Landessozialgericht Niedersachsen
Beschl. v. 11.07.2001, Az.: L 3 KA 15/01

Zulassung zur Teilnahme an der Vereinbarung über die Behandlung chronisch schmerzkranker Patienten; Schmerz als selbständiger Krankheitswert; Erwerb des Status als "schmerztherapeutisch tätiger Arzt"; Fehlen notwendiger Angaben zur Anamnese und zum Behandlungsverlauf bei einer geforderten "ausführlichen" Dokumentation eines Behandlungsfalles

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
11.07.2001
Aktenzeichen
L 3 KA 15/01
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2001, 15876
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2001:0711.L3KA15.01.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 17.01.2001 - AZ: S 16 KA 1342/98

Prozessführer

XXX

Prozessgegner

Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen, D.,

hat der 3. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle

am 11. Juli 2001

durch

den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht E.,

die Richterin am Landessozialgericht F. und

den Richter am Landessozialgericht G.

beschlossen:

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Der Kläger hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Beklagten auch im Berufungsverfahren zu erstatten.

Gründe

1

I.

Der Kläger begehrt die Zulassung zur Teilnahme an der Vereinbarung über die Behandlung chronisch schmerzkranker Patienten (Schmerztherapie-Vereinbarung, gültig ab 1. Juli 1997, Heft 23 S. 1277).

2

Der Kläger ist als Urologe und Chirurg in H. niedergelassen und zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen. Im April 1998 stellte er einen Antrag auf Teilnahme an der Schmerztherapie-Vereinbarung gemäß der Übergangsbestimmung in § 10 Abs. 3 dieser Vereinbarung.

3

Mit Bescheid vom 6. Juni 1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27. November 1998 lehnte die Beklagte diesen Antrag insbesondere mit der Begründung ab, dass der Kläger keine die Anforderungen des § 2 Nr. 8 der Schmerztherapie-Vereinbarung genügende Dokumentation über die Behandlung von mindestens 100 Schmerzpatienten vorgelegt habe.

4

Mit seiner am 23. Dezember 1998 erhobenen Klage hat der Kläger demgegenüber geltend gemacht, dass die von ihm vorgelegten Befunddokumentationen allen Anforderungen der Vereinbarung entsprächen.

5

Mit Urteil vom 17. Januar 2001, dem Kläger zugestellt am 15. Februar 2001, hat das Sozialgericht (SG) Hannover die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere dargelegt, dass die von dem Kläger vorgelegten Dokumentationen den Anforderungen der Schmerztherapie-Vereinbarung nicht genügen würden. So fehlten die Namen und Adressen des Hausarztes und des überweisenden Arztes praktisch immer. Die Anamnesebögen seien in der Regel nicht komplett ausgefüllt. Namentlich fehlten gelegentlich die erforderlichen Angaben bezüglich der Hauptschmerzen. Hinsichtlich der Angaben zu den bisherigen Behandlungen fehle in praktisch jedem Fall die Angabe des Zeitraumes der vorherigen Behandlung und Details zu ihrer konkreten Durchführung. Auch fehlten regelmäßig nähere Angaben zum zeitlichen Ablauf der von dem Kläger selbst durchgeführten Behandlung; auch die Wirkung der eigenen Medikation sei nur unzureichend dokumentiert. Darüber hinaus fehlten häufig Angaben über Operationen und Krankenhausaufenthalte der Patienten; auch eine differenzialdiagnostische Abklärung der Beschwerden seien nicht dokumentiert.

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Zusammenfassend ließen sich die von dem Kläger vorgelegten Dokumentationen dahingehend bewerten, dass sie zwar "sehr gute" Dokumentationen für solche Patienten seien, bei denen es auf Grund von (auch chronischen) Erkrankungen immer wieder einmal zu akuten Schmerzzuständen komme. Sie seien jedoch nicht geeignet, für die Behandlung von chronisch schmerzkranken Patienten, bei denen, wie in § 1 Abs. 3 der Schmerztherapie-Vereinbarung beschrieben, der Schmerz seine Leit- und Warnfunktion verloren und selbständigen Krankheitswert erlangt habe.

7

Mit seiner am 6. März 2001 eingelegten Berufung macht der Kläger weiterhin geltend, dass seine Dokumentation den Anforderungen der Schmerztherapie-Vereinbarung in jeder Hinsicht genüge, zumal diese keine nähere Bezeichnung etwaiger Standards der Anfertigung solcher Dokumentationen vorsehe. So habe er den Punkt Verlaufskontrolle unter der Rubrik "therapeutisches Prozedere" behandelt. In dieser Rubrik habe er sich auch mit den psychosozialen und psychosomatischen Aspekten der Erkrankung auseinandergesetzt.

8

Bei der Bewertung der von ihm dokumentierten Anamnese sei zu berücksichtigen, dass in der Regel bei seinen Patienten bereits von den Hausärzten zahlreiche erfolglose Behandlungsversuche durchgeführt worden seien. Schon deshalb sei er "in der Grundtendenz" davon ausgegangen, dass der Patient unter chronischen Schmerzen leide und zur besseren Übersichtlichkeit habe er daher die dokumentierten Informationen beschränkt. Da die Patienten ihn in der Regel ohne Überweisung von seiten eines anderen Arztes aufgesucht hätten, hätten auch zwangsläufig keine Fremdbefunde vorgelegen. Zudem leuchte es nicht ein, eine "offenkundig unrichtige" Fremddiagnose zu dokumentieren, da diese ja "in der Regel" nicht zum Erfolg und zur Schmerzfreiheit geführt habe.

9

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 17. Januar 2001 und den Bescheid der Beklagten vom 6. Januar 1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 27. November 1998 aufzuheben,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, über seinen Antrag auf Teilnahme an der Übergangsregelung der Vereinbarung über die ambulante Behandlung chronisch schmerzkranker Patienten unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senates erneut zu entscheiden.

10

Die Beklagte stellt keinen Antrag.

11

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.

12

II.

Über die vorliegende Berufung entscheidet der Senat nach vorheriger Anhörung der Beteiligten durch Beschluss ohne mündliche Verhandlung gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich erachtet.

13

Die zulässige Berufung hat keinen Erfolg. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die begehrte Teilnahme an der Schmerztherapie-Vereinbarung, da er die in dieser normierten Zulassungsvoraussetzungen nicht erfüllt.

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Der Kläger hat nicht den Status als "schmerztherapeutisch tätiger Arzt" nach der Schmerztherapie-Vereinbarung von 1994 erworben, er erfüllt auch nicht die Voraussetzungen des § 3 der Schmerztherapie-Vereinbarung, namentlich hat er die in Abs. 1 Ziff. 2 dieser Regelung vorgesehene zwölfmonatige Tätigkeit in einer entsprechend qualifizierten interdisziplinären Fortbildungsstätte nicht absolviert. Eine Teilnahme an der Schmerztherapie-Vereinbarung käme daher allenfalls nach der Übergangsregelung des § 10 Abs. 3 in Betracht. Ihr zufolge können Vertragsärzte, die im Bereich der vertragsärztlichen Versorgung bereits schmerztherapeutisch tätig sind, aber noch nicht den Status als "schmerztherapeutisch tätiger Arzt" nach der Vereinbarung von 1994 erworben haben und die Bedingungen des § 3 nicht erfüllen, die Genehmigung zur Inanspruchnahme der Kostenerstattungsregelungen erhalten, wenn sie innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten der Schmerztherapie-Vereinbarung, d. h. bis zum 30. Juni 1998 (vgl. § 10 Abs. 1 der Vereinbarung), nachweisen, dass sie die Voraussetzungen der §§ 4 und 5 der Schmerztherapie-Vereinbarung erfüllen und erfolgreich an einem Kolloquium gemäß den Richtlinien der Kassenärztlichen Bundesvereinigung für Verfahren zur Qualitätssicherung nach § 135 Abs. 3 SGB V vor der für die Kassenärztliche Vereinigung jeweils zuständigen Schmerztherapie-Kommission teilgenommen haben (Nr. 2) und eine den Anforderungen gemäß § 2 Nr. 8 genügende Dokumentation über die Behandlung von 100 schmerzkranken Patienten vorlegen. Die dabei in Bezug genommene Regelung des § 2 Nr. 8 der Vereinbarung sieht vor, dass bei der Versorgung Schmerzkranker eine ausführliche Dokumentation jedes Behandlungsfalles einschließlich standardisierter Anamnese und Behandlungsverlauf mit Angaben zu

15

  • Art und Schwere der Erkrankung
  • psychosomatischen Auswirkungen und Verlauf
  • therapeutischen Maßnahmen
  • Kontrolle des Verlaufes nach standardisierten Verfahren

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erstellt wird.

17

Eine diesen Anforderungen genügende Dokumentation über die Behandlung von mindestens 100 schmerzkranken Patienten hat der Kläger jedoch nicht vorgelegt. Der Senat teilt die Auffassung der Beklagten und des SG, dass die von dem Kläger vorgelegten Dokumentationen den vorstehend beschriebenen Anforderungen nicht genügen. Obwohl die Schmerztherapie-Vereinbarung ausdrücklich eine "ausführliche" Dokumentation fordert, fehlen in den vom Kläger vorgelegten Unterlagen bereits elementare Angaben zur Anamnese und zum Verlauf der Behandlung. Dies sei beispielhaft an nachfolgend dargestellten Fällen erläutert:

18

Fall 52 (A. K., geboren 1968): Die Frage Nr. 19 b in dem vom Kläger verwandten Fragebogen nach dem "Hauptschmerz" ist in diesem Fall - wie auch in vielen anderen Fällen - nicht beantwortet worden. Damit hängen die Angaben zu den Fragen 21, 22, 24, 25, 26, 27, 31 und 32, die sich jeweils auf den "Hauptschmerz" beziehen, letztlich in der Luft, da nicht klar wird, auf welchen der insgesamt fünf unter Frage 19 a angekreuzten Schmerzbereiche sich die Angaben beziehen sollen. Zur Frage psychopathologischer Auswirkungen findet sich nur der keinen konkreten Inhalt aufweisende vage Hinweis auf eine "psychische Belastungssituation". Der Kläger gibt an, dass er "als Dauermedikation über Monate" zwei Tabletten Remotiv für die Nacht verordnet habe; diesbezüglich ist aber die nach § 2 Nr. 8 ausdrücklich erforderliche Kontrolle des Verlaufes nach standardisierten Verfahren ausweislich der vorgelegten Dokumentation überhaupt nicht erfolgt. Ohnehin ist weder bei dieser Patientin noch in den anderen vorgelegten Dokumentationen im Einzelnen festgehalten worden, an welchen Tagen welche Behandlungsmaßnahme ergriffen worden ist, obwohl dies im Rahmen einer "ausführlichen Dokumentation" eines Behandlungsfalles auf jeden Fall zu fordern ist.

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Fall 53 (M. E., geboren 1965): Die entscheidende Dokumentation des Behandlungsverlaufes einschließlich seiner Kontrolle nach standardisierten Verfahren ist ebenfalls völlig unzulänglich. In der Sparte "Verlauf" findet sich zunächst lediglich das nicht näher erläuterte Schlagwort "Entspannung". Es folgen Angaben zu einer Medikation und ein Hinweis, dass"später" ein psychotherapeutisches Gespräch durchgeführt werden soll. Welche psychosomatischen Auswirkungen für den Plan einer solchen psychotherapeutischen Behandlung den Ausschlag gegeben haben sollen, bleibt unklar. Ebenso wird nicht näher erläutert, wie im Einzelnen sich das Krankheitsbild im Laufe der Behandlung verändert hat.

20

Im Fall 54 (B. B., geboren 1939) weist die vorgelegte Dokumentation schon deshalb nicht den erforderlichen Grad an Ausführlichkeit auf, weil ausweislich ihrer die Behandlung von dem Patienten "mangels Einsichtsfähigkeit" abgebrochen wurde, ohne dass auch nur ansatzweise näher erläutert wird, in welcher Hinsicht es dem Patienten an der erforderlichen Einsichtsfähigkeit gemangelt haben soll und welche therapeutischen Maßnahmen der Kläger zur Behebung dieses Defizits ergriffen haben will. Auch der Hinweis, dass der Patient "depressiv wirke", ist nicht näher erläutert worden, namentlich fehlen konkrete Erhebungen zu den psychosomatischen Auswirkungen der Erkrankung.

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Entsprechendes gilt im Fall 55 (H.-L. K., geboren 1946), in dem der Kläger "zur Besserung der Stimmungslage" als "Dauertherapie über Monate" ein Medikament verordnet hat, ohne den eine solche Medikation rechtfertigenden psychosomatischen Befund im Einzelnen darzulegen und den Verlauf dieser Behandlung näher zu dokumentieren. Es findet sich zwar der abschließende Hinweis "Therapiekontrolle in acht wöchentlichen Abständen", die Dokumentation lässt aber die entscheidende Frage völlig offen, zu welchen Ergebnissen diese Kontrolltermine geführt haben und inwieweit gegebenenfalls die Therapie auf Grund ihrer geändert worden ist.

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Nicht minder dürftig ist die Dokumentation im Fall 56 (G. N., geboren 1931): Die Darstellungen des Klägers enden mit dem "Behandlungsvorschlag": "TENS (100 Hz, untere LWS), Krankengymnastik." Es bleibt jedoch völlig offen, ob diese Maßnahmen überhaupt ergriffen worden sind, ggf. zu welchem Erfolg sie geführt haben und wie sich das Beschwerdebild auf Grund ihrer Anwendung verändert hat.

23

Die vorstehend nur beispielhaft beschriebenen Mängel zeigen sich bei einer Vielzahl der vom Kläger dokumentierten Behandlungsfälle. Diese sind daher von vornherein nicht geeignet, die Voraussetzungen des § 10 Abs. 3 Ziff. 1 der Schmerztherapie-Vereinbarung zu erfüllen.

24

Darüber hinaus geben die dokumentierten Darstellungen vielfach nicht klar zu erkennen, ob die jeweils behandelten Patienten überhaupt als Schmerzpatienten im Sinne der Schmerztherapie-Vereinbarung zu qualifizieren sind. Nach § 1 Abs. 3 der Vereinbarung sind als chronisch schmerzkrank nur solche Patienten zu qualifizieren, bei denen der Schmerz seine Leit- und Warnfunktion verloren und selbständigen Krankheitswert erlangt hat. In diesen Fällen führt das Schmerzleiden zu psycho-pathologischen Veränderungen (Satz 2). Der Patient erhebt den Schmerz zum Mittelpunkt seines Denkens und Verhaltens (Satz 3). Dadurch wird er seinem sozialen Umfeld entfremdet, was zu einer Vertiefung des psycho-pathologischen Krankheitsbildes oder zum algogenen Psychosyndrom führen kann (Satz 4). Ferner sind als chronisch schmerzkrank solche Patienten zu qualifizieren (§ 1 Abs. 4 der Schmerztherapie-Vereinbarung), bei denen im Rahmen eines inkurablen Grundleidens der Schmerz zum beherrschenden Symptom geworden ist. Demgegenüber wird die Behandlung anderer chronisch kranker Patienten auch dann nicht von der Schmerztherapie-Vereinbarung erfasst, wenn die Erkrankung mit Schmerzen verbunden ist. Für die nach § 2 Ziff. 8 der Vereinbarung zu erstattende Dokumentation bedeutet dieser Grundansatz, dass aus ihr mit der erforderlichen Klarheit hervorgehen muss, ob ein Fall einer chronischen Schmerzerkrankung im Sinne des § 1 Abs. 3 oder 4 der Vereinbarung vorliegt oder ob es sich um ein sonstiges (chronisches) Krankheitsgeschehen mit Schmerzen handelt. Schon von diesem Ausgangspunkt her bedarf es nicht nur hinsichtlich des somatischen Zustandes einer präzisen Befunderhebung, sondern auch hinsichtlich der psychischen und psychosomatischen Auswirkungen der Schmerzen. Der Kläger hat sich in seinen Dokumentationen vielfach jedoch damit begnügt, den körperlichen Zustand des Patienten im Einzelnen zu beschreiben, hinsichtlich der psychischen Komponente finden sich in vielen Fällen allenfalls recht vage Hinweise zu den von ihm erhobenen Befunden. Mithin kann in vielen Fällen gar nicht abschließend geklärt werden, ob alle von dem Kläger angeführten Patienten überhaupt als Schmerzkranke im Sinne des § 1 Abs. 3 oder 4 der Schmerztherapie-Vereinbarung zu qualifizieren sind.

25

In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen besteht kein Anlass, auf die weiteren zwischen den Beteiligten streitigen Punkte einzugehen.

26

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.