen und Asylfolgeverfahren) die weitgehend irreparable, vollendete Tatsachen schaffende Abschiebung des Antragstellers durchzuführen, die vom Antragsgegner auf der Grundlage offenbar einer Mitteilung gem. § 71 Abs. 5 S. 2 AsylVfG in Anspruch genommen wird. Denn es ist so, dass der Rechtschutzanspruch eines Antragstellers aus Art. 19 Abs. 4 GG um so stärker ist, je gewichtiger die auferlegte Belastung ist und je mehr die Verwaltungsmaßnahme - hier die Abschiebung - Unabänderliches zu bewirken geeignet ist (BVerfGE 35, 382 / 4o2; BVerfGE, NVwZ 1985, 4o9; BVerfG (3. K. des 2. Senats) NVwZ-Beilage 1996, 19 m.w.N.). Deshalb ist sein Antrag nur im Falle unumstößlicher Richtigkeit (BVerfG, InfAuslR 1995, 19) abweisbar, die regelmäßig erst in einem Hauptsacheverfahren zu erlangen ist:

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"Droht ... dem Ast. bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung seiner Grundrechte, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung nicht mehr beseitigt werden kann, so ist - ... - einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, daß ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (so 3. Ka. des 2. Senats des BVerfG, Beschl. v. 27.10.1995, NVwZ-Beilage 3/1996, S. 19 m.w.N.)"

9

An solcher unumstößlichen und eindeutigen Richtigkeit, wie sie vom Bundesverfassungsgericht gefordert wird, fehlt es hier im derzeitigen Zeitpunkt. Denn der insgesamt schlüssige Vortrag im Folgeantrag vom 9.11.2005, bestätigt im Protokoll des AG Walsrode v. 1.12.05, (Konvertierung zum Christentum), wirft hier hinreichend gewichtige Zweifel auf.

10

Eine Kostenentscheidung bleibt dem Beschluss des Einzelrichters der Kammer vorbehalten.

11

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 146 Abs. 2 VwGO.