Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 01.12.2005, Az.: 1 A 310/03
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 01.12.2005
- Aktenzeichen
- 1 A 310/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 43115
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGLUENE:2005:1201.1A310.03.0A
Tatbestand
Dem Kläger geht es um die Feststellung eines Abschiebungsverbots bzw. von Abscheibungshindernissen gem. § 60 AufenthG.
Der 1982 geborene Kläger vietnamesischer Staatsangehörigkeit - Angehöriger des Hmong-Volkes und evangelischen Glaubens - kam im Sommer 2001 in das Bundesgebiet und stellte hier erstmals einen Asylantrag. Durch bestandskräftigen Bescheid vom 1. August 2001 wurde - nach einer Anhörung vom 18. Juli 2001 - der Antrag als offensichtlich unbegründet abgelehnt und zugleich festgestellt, dass weder Abschiebungsverbote noch -hindernisse vorlägen.
Am 25. August 2003 stellte der Kläger mit der Begründung einen Asylfolgeantrag, er sei Mitglied der Nat. Volkspartei Vietnams, die in Vietnam als "konterrevolutionär" gelte und dort verboten sei.
Mit Bescheid vom 8. September 2003 - per Einschreiben zugestellt - lehnte die Beklagte nach ohne Anhörung des Klägers die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ab und stellte fest, dass Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorlägen; zugleich wurde der Kläger aufgefordert, das Bundesgebiet binnen 1 Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen, wobei ihm die Abschiebung nach Vietnam (oder einen anderen Staat) für den Fall angedroht wurde, dass er die Frist nicht einhalte.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 17. September 2003 bei der erkennenden Kammer Klage erhoben und zugleich - erfolgreich - um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht (1 B 41/03). Zur Begründung erweitert und vertieft der Kläger seinen Standpunkt, er sei im Falle einer Rückkehr nach Vietnam als Christ und exilpolitisch aktiver Dissident bedroht. Dabei bezieht er sich u.a. auch auf verschiedene Aktivitäten, für die er Belege beibringt.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 8. September 2003 zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. § 60 Abs. 7 AufenthG erfüllt sind.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist insoweit begründet, als es dem Kläger gemäß seinem Antrag um die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gem. § 60 Abs. 1 AufenthG bzw. um Abschiebungshindernisse gem. § 60 Abs. 2-7 AufenthG geht.
1. Das Folge- und Wiederaufnahmeverfahren nach §§ 71 Abs. 1 AsylVfG, 51 VwVfG ist gestuft: In der 1. Stufe ist lediglich ein glaubhafter und substantiierter Vortrag erforderlich, aus dem sich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG ergeben können muss (HambOVG, NVwZ 1985, 512: "gute Möglichkeit einer Asylanerkennung"; h.M. der Verwaltungsrechtsprechung; vgl. auch Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung, Band 2, § 71 Rdn. 85 m.w.N.; BVerfG, InfAuslR 1993, 3o4; BVerwGE 39, 234; 44, 338; 77, 325; VG Lüneburg, NVwZ-RR 2004, 217). Nur dann, wenn ein Vorbringen nach jeder erdenklichen Betrachtungsweise völlig ungeeignet ist, zur Asylberechtigung bzw. zu einem Abschiebungsverbot zu verhelfen, kann ein Folgeantrag als unbeachtlich bewertet werden (BVerfG, DVBl. 1994, 38; BVerfG, InfAuslR 1993, 229/233). Ein derartiger Einzel- und Ausnahmefall liegt hier nicht vor.
2. Soweit im Bescheid die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG angesprochen worden sind, ist es so, dass eine Änderung der Rechtslage (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) im Hinblick auf das ab dem 1.1.2005 geltende Zuwanderungsgesetz mit § 60 Abs. 1 AufenthG iVm der Genfer Flüchtlingskonvention v. 28.7.1951 (BGBl. 1953 II, S. 559), aber auch hinsichtlich der Richtlinie 2004/83/ EG des Jahres 2004 gegeben ist. Daneben rechtfertigen die Belege für eine Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Lage in Vietnam (Sachlage iSv § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), die Unterdrückung der Religions- und Meinungsfreiheit einschließlich der dort gehandhabten "Willkür" und der unsystematischen Verhaftungen eine Befassung mit dem Folgeantrag.
3. Sind die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens gem. den §§ 71 AsylVfG, 51 VwVfG erfüllt, hat das Verwaltungsgericht ohne Zurückverweisung an das Bundesamt selbst in der Sache durchzuentscheiden (§§ 113 Abs. 5 u. 86 Abs. 1 VwGO; vgl. BVerwGE 106, 171 = DVBl. 1998, 725 = NVwZ 1998, 861 m.w.N.).
4. Die Anerkennung als Flüchtling (Art. 33 Abs. 1 der Genfer Konvention, § 60 Abs. 1 AufenthG) setzt voraus, dass dem Kläger bei einer Rückführung nach Vietnam prognostisch für den Zeitpunkt November 2005 eine asylerhebliche Beeinträchtigung oder Schädigung droht. Das ist hier der Fall.
§ 60 Abs. 1 AufenthG hat das Verhältnis zur Asylanerkennung (Art. 16 a GG) tiefgreifend verändert (vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage, 1. Teil Kap. 5 III 3, § 60 AufenthG, Rdn. 12). Mit § 60 Abs. 1 AufenthG hat sich nämlich unter dem Eindruck der Richtlinie 2004/ 83/EG v. 30.9. 2004 - L 304/12 - ein Perspektivwechsel zu einer prognostischen Opferbetrachtung vollzogen (vgl. dazu VG Stuttgart, Urteil v. 17.1.2005 - A 10 K 10587/04 - m.w.N.; Urteil der Kammer v. 7.9. 2005 - 1 A 240/02 -). Vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, 1. Teil Kap. 5 III 3, § 60 AufenthG Rdn. 13:
"Unter das Abschiebungsverbot des Abs. 1 fällt nach alledem jeder politisch Verfolgte (vgl auch § 3 AsylVfG), u. zwar ohne Rücksicht darauf, ob er den Verfolgungstatbestand erst nach Verlassen des Heimatstaats geschaffen hat u. deshalb uU nicht als politisch Verfolgter iSd Art. 16 a I GG angesehen werden kann (dazu Art 16 a GG Rn 49 ff)."
Da inzwischen die Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 in Kraft getreten ist, sind auch deren Standards im Wege der Auslegung des § 60 AufenthG jedenfalls richterlich - ohne dass Kläger das beanspruchen könnten - schon beachtlich (vgl. auch EuGH, Urt. v. 9.3.2004 - C 397/01 - Pfeiffer, Rn. 101 ff), u.zw. auch angesichts dessen, dass die Frist zur Umsetzung in das nationale Recht noch nicht abgelaufen ist (Art. 38 Abs. 1 d. Richtlinie; vgl. Hoffmann, Asylmagazin 4/2005; vgl. VGH Baden-Württ., Beschl. v. 12.5.2005 - A 3 S 358/05 - , InfAuslR 2005, S. 296 = Asylmagazin 2005, S. 28 m.w.N; VG Braunschweig Urt. v. 8.2.2005 - 6 A 541/04 -; VG Stuttgart aaO.; VG Karlsruhe (Urt. v. 14.3. 2005 - A 2 K 10264/03 -; VG Köln Urt. v. 10.6.2005 - 18 K 4074/04.A - ; BGH, NJW 1998, 2208) Vgl. auch Meyer/ Schallenberger, NVwZ 2005, 776:
"Damit haben sich die EU-Mitgliedstaaten erstmals auf eine gemeinsame Auslegung der Genfer Flüchtlingskonvention geeinigt. Soweit § 60 I AufenthG (vgl. § 51 I AuslG) die Genfer Flüchtlingskonvention in Bezug nimmt, wird bei seiner Auslegung unmittelbar auf die im Folgenden zu besprechende Richtlinie zurückzugreifen sein. Dies gilt auch schon vor der Umsetzung der Richtlinie, soweit die Richtlinie den Begriff des Flüchtlings im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention definiert."
Diese Beachtlichkeit der gen. Richtlinie gilt vor allem auch deshalb, weil die Bundesregierung in den Ratsgremien bereits auf der Grundlage des Entwurfs eines Zuwanderungsgesetzes verhandelt, also selbst eine Interdependenz zwischen Richtlinie und Zuwanderungsgesetz hergestellt hat (vgl. V 3.4.2 des Berichtes der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration über die Lage der Ausländerinnen und Ausländer in Deutschland, August 2005, S. 512 m.w.N.). Nur deshalb besteht in Deutschland ein geringer Änderungsbedarf, dem bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist (10.10.2006) kaum noch Rechnung getragen werden dürfte:
"Aufgrund der Wechselwirkung zwischen der Richtlinie und dem Zuwanderungsgesetz ist der Änderungsbedarf im deutschen Asyl- und Flüchtlingsrecht grundsätzlich nicht so umfassend. Im Hinblick auf die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft enthält die Richtlinie...... sehr detaillierte Regelungen." - Bericht, a.a.O., S. 513 -
Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Bedrohung ist somit aufgrund einer individuellen Prüfung (Art. 4 Abs. 3 Richtlinie) dann zu bejahen, wenn bei zusammenfassender Wertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgungsfurcht (Art. 4 Abs. 4 Richtlinie) sprechenden Umstände nach Lage der Dinge ein größeres Gewicht besitzen und deswegen gegenüber den dagegen sprechenden Umständen nach richterlicher Wertung qualitativ überwiegen (vgl. dazu BVerfGE 54, 341/354; BVerwG, DÖV 1993, 389; OVG Lüneburg, Urt. v. 26.8.1993 - 11 L 5666/92 ).
Auf eine Kausalität zwischen Verfolgung und Flucht kommt es - mangels erlittener Verfolgung und mangels einer aus solchen Gründen erfolgten Flucht - bei einer solchen prognostischen Beurteilung der "Furcht vor Verfolgung" oder der künftigen Gefahr, "einen ernsthaften Schaden zu erleiden" (Art. 4 Abs. 4 Richtlinie), nicht mehr an. Es ist vielmehr eine Prognose darüber abzugeben, ob die vorgetragene Furcht vor künftiger Verfolgung (vgl. die beispielhaft genannten Verfolgungshandlungen und -gründe, Art. 9 und Art. 10 der Richtlinie 2004/83/EG) nach Lage der Dinge berechtigt ist.
Ein solches Überwiegen der unter Wertungs- und Abwägungsgesichtspunkten für eine Verfolgungsfurcht des Klägers sprechenden Umstände ist hier gegeben.
4.1 Ausgangspunkt dabei ist, dass es einen objektiven Nachfluchttatbestand darstellt, wenn sich die politische Einstellung des Heimatstaates gegenüber regimekritischen Betätigungen verändert (BVerwG, EZAR 206 Nr. 4) und somit im Heimatstaat veränderte Verhältnisse herrschen. Auf derartige Ereignisse (Art. 5 Abs. 1 Richtlinie 2004/83/EG) hat der Asylbewerber keinen Einfluss. Ihre Veränderung kann eine Nichtanerkennung nicht stützen, vielmehr zur Anerkennung führen - gerade auch mit Blick auf § 28 AsylVfG.
Das gilt angesichts der gen. Richtlinie 2004/83/EG mit ihrer grundsätzlichen Anerkennung von Nachfluchtgründen objektiver wie subjektiver Art, die allesamt einen "Bedarf an internationalem Schutz" hervorrufen (Art. 5), in besonderem Maße, so dass geänderte Einstellungen und Verschärfungen im Herkunftsland bei § 28 AsylVfG als objektiver Nachfluchttatbestand stets beachtlich und iSv § 60 Abs. 1 AufenthG stets bedrohungsrelevant sind. Die Richtlinie ist im vorliegenden Bedeutungszusammenhang gesetzessystematisch und rechtsmethodisch auch heranzuziehen (a.A. wohl OVG NRW, Urt. v. 12.7.2005 - 8 A 780/04.A -, Asylmagazin 10/2005, S. 26/27). Denn der Gesetz- wie auch Richtliniengeber hat sich ausdrücklich zu den Grundsätzen der Genfer Flüchtlingskonvention bekannt (§ 60 Abs. 1 S. 1 AufenthG, Art. 5 Abs. 3 Richtlinie 2004/83/EG) und auch bei subjektiven Nachfluchtgründen - bei objektiven ohnehin - ganz grundsätzlich einen "Schutzbedarf" anerkannt, der "insbesondere" (Art. 5 Abs. 2 Richtlinie, was den 2. Halbsatz des § 28 Abs. 1 S. 1 AufenthG anders akzentuiert) dann zum Zuge kommt, wenn sich die Nachfluchtaktivitäten als Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder nur Ausrichtung darstellen. Selbst dann, wenn das nicht so ist, kann bei selbst geschaffenen Verfolgsgründen und -gefahren ausnahmsweise (bei entsprechender Fallgestaltung) immer noch eine Anerkennung in Betracht kommen (§ 28 Abs. 1 AsylVfG) - auch bei Folgeanträgen (§ 28 Abs. 2 AufenthG, Art. 5 Abs. 3 Richtlinie).
Die Nichtanerkennung eines Asylbewerbers kommt bei objektiven Nachfluchtgründen mithin überhaupt nicht zum Zuge, da sich § 28 AsylVfG in Abs. 1 wie auch in Abs. 2 lediglich mit "Umständen" befasst, die aus eigenem Entschluss (subjektiv) geschaffen worden sind - in Abs. 1 nach Verlassen des Herkunftslandes, in Abs. 2 (insoweit für Folgeanträge abweichend von Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie) zeitlich erst nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrages.
§ 28 Abs. 2 AsylVfG vermag somit angesichts des grundsätzlich unbezweifelbaren "Schutzbedarfs" die Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG schon im Ansatz nur ganz ausnahmsweise, nämlich dann zu sperren, wenn ausnahmslos rein subjektive Nachfluchtgründe geltend gemacht werden. In allen anderen Fällen, vornehmlich dann, wenn subjektive und objektive Nachfluchtgründe nur miteinander verwoben sind, besteht ein "Bedarf an internationalem Schutz" gem. Art. 5 Abs. 2 Richtlinie 2004/83/EG. Denn die Regelung des AufenthG stellt sich als Ausnahme vom gen. "Bedarf" dar und ist daher eng auszulegen. Demzufolge ist auch die in § 28 Abs. 2 AsylVfG enthaltene Regel eng auszulegen und jede von ihr abweichende Ausnahme - gemäß dem grundsätzlichen Schutzbedarf - großzügig und weit. Ob das als eine "Rückausnahme" des Inhalts bezeichnet werden kann, dass nur eine Abweichung zu Gunsten des Schutzsuchenden möglich sein soll, mag dahinstehen (so aber OVG NRW, aaO., S. 27).
Somit können im Rahmen des § 28 AsylVfG auch subjektive Nachfluchtgründe aller Art zur Asylanerkennung führen. Das gilt ganz besonders und vor allem dann, wenn sie auf eine schon im Herkunftsland erkennbar betätigte Überzeugung (Abs. 1) oder aber (mit Blick auf einen Folgeantrag iSv Art. 5 Abs. 3 Richtlinie bzw. § 28 Abs. 2 AsylVfG) auf Umstände zurückgehen, die schon vor der Rücknahme oder unanfechtbaren Ablehnung des früheren Antrags entstanden sind. Bei Verhaltensweisen, die bei wertender Betrachtung typischerweise nicht von dem Zweck erfasst werden, der die Unerheblichkeit des Nachfluchtverhaltens begründet (Wahl des Ehepartners mit anschließender christlicher Erziehung, BVerwGE 90, 127/131), kommt mithin auch bei subjektiven Nachfluchtgründen eine Anerkennung fraglos in Betracht (Marx, Kommentar zum AsylverfahrensG, § 28 Rdn. 44).
4.2 Im Übrigen ist der neu eingefügte § 28 Abs. 2 AsylVfG nicht nur im Hinblick auf die Richtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004 (Amtsblatt der EU L 304/12) und den dort anerkannten Schutzbedarf bei Nachfluchtgründen (Art. 5) äußerst einschränkend auszulegen (vgl. dazu die Rechtsprechung der Kammer, z.B. Urteile v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -, v. 29.6.2005 - 1 A 212/02 - und v. 6.7.2005 - 1 A 4/02 - sowie v. 17.8.2005 - 1 A 233/02 -), sondern auch deshalb, weil er andernfalls mit dem Refoulementverbot des Art. 33 Abs. 1 des Abkommens vom 28.7.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559) und mit dem - dieses Verbot sowie jenes aus Art. 3 EMRK ausdrücklich umsetzenden - Sinngehalt des § 60 Abs. 1 AufenthG erheblich kollidierte:
"Sollte also § 28 II AsylVfG bewirken, dass § 60 I AufenthG einer Abschiebung nicht entgegensteht, obwohl Art. 33 I GFK entgegensteht, widerspräche sich das Zuwanderungsgesetz selbst, da es § 60 I AufenthG und § 28 II AsylVfG gleichzeitig in Kraft gesetzt hat. Dieser Widerspruch lässt sich dadurch ausräumen, dass bei einem Verstoß gegen Art. 33 I GFK eine Ausnahme von der Regel des § 28 II AsylVfG gemacht wird. Dadurch wird zwar die Ausnahme zur Regel, denn der Anwendungsbereich des § 28 II AsylVfG bleibt auf etwaige Fälle beschränkt, in denen der Abschiebungsschutz des § 60 I AufenthG über Art. 33 I GFK hinausgeht. Das dürfte aber nicht schwer wiegen, denn § 28 II AsylVfG könnte ohnehin kaum die Erwartung des Gesetzgebers erfüllen, dass der "bislang bestehende Anreiz" entfällt, durch Folgeverfahren mit neu geschaffenen Nachfluchtgründen zu einem dauerhaften Aufenthalt zu gelangen (BTDrucks.15/538 a.a.O.). Auch bei Gefahren i.S. des § 60 II, 3, 5 oder 7 AufenthG, die nicht unter Art. 33 I GFK fallen, soll nämlich eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, die schließlich zur Niederlassungserlaubnis führen kann (§§ 25 III S. 1, 26 IV AufenthG)."
- so VG Stuttgart, Urt. v. 18.4.2005 - A 11 K 12040/03 - , InfAuslR 2005, S. 345 -
Auch das VG Göttingen (Urt. v. 2.3.2005 - 4 A 38/03 - ; ähnlich VG Magdeburg, Urt. v. 11.7.2005 - 9 A 272/04 MD -) wendet die Regel des § 28 Abs. 2 AsylVfG deshalb dann nicht an, wenn sie nach ihrem Sinn und Zweck nicht in Betracht kommen kann (siehe auch VG Mainz Urt. v. 27.4.2005 - 7 K 755/04.MZ - ).
Das VG Meiningen (Urteil v. 20.9.2005 - 2 K 20124/04.Me - ) prüft insoweit zur Vermeidung einer Schutzlücke, ob ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG besteht und meint, falls das so sei, entstehe keine Schutzlücke und liege also wohl auch der Regelfall des § 28 Abs. 2 AsylVfG vor. Für exilpolitisch tätige Vietnamesen bejaht es ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG, zumal es sich hierbei jetzt um eine Sollvorschrift handele und keine besonderen Umstände vorlägen, die eine Abweichung vom Schutz gem. § 60 Abs. 7 AufenthG rechtfertigten. Allerdings hält es § 28 Abs. 2 AsylVfG in den Fällen für nicht anwendbar, in denen der Ausländer das Risiko selbst geschaffener Nachfluchtgründe gar nicht habe "bewusst" auf sich nehmen können, weil ihm vor Inkrafttreten des § 28 Abs. 2 AsylVfG am 1.1.2005 eine "Abschätzung seines Risikos" noch nicht möglich gewesen sei. Das sei bei den Fällen aus "früherer Zeit" in weiten Teilbereichen so, führe mithin auch zur Unanwendbarkeit des § 28 Abs. 2 AsylVfG - abgesehen davon, dass der Gesetzgeber einen Asylbewerber, der "aus tiefer Überzeugung ein von ihm abgelehntes politisches System in seiner Heimat bekämpft", gar nicht im Blick gehabt, ihn vielmehr "völlig außer Acht" gelassen habe.
Ebenso beschränkt auch Renner (Ausländerrecht, 8. Auflage, aaO.,Rdn. 22) den neuen § 28 Abs. 2 AsylVfG durch verfassungskonforme Auslegung auf echte Missbrauchsfälle:
"Durch Abs. 2 wird der Fall erfasst, dass der Ausl im Folgeverf subjektive Nachfluchtgründe vorträgt, die zwar nach Abs 1 nicht zur Asylanerkennung, wohl aber zur Flüchtlingsanerkennung führen können. Indem Abs 2 nunmehr auch das Refoulementverbot ausschließt, muss es als zweifelhaft erscheinen, ob dies auch nach Maßgabe der Rspr von BVerfG u. BVerwG noch mit dem Asylgrundrecht vereinbar ist (so auch Duchrow, ZAR 2004, 339). Das BVerfG hat im Nachfluchtgrundbeschluss ausdrücklich auf den aufgrund anderer Normen außerhalb der Asylanerkennung bestehen bleibenden Schutz hingewiesen (dazu Rn 4-8 u. BVerfGE 74, 51), die Schutzmöglichkeit nach § 60 VII 1 AufenthG kann aber kaum einen ausreichenden Ersatz bieten (so aber Begr des GesEntw, BT-Drs 420 S. 110). Hinsichtlich der GK geht der Hinweis auf den danach nur vorübergehend gewährleisteten Schutz (aaO S. 110) fehl, weil durch Abs 2 jeglicher Schutz versagt wird. Eine verfassungskonforme Auslegung lässt sich danach nur dadurch gewährleisten, dass der Regelfall restriktiv ausgelegt u. auf den Fall reduziert wird, dass ein offensichtlicher Missbrauch vorliegt."
Somit ist § 28 Abs. 2 AsylVfG im Gesamtzusammenhang des Normengefüges (Art. 16 a Abs. 1 GG, Art. 3 EMRK, Art. 33 GFK, Richtlinie 2004/83/EG, § 60 AufenthG) nur als äußerst eng zu interpretierende Ausnahme anwendbar. Anderenfalls gingen auf dem Hintergrund der gen. Richtlinie 2004/83/EG die vom Gesetzgeber selbst gesteckten Gesetzesziele und -zwecke des § 60 Abs. 1 AufenthG iVm Art. 3 EMRK bzw. der GFK (hier Art. 33) verloren. Der grundsätzlich anerkannte Schutzbedarf bliebe unbeachtet. Das hat der Gesetzgeber in seinem Bemühen um Abschiebungsschutz (Abschiebungsverbote und -hindernisse) nicht gewollt.
4.3 Auf diesem Hintergrund liegt es hier zunächst so, dass der Kläger im Jahre 1999 - als seine Mutter wegen ihrer Krankheit (Lepra) an einen Pfahl gebunden und von Abergläubischen geschlagen worden war - von seiner Tante in die Nähe von Samarkand geholt worden war und er dort Kontakt mit Menschen hatte, die "gegen das vietnamesisch-kommunistische System" waren. In den Gesprächen mit ihnen wurde sein schon vorher vorhandenes "ungutes Gefühl über das kommunistische System in Vietnam", das der Kläger als "sehr einseitig" empfunden hatte, bestätigt. Dort wurde dem Kläger "bekannt und klar", was er vorher noch nicht kannte und wusste (Protokoll v. 1.12.05, S. 2).
Damit handelt es sich bei der exilpolitischen Betätigung des Klägers in Deutschland (vgl. Bl. 41 ff GA), die angesichts dieser Gespräche und Erfahrungen offensichtlich einer schon im Herkunftsland angelegten "Ausrichtung" (Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie) bzw. dort gewachsenen Überzeugung entspricht, nicht um einen (nachträglich) erst aus eigenem Entschluss geschaffenen Nachfluchttatbestand iSv § 28 Abs. 1 AsylVfG, sondern vielmehr um eine Betätigung, welche sich auf eine "Überzeugung" (§ 28 Abs. 1 AsylVfG) bzw. "Ausrichtung" (Art. 5 Abs. 2 Richtlinie) gründet, die bereits in Vietnam bzw. im Erstverfahren ihre Wurzeln hat ("Ausdruck und Fortsetzung" einer entsprd. "Ausrichtung", Art. 5 Abs. 2). Zudem reagiert der vietnamesische Staat darauf anders - nämlich härter - als früher (Verwobensein objektiver und subjektiver Gründe).
Somit kann keine Rede davon sein, dass der Kläger sein Folgevorbringen nur auf "Umstände" iSv § 28 Abs. 1 AsylVfG stützt, die erst nach Ablehnung seines früheren Antrages (neu) entstanden sind (§ 28 Abs. 2 AsylVfG) und die sich als solche darstellen, die er allein "aus eigenem Entschluss" sich selbst neu geschaffen hat (§ 28 Abs. 1 AsylVfG). Vgl. insoweit Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage 2005, 4. Teil § 28 IV Rdn. 21:
"Der Ausschluss nach Abs 1 greift dann ausnahmsweise nicht ein, wenn die Aktivitäten auf einer bereits früher geäußerten Einstellung beruhen u. z B wegen des jugendlichen Alters oder anderen objektiven Gründen nicht bereits früher unternommen wurden."
4.4 Weiterhin liegt es hier so, dass der Kläger im Jahre 2001 in Oldenburg evangelischer Christ geworden ist (vgl. dazu Niederschrift v. 10.7.2001 und Protokoll v. 1.12.2005, S. 2), was im Erstverfahren - im Rahmen der "Offensichtlichkeit" - keine Berücksichtigung gefunden hat (Bescheid v. 1.8.2001). Da dieser Gesichtspunkt bereits im Erstverfahren vorhanden und nicht etwa erst danach "entstanden" war, ist die Regel des § 28 Abs. 2 Asyl-VfG auf ihn ohnehin nicht anwendbar. § 28 Abs. 1 AsylVfG kommt insoweit ebenfalls nicht zum Zuge, weil das Moment der risikolosen Verfolgungsprovokation fehlt: Abgesehen davon, dass der Kläger in jungen Jahren nach Deutschland gekommen ist, bei seiner Ausreise also noch keine feste Überzeugung gehabt haben dürfte, kann bei ihm als einem Angehörigen des Hmong-Volkes (S. 2 des Bescheides v. 1.8.2001) eine gewisse Nähe zum christlichen Glauben unterstellt werden, da dieses Volk in großer Zahl zum christlichen Glauben übergetreten ist (Lagebericht AA v. 28.8.2005, S. 9). Der Übertritt zum christlichen Glauben ist beim Kläger - wie aus seinen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung v. 1.12.2005 hervorgeht - letztlich unter dem Eindruck missionarischen Wirkens in Oldenburg und aus religiöser Überzeugung erfolgt, also nicht zweckgerichtet, nicht deshalb, um eine Verfolgungsgefahr zu provozieren (vgl. VG Schleswig, AuAS 6/1992, S. 12). Davon kann bei einer wertenden Betrachtung der gesamten Umstände nicht ausgegangen werden (BVerwGE 90, 127/131).
4.5 Verfolgungsmaßnahmen könnten dem Kläger bei dieser Lage der Dinge in hohem Maße vor allem deshalb drohen, weil er evangelischen Glaubens ist (vgl. Niederschr. v. 10.07.2001 und v. 25.8. 2003, Protokoll v. 1.12.2005) und dem Hmong-Volk angehört (S. 2 oben des Bescheides v. 1.8.2001).
Die lokalen Behörden in Vietnam empfinden die Tendenzen religiöser Orientierung in Nord-, Nordwest- und Mittelvietnam "als bedrohlich und reagieren darauf mit Medienkampagnen, Einschüchterung und teilweise sogar mit Verhaftungen" (so schon Lagebericht des AA v. Mai 2001, S. 6). Mehr als 150.000 Angehörige des Hmong-Volkes z.B. sind zum christlichen Glauben übergetreten und deshalb 2002-2004 mit großer Brutalität verfolgt worden. "Die Unruhen im zentralen Hochland Vietnams im Februar 2001 müssen im Kontext dieses religiösen Konflikts gesehen werden..." (so AA, aaO.).
Diese Verfolgung soll auf einen Plan 30-KH/184 zurückgehen, der von der Leitungskommission 184 der Komm. Partei Vietnams am 25. Februar 2005 ausgearbeitet worden sein soll (so Kath.net v. 27.10.2005):
"Sie gab bereits 1999 zwei geheime Papiere namens "Plan 184A" und "Plan 184B" zur Bekämpfung des evangelischen Glaubens auf dem Flachland sowie in den Bergregionen heraus. Christen der ethnischen Minderheit der Hmong in Nordvietnam erlitten seitdem ein schweres Schicksal.
Hmong-Christen in der Provinz Dien Bien wurden bis Mitte 2004 dadurch fast ausgerottet. Die IGFM registrierte, dass einzelne Hmong-Christen 2002 und 2003 zu Tode geschlagen wurden. Zahlreiche Hmong-Christen wurden verhaftet oder sind in andere benachbarte Provinzen oder nach Laos geflohen. Nach Informationen der IGFM wurde der evangelische Glaube von Behörden in Dien Bien als feindlich, nämlich als "amerikanischer bzw. reaktionärer Glaube" angesehen."
- so Kath.net v. 27.10.2005 -
Die Bedrohungslage ergibt sich dabei auch aus Strafvorschriften, die Aktivitäten von Religionsgemeinschaften stark beschränken (Art. 81 c vietn StGB - Verbreitung von Zwietracht - und Art. 199 vietn-StGB - Betreiben abergläubischer Praktiken -). Sämtliche kirchlichen Aktivitäten unterliegen einer Registrierungspflicht und bedürfen einer gesonderten Genehmigung (AA an VG Darmstadt v. 18.2.2002). Inzwischen ist zudem ein neuer "Religionserlass" in Kraft getreten, der als "Festschreibung der staatlichen Kontrolle über alle Aspekte des religiösen Lebens" verstanden und kritisiert wird (ai-Jahresbericht 2005, S. 358). Vgl. auch schon Dr. Will vom 16. Juni 1999:
"Die vietnamesische Regierung sah sich daher auch veranlaßt, am 19.4.1999 ein Dekret über die Zulässigkeit religiöser Aktivitäten zu erlassen, in dem gefordert wird, die entsprechenden Vorschriften rigoros anzuwenden, um jeden Mißbrauch der Religion im Kampf gegen die Volksmacht zu unterbinden."
Nach einer Pressemitteilungen der IGFM sind im Laufe des Jahres 2001 alle bedeutenden Persönlichkeiten der buddhistischen, evangelischen und der katholischen Religionsgemeinschaften sowie der Hoa-Hao-Religion in Vietnam - ohne Gerichtsverfahren - inhaftiert oder unter Hausarrest gestellt worden. Versammlungen von Religionsgemeinschaften seien von der Volkspolizei und der Armee "brutal aufgelöst" worden. Aus Protest gegen die religiöse Unterdrückung haben sich im Jahre 2001 zwei Buddhisten selbst verbrannt.
"Besonders rigide war das Vorgehen der Behörden gegen Gläubige der verbotenen Vereinigten Buddhistischen Kirche Vietnams (VBKV), deren führende Vertreter nach wie vor unter Hausarrest standen" - so ai-Jahresbericht 2005, S. 358.
Nach neuesten Berichten und Pressemitteilungen werden Gläubige, vor allem aber Christen, in Vietnam misshandelt, schikaniert und gefoltert (vgl. Radio Vatikan v. 21.9.2005: "Abschwören oder fliehen"; Kath.net v. 27.10.2005: "Christen nach geheimen Anweisungen der KP verfolgt"; Jesus.ch v. 7.10.2005: "Grenzschutzsoldaten misshandeln Christen"). In einer Meldung des "Radio Vatikan", asianews, v. 21.9.2005 heißt es:
"Behörden in der Provinz Yuang Nai haben die Häuser von vier christlichen Familien zerstört, weil diese sich weigerten, ihrem Glauben abzuschwören. Das meldet die Nachrichtenagentur asianews. Nach ihren Angaben ist in Vietnam weiter eine richtiggehende Christenverfolgung in Gang."
Schüler eines Pfarrers sollen wegen ihres Engagements "bereits mehrmals verhaftet, zusammengeschlagen und gefoltert" worden, "um falsche Geständnisse zu erpressen". Politisches, soziales oder sonstiges Engagement ist den Religionsgemeinschaften daher inzwischen strikt untersagt und wird staatlich verfolgt. Vgl. insoweit auch das Schicksal des religiösen Truong Vinh Chau, der im August 2005 in die USA ausreisen konnte (Jesus.ch v. 25.8.2005). Vgl. auch schon ai-Jahresbericht 2004 S. 417.
Da der Kläger evangelischer Christ ist, also einem Glauben anhängt, der von der kommunistischen Führung in Vietnam ebenso wenig toleriert wird wie jeder andere Glaube, ist er in besonderem Maße bedroht. Das kommunistische Regime betrachtet offenbar Gläubige als Abtrünnige. Hierbei verbietet sich eine Unterscheidung nach öffentlichem und privatem Bereich religiöser Betätigung, weil ein öffentlicher Bereich in der Richtlinie 2004/83/ EG nicht mehr gesondert genannt wird (vgl. VGH Baden-Württ. InfAuslR 2005, S. 296/S. 298).
Der Kläger dürfte im Hinblick auf seinen christlichen Glauben und seine AsylantragsteIlung somit als Andersdenkender, als "Abtrünniger" angesehen werden (vgl. insoweit auch VG Meiningen, B. v. 18.6.2002 - 2 E 20341/02.Me -).
4.6 Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung - Dezember 2005 - stellt sich im Übrigen die Sach- und Rechtslage gegenüber dem Zeitpunkt der bundesamtlichen Verwaltungsentscheidung des Jahres 2003 so dar, dass sich die Verhältnisse in Vietnam sehr deutlich verschärft haben (s.u.). Weiterhin ist inzwischen die Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG und das Zuwanderungsgesetz vom 30. Juli 2004 (BGBl. Teil I 2004, S. 1950) beachtlich.
Bei der individuellen Prüfung aller Angaben des Klägers sowie seiner allgemeinen und persönlichen Umstände ergibt sich, dass der Kläger sich um einen kohärenten und im Kern sehr plausiblen Vortrag hinsichtlich seiner Erlebnisse noch in Vietnam sowie seines exilpolitischen Einsatzes für Demokratie und Religionsfreiheit in Deutschland bemüht hat, so dass insgesamt die Glaubwürdigkeit des Klägers festgestellt werden kann (Art. 4 Abs. 5 Richtlinie). Damit bedürfen die Angaben und Aussagen des Klägers, der in der mündlichen Verhandlungen einen überzeugenden Eindruck hinterließ, keines weiteren Nachweises (Art. 4 Abs. 5 der gen. Richtlinie; vgl. BVerwGE 55, 82).
4.6.1 Für die Frage, ob staatliche Maßnahmen auf die "politische Einstellung des Betroffenen" abzielen und sich als Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG darstellen, kommt es auf die "Gesamtverhältnisse im Herkunftsland" an sowie auf dortige Veränderungen. Somit ist eine Bedrohungslage - unter Berücksichtigung der EMRK und der gen. Richtlinie 2004/83/EG - im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG schon bei einer Gesamtschau (Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung Bd. 2 / Std. Sept. 2000, § 71 Rdn. 88) gegeben (Art. 4 Abs. 3 a der gen. Richtlinie 2004/83/EG; VG Gießen, NVwZ 1997, Beilage Nr. 9, S. 69 f). Diesbezüglich kann auf die bisherige Rechtsprechung der Kammer Bezug genommen werden (vgl. u.a. Urteile v. 7.9.2005 - 1 A 240/02 - und v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -), wobei folgendes betont sei:
Es reicht methodisch nicht aus, für eine Gesamtschau lediglich die Lageberichte des Auswärtigen Amtes in den Blick zu nehmen. Denn "Vietnam gehört zu den Schwerpunktländern der deutschen entwicklungspolitischen Zusammenarbeit (EZ)", "Deutschland ist einer der größten bilateralen Geber Vietnams" (so die ständig aktualisierte Darstellung des Auswärt. Amtes zu den deutsch-vietnamesischen Beziehungen / Stand: Juli 2005). Hiervon abgesehen berücksichtigt z.B. der jüngste Lagebericht des AA vom 28.8.2005 nach eigener Darstellung weder den ai-Jahresbericht 2005 (Vietnam, S. 356) noch denjenigen des US-Department of State, Country Reports on Human Rights Practices 2004 - Vietnam - v. 28. Febr. 2005. Vielmehr werden vom Auswärtigen Amt anstelle der aktuellen Berichte nur die jeweils älteren Berichte des Vorjahres einbezogen. Der Menschenrechtsreport 38 der "Gesellschaft für bedrohte Völker" - GfbV - v. 28. April 2005 und der IGFM-Jahres-bericht 2004 werden weder erwähnt noch verwertet. Es ist fraglich, ob sonstige Presseberichte berücksichtigt sind. Damit ist die Aussagekraft der Lageberichte des AA stark eingeschränkt, da die neuere Entwicklung in Vietnam, wie sie von anderen Seiten berichtet wird, nur sehr unzureichend wahrgenommen und dargestellt ist.
Somit müssen gerade mit Blick auf die besonderen Beziehungen zwischen Deutschland und Vietnam und die unzureichende Aussagekraft der Lageberichte des AA auch andere Erkenntnisse - nach Möglichkeit solche aus einer breit gestreuten Vielfalt von Quellen - in eine richterlich ausgewogene Bewertung einbezogen und ausgewertet werden.
Selbst nach den letzten Lageberichten des AA (v. 28.8.2005 und v. 12.2.2005) ist es jedoch so, dass regierungskritische Aktivitäten in Vietnam nicht nur mit "größter Aufmerksamkeit", sondern ggf. sogar eben auch mit polizeilich-justiziellen Maßnahmen "verfolgt", öffentliche Kritik an Partei und Regierung und die Wahrnehmung von Grundrechten nicht toleriert werden und Dissidenten Repressionen seitens der Regierung ausgesetzt sind. Aktive Gegner des Sozialismus können nach den weit gefassten und (willkürlich) weit verstandenen Vorschriften jederzeit inhaftiert und bestraft werden. Amnestien des Jahres 2005 (vgl. dazu die Pressemitteilung des AA v. 8.9.2005) verweisen insoweit "nicht auf einen grundsätzlichen Wandel" in Vietnam (ebenso Lagebericht AA v. 28.8. 2005).
Für die erforderliche Gesamtschau und -bewertung ist die Einschätzung von Sachkennern, Gutachtern und Beobachtern der vietnamesischen Verhältnisse zu berücksichtigen, die in den jüngeren Urteilen der Kammer dargestellt ist (vgl. z.B. Urteile v. 7.9.2005 - 1 A 240/02 - und v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -). Darauf kann hier Bezug genommen werden.
Das Engagement eines Einzelnen ist in Vietnam offenkundig nur ein Anknüpfungspunkt für staatliche (Gegen-) Aktionen, Reaktionen und Repressionen. Politische Opposition wird nämlich in Vietnam in gar keiner Weise toleriert: "Dissidenten sind Repressionen seitens der Regierung ausgesetzt" (so Lagebericht AA v. 28.8.05 und v. 12.2.05, S. 5). Insoweit ist heute - 2005 - zu berücksichtigen, dass sich Vietnam inzwischen "als eines der repressivsten Regime in Asien" erwiesen hat (so D. Klein in "Aus Politik und Zeitgeschehen", hrsg. v. d. Bundeszentrale für politische Bildung, B 21-22/2004, S. 5):
"Vietnam erwies sich auch 2003 als eines der repressivsten Regime in Asien...; offene Gewalt auf der Straße, Telefonterror und willkürliche Verhaftungen sind an der Tagesordnung. Vietnam gehört zweifellos zu den schlimmsten Feinden der Menschenrechte und Unterdrückern der Pressefreiheit in Südostasien" (Klein, aaO., S. 5)
Inhaftiert oder bestraft werden in Vietnam nicht nur aktive Gegner des Sozialismus und des "Alleinherrschaftsanspruchs der KPV", sondern auch solche, die (möglicherweise fälschlich) nur dafür gehalten werden - woran "auch das neue StGB nichts ändert" (Lageberichte v. 12.2.05 und v. 28.8.05).
"Trotz der wirtschaftlichen Öffnung hat sich die Lage der Menschenrechte nicht gebessert und ist das Land heute von Freiheit und Demokratie weiter denn je entfernt. Noch immer ist Vietnam ein Ein-Parteien-Staat, in dem die Kommunistische Partei einen absoluten Machtanspruch vertritt. Vor allem die Glaubens-, Presse- und Meinungsäußerungs- sowie die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit werden von den vietnamesischen Behörden systematisch verletzt. Auch in den Vereinten Nationen zeigt Hanoi keine Bereitschaft zu einem konstruktiven Dialog über die Defizite bei der Durchsetzung der Menschenrechte im eigenen Land. Ganz im Gegenteil... "
- Progrom/bedrohte Völker, Heft 3/2005, S. 34 -.
Deshalb werden "alle elektronischen und Printmedien des Landes durch die Regierung überwacht, das Internet eingeschlossen" (so Lagebericht v. 12.2.05):
"Dessen Kontrolle wurde durch einen neuen Erlass - gemeinsam unterzeichnet von den Ministerien für Öffentliche Sicherheit, Kultur, Planung und Telekommunikation! - am 14.07.2005 weiter verschärft. Danach müssen die Betreiber von Internet-Cafés (wo die überwältigende Mehrheit der Vietnamesen Zugang zum Internet hat) die Personalien der Nutzer und die von ihnen aufgesuchten Webpages registrieren." (so Lagebericht des AA v. 28.8.05).
Viele Journalisten üben daher "Selbstzensur", so dass sachkundige Berichte über die Verhältnisse in Vietnam nur noch vereinzelt auftauchen.
"Journalisten in Vietnam stehen laut Pressegesetz unter der Staatskontrolle: "Journalisten haben die Aufgabe, die offizielle Linie der Kommunistischen Partei und der Regierung zu propagieren. Alle Informationen müssen dem Interesse des Landes und des Volkes dienen. Journalisten werden mit Geldstrafen belegt, wenn ihre Berichte die legitimen Wirtschaftsinteressen von Organisationen und Einzelpersonen verletzen, selbst wenn die Berichte der Wahrheit entsprechen". Wie oft hat die Regierung Druck auf Journalisten ausgeübt, damit diese wissen, daß nur die Wirtschaft, aber nicht die Politik liberalisiert wird." - so menschenrechte Nr. 2 / 2005, hrg. v. IGFM, S. 25 -
Versuche, mit Flugblättern oder Zeitungen über Sachverhalte zu informieren und eine Resonanz in der Bevölkerung zu erzeugen, "werden strikt unterbunden" (Lagebericht v. 12.2.05,. S. 6) - nach zwei Aufständen: Den vom Februar 2001, in dessen Folge zahlreiche Menschen nach Kambodscha und von dort in die USA flohen, und jenen vom April 2004, bei dem es zu 3 Todesopfern kam (Lagebericht AA v. 28.8.2005).
Dabei schreckt die vietnamesische Polizei und Justiz auch vor Folterungen (vgl. Art. 3 EMRK / Verbot der Folter) keineswegs zurück, wie die Meldung der IGFM (kath.net) v. 17.12. 2004 zeigt:
"Mindestens fünf der sechs inhaftierten mennonitischen Christen in Vietnam sind im Gefängnis fortgesetzt misshandelt worden. Zwei vor kurzem freigelassene Mennoniten berichteten der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM), dass auch die infolge von Misshandlung psychisch krank gewordene Le Thi Hong Lien vor Schlägen nicht verschont blieb. Die IGFM wirft der vietnamesische Polizei vor, dass sie in allen ihren Gefängnissen die Gewalt bewusst eingesetzt hat, um falsche Geständnisse zu erzwingen."
Die Verschärfung der Lage in Vietnam zeigt sich auch daran, dass sämtliche Dokumente, die im Zusammenhang mit gerichtlichen Verfahren gegen Personen stehen, denen Verstöße gegen die sog. "nationale Sicherheit Vietnams" zur Last gelegt werden, seit kurzem per Erlass als "Staatsgeheimnisse" eingestuft werden. Im letzten Jahr wurden offiziell über 80 Todesurteile verhängt, davon 64 vollstreckt. Informationen hierüber sind inzwischen ebenfalls zum "Staatsgeheimnis" erklärt worden (ai-Jahresbericht 2005, S. 359), so dass auch darüber nicht mehr offiziell berichtet werden darf.
Gegen diese äußerst negative Gesamteinschätzung spricht nicht, dass einige der aus politischen Gründen inhaftierten Dissidenten aus der Haft entlassen wurden. Denn die allgemeine Menschenrechtslage, wie sie von sachkundigen Beobachtern der Lage in Vietnam beurteilt wird, hat sich dadurch nicht grundlegend verändert. Diese Einschätzung wird auch im Lagebericht des AA v. 28.8.05 geteilt.
Der vietnamesische Staat unternimmt bei seinen Verfolgungsmaßnahmen offenbar den Versuch, in den Augen der (Welt-)Öffentlichkeit weiterhin geachtet zu werden:
"In mehr als einhundert Fällen konnte nachgewiesen werden, daß die Polizei die Demonstranten bei Tage ungestört demonstrieren ließ und sie dann im Laufe der Nacht aufgriff. Mindestens 14 Personen wurden wegen "Landstreicherei" zwischen vier und fünfzehn Tagen eingesperrt."
- so menschenrechte Nr. 2 / 2005, S. 22 -
4.6.2 Soweit die Beklagte daran festhält, dass erst ab einer erhöhten Tätigkeitsschwelle mit einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bei einer Rückkehr nach Vietnam zu rechnen sei, entspricht das zum einen nicht mehr den neueren Verhältnissen und steht das zum andern im Widerspruch zu Art. 10 Abs. 1 e) der Richtlinie 2004/83/EG, derzufolge es "unerheblich" sein soll,
"ob der Antragsteller aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist."
Soweit in diesem Zusammenhang darauf verwiesen wird, eine Einreiseverweigerung sei wahrscheinlicher als eine Verfolgung in Vietnam (OVG Weimar, Urt. v. 2.8. 2001 - 3 KO 279/99 -), ist zu betonen, dass auch eine Verweigerung der Einreise als politische Verfolgung zu werten wäre. Vgl. insoweit das VG Magdeburg, Urt. v. 30.1.2002 - 9 A 155/02 -
"Die Verweigerung der Wiedereinreise stellt für den Kläger politische Verfolgung dar. In der Rechtsprechung des BverwG ist geklärt, dass die Verweigerung der Wiedereinreise, soweit sie an asylerhebliche Merkmale anknüpft, politische Verfolgung darstellen kann, denn der Staat entzieht seinem Staatsbürger hiermit wesentliche staatsbürgerliche Rechte und grenzt ihn so aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit aus."
Im Übrigen kommt es auf eine solche Verweigerungshaltung des vietnamesischen Staates nicht an. vgl. insoweit VG München, Urt. v. 13.8.2003 - M 17 K 03.50661 - Asylmagazin 2003, S. 30:
Die Auffassung des Auswärtigen Amtes, vor einer Bestrafung sei mit der Verweigerung der Einreise zu rechnen, spielt keine Rolle. Das Gericht hat die Verfolgungswahrscheinlichkeit für den Fall einer tatsächlichen Rückkehr zu beurteilen."
Unmaßgeblich für die vorliegende Entscheidung ist, ob die exilpolitischen Betätigungen von Auslandsvietnamesen und deren Kritik am vietnamesischen Regime in Vietnam wahrgenommen werden und dort ggf. eine mehr oder weniger "breite Öffentlichkeitswirkung" entfalten bzw. einen "nennenswerten Einfluss auf die Öffentlichkeit" haben: Entscheidend sind allein die Ängste und Befürchtungen des vietnamesischen Regimes im Falle der Rückkehr von Exilvietnamesen nach Vietnam.
Das Regime bekämpft in Vietnam ganz offenkundig schon die abweichende Gesinnung und politische Einstellung Einzelner (vgl. die dafür geschaffenen "Umerziehungslager", die jenen in Nordkorea ähneln - ai-journal 10/2005 S. 32), ohne hierbei darauf abzustellen, in welchem Maße deren Engagement oder abweichende Gedanken bereits von Deutschland aus irgendeine Breitenwirkung erzielt haben. Es geht nicht nur um einen "Gesichtsverlust" des vietnamesischen Regimes, sondern nach zwei Aufständen (Februar-Aufstand 2001 und April-Aufstand 2004) offensichtlich um die Abwehr freiheitlicher Meinungen und Bestrebungen, die in Vietnam schon von ihrer "Wurzel an" bekämpft werden. Aktive und überzeugte (Gesinnungs-)Gegner des Sozialismus und des Alleinherrschaftsanspruchs der KP müssen stets mit Verfolgungsmaßnahmen rechnen und sind daher gefährdet (Lagebericht AA v. 28.8. 2005). Deshalb ist freiheitliches Denken bereits "verboten", deshalb sind die Parallelen zu Nordkorea unübersehbar. Gläubige, die den bloßen Verdacht erweckt haben, im Zusammenhang mit ihrer Religionsausübung oppositionelle Bestrebungen (nur) "zu unterstützen", werden "inhaftiert bzw. müssen mit ihrer Inhaftierung und Strafverfolgung rechnen" (so Urteil des VG Schwerin v. 27.2.2004 - 1 A 1580/01 As -). Das Regime befürchtet, Exilvietnamesen könnten in Vietnam - sind sie erst einmal in ihr Heimatland zurückgekehrt - Gedanken über Demokratie, Freiheit und Pluralismus großflächig in der vietnamesischen Bevölkerung verbreiten. Deshalb kommt es auf eine Öffentlichkeits- und Breitenwirkung von Deutschland aus nicht an.
4.6.3 Die dem Kläger als einem "Andersdenkenden" bei einer Rückkehr nach Vietnam drohenden Maßnahmen der vietnamesischen Sicherheitskräfte dürften seine leibliche Unversehrtheit, seine physische Freiheit sowie seine Versammlungs- und Meinungsfreiheit und vor allem seine "politische Überzeugung" zum Gegenstand haben (Art. 10 Abs. 1 e der Richtlinie). Er ist in Deutschland in vielfacher und mehrfacher Hinsicht exilpolitisch aktiv gewesen und noch aktiv (vgl. die im Verfahren vorgelegten Unterlagen und Fotos), was den vietnamesischen Sicherheitskräften nicht verborgen geblieben sein dürfte. Er hat an vielen exilpolitischen Tätigkeiten teilgenommen und war bei zahlreichen Demonstrationen dabei. Auf diese Weise ist er den vietnamesischen Sicherheitskräften bekannt, ist er als "Abweichler" und Dissident bereits erfasst und registriert.
Hierbei ist es unter Berücksichtigung der gen. Richtlinie "unerheblich", ob der Kläger aufgrund seiner "Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung" in irgendeiner Weise "tätig geworden ist". Auch die politische Überzeugung Andersdenkender ist gem. Art. 10 der Richtlinie 2004/ 83/EG schon als solche geschützt (vgl. dazu UNHCR-Richtlinie zum internationalen Schutz v. 7.5.2002 / HCR/GIP/ 02/01 Rdn. 32).
Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung glaubwürdig dargestellt, dass sein Engagement und seine Teilnahme an Demonstrationen (vgl. die diversen Bescheinigungen in den Akten und Beiakten) letztlich darauf abzielen, eine pluralistische Demokratie mit mehr Menschenrechten und mehr Freiheit - vor allem auch Religionsfreiheit - in Vietnam zu erreichen. Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, dass all diese Tätigkeiten des Klägers in Vietnam als eine den Staat "zersetzende Propaganda" eingeschätzt werden dürfte.
Zu Recht ist der Kläger daher der Meinung, dass man ihm diese Aktivitäten bei einer Rückführung nach Vietnam vorhalten werde, er im Falle der Rückkehr inhaftiert und eingesperrt werde (S. 3 d. Protokolls v. 1.12.2005). Dabei kann davon ausgegangen werden, dass der Kläger bei Demonstrationen gefilmt worden ist, die Botschaft also weiß, wer er ist und was er denkt. Auch seine Vermutungen zu Informanten dürften zutreffen. Als ein evangelischer Christ und überzeugter Anhänger einer demokratisch-freiheitlichen Gesellschaftsform ist er daher in einem sehr hohen Maße gefährdet. Der Kläger wird im Hinblick auf sein Demonstrationsverhalten wie im Übrigen auch durch seine AsylantragsteIlung somit als aktiver Regimegegner, und Dissident angesehen werden. Als solcher ist er iSv § 60 Abs. 1 AufenthG bedroht.
4.6.4 Weiterer Anknüpfungspunkt für Verfolgungsmaßnahmen gegen den Kläger ist die Tatsache, dass es in Vietnam sog. "administrative Haftstrafen" auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2. 1999) gibt. Auch dieser Aspekt ist in den jüngeren Urteilen der Kammer dargestellt worden, so dass darauf verwiesen werden kann (vgl. z.B. Urt. v. 22.9.2005 - 1 A 32/02 -).
4.6.5 Aufgrund dieser vielschichtigen Situation Vietnams ist eine Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden nicht abzugeben - zumal ein politisch begründeter Entscheidungsspielraum einschließlich offener Willkür gegenüber unangepassten Andersdenkenden oder Oppositionellen bzw. solchen, die dafür nur gehalten werden, gerade bei Justizakten zum Staats- und Selbstverständnis Vietnams gehört. "An der Tatsache, dass die Justiz faktisch Partei und Staat unterstellt ist, hat die Reform jedoch nichts geändert" (Lagebericht v. 28.8.2005).
Demgemäss hat auch das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 22. Nov. 2005 - 2 BvR 1090/05 - den Vortrag der vietnamesischen Beschwerdeführerin zu einem gravierenden Mangel an Rechtsstaatlichkeit in Vietnam als entscheidungserheblich bewertet und u.a. ausgeführt:
"...Eine solche Prüfung ist geboten, wenn hinreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Beschwerdeführerin in Vietnam ein Verfahren droht, das gegen unabdingbare, von allen Rechtsstaaten anerkannte Grundsätze und damit gegen den völkerrechtlich verbindlichen Mindeststandard im Sinne des Art. 25 GG verstößt und die Tatverdachtsprüfung darüber Aufschluss geben kann (vgl. ...). Völkerrechtliche Mindeststandards könne auch verletzt sein, wenn im Strafverfahren eine Aussage als Beweis verwendet wird, die unter Folter erpresst wurde (vgl...). "
4.6.6 Auf die Rückführungsabkommen aus den 90er-Jahren kommt es heute nicht mehr an: Der Sachverständige Dr. Will hält an seiner Auffassung fest, dass Rückkehrer nach öffentlicher Kritik am vietnamesischen Regierungssystem in aller Regel auch mit Verfolgung rechnen müssen (vgl. Dr. Will im Gutachten v. 11.2.2003; vgl. auch Dr. Will v. 14.9. 2000, S. 1). Auch der Sachverständige Dr. Weggel (Stellungn. v. 10.8. 2003 an VG Darmstadt) ist der Ansicht, dass das Rückübernahmeabkommen von 1995 (nebst Briefwechsel) sich "als Schlag ins Wasser erwiesen" und die "vietnamesische Regierung der Rückführung jedes nur mögliche Hindernis in den Weg" gelegt habe: "Beim Besuch der BMZ-Ministerin in Hanoi (Oktober 2000) wurde das Abkommen von 1995 nicht einmal noch der Erwähnung für wert befunden." Die "völkerrechtlichen Verpflichtungen" sind damit, da sie in Vietnam missachtet werden, bedeutungslos. Vgl. dazu ai-Jahresbericht 2003 u. Lagebericht des AA v. 1.4.2003: "Aushöhlung" des Dreierabkommens UNHCR-Vietnam-Kambodscha durch den vietnamesischen Staat, Vereinbarung eines "Memorandum of Understanding" (MOU) v. 25.1.2005 (Lagebericht AA v. 28.8.05).
Im Übrigen mag es sein, dass eine explizite Bestrafung speziell nur "wegen ungenehmigter Ausreise" in Vietnam nicht stattfindet, so wie das den Abkommen der 90er-Jahre zugrunde liegt. Jedoch werden Ausgrenzungs- und Verfolgungsmaßnahmen bis hin zu Strafen wegen abweichender Gesinnung, wegen eines Glaubens, wegen unliebsamer Meinungsäußerungen, politischer Betätigung usw. ergriffen.
Unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände ist es daher prognostisch beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Vietnam "bedroht" ist (§ 60 Abs. 1 AufenthG). Er ist folglich als Flüchtling iSv § 3 AsylVfG anzuerkennen.
5. Eine Entscheidung zu Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 AufenthG kann im Hinblick auf die zuvor dargestellte Entscheidung zu § 60 Abs. 1 AufenthG unterbleiben (§ 31 Abs. 3 S. 2 Nr. 2 AsylVfG analog). Die Abschiebungsandrohung ist insoweit rechtswidrig, als eine Abschiebung nach Vietnam angedroht worden ist (§ 59 Abs. 3 AufenthG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.