Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 24.07.2001, Az.: L 3 P 6/01

Leistungen der Sozialen Pflegeversicherung; Voraussetzungen für eine Zuordnung zur Pflegestufe I; Wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen des Pflegegeldberechtigten auf Grund einer Verschlechterung des Krankheitsbildes; Auswertung einer Pflegedokumentation; Feststellung des zeitlichen Pflegeaufwandes und Hilfebedarfs

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
24.07.2001
Aktenzeichen
L 3 P 6/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 39221
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG Oldenburg - 25.01.2001 - AZ: S 91 P 46/00

Prozessführer

XXX

Prozessgegner

Pflegekasse bei der AOK-Die Gesundheitskasse für Niedersachsen, D...,

hat der 3. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle

auf die mündliche Verhandlung vom 24. Juli 2001

durch

den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht E. – als Einzelrichter -

für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung nach Pflegestufe I.

2

Die 1928 geborene Klägerin beantragte bei der Beklagten am 17. Januar 2000 Leistungen der Pflegeversicherung. Die Beklagte veranlasste die Erstattung eines Gutachtens durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Niedersachsen (MDKN). In einem Gutachten vom 03. Februar 2000 stellte der Arzt Dr F. die pflegebegründende Diagnose"fortschreitende Osteoporose mit zunehmender Geheinschränkung und allgemeiner Bewegungseinschränkung; KHK/Belastungsdyspnoe; Va COLD art. Hypertonus, Zn SHF 1998". Zum Umfang der Pflegebedürftigkeit führte er aus, im Bereich der sogenannten Grundpflege habe die Klägerin lediglich beim Duschen und Baden einen Hilfebedarf von täglich jeweils 3 Minuten, beim Ankleiden einen solchen von 5 und beim Entkleiden einen solchen von 3 Minuten. Damit bestehe im Bereich der Grundpflege insgesamt ein Hilfebedarf von 14 Minuten. Mit Bescheid vom 09. Februar 2000 lehnte die Beklagte daraufhin die Gewährung von Leistungen aus der Pflegeversicherung ab.

3

Mit ihrem dagegen erhobenen Widerspruch vom 10. Februar 2000 machte die Klägerin geltend, ihr Gesundheitszustand habe sich in letzter Zeit verändert, ihr müsse täglich ihr Ehemann beim An- und Ausziehen sowie bei der täglichen Körperpflege helfen; dies gelte auch für nächtliche Toilettengänge. Sie könne zudem auch mit ihren Händen nicht mehr richtig zugreifen. Auch das Treppensteigen könne sie ohne Hilfe nicht bewältigen. Zur weiteren Stützung ihres Vorbringens bezog sie sich auf einen Krankenhausbericht des Krankenhauses G. vom 01. Dezember 1999 sowie einen Arztbrief des Radiologen Dr H. vom 2. Januar 2000. Daraufhin veranlasste die Beklagte eine ergänzende Stellungnahme durch den MDKN. In dieser Stellungnahme vom 07. März 2000 führte der Gutachter Dr I. aus, alles in allem habe das Widerspruchsvorbringen neue Gesichtspunkte nicht ergeben. Soweit neuerdings ein Hilfebedarf beim Treppensteigen reklamiert werde, sei dieser bereits in dem Vorgutachten als "nicht pflegerelevant" eingestuft worden, da regelmäßige Arzt- oder sonstige Praxisbesuche nicht stattfänden. Auch aus den vorgelegten medizinischen Unterlagen ergäben sich keine neuen Gesichtspunkte. In einem weiteren Gutachten nach Aktenlage des Dr J. vom 13. März 2000 wurde betont, dass gegen das Gutachten des Dr I. vom 28. Januar 2000 nebst Ergänzung vom 07. März 2000 durchgreifende Einwände nicht zu erheben seien. Der im Widerspruchsverfahren vorgetragene zusätzliche Hilfebedarf bei nächtlichen Toilettengängen, der offenbar zum Zeitpunkt des Hausbesuches durch Dr I. noch nicht vorgelegen habe, führe selbst bei seiner Berücksichtigung bei weitem noch nicht zur Annahme der Pflegestufe I. Nach Auswertung eines von der Klägerin vorgelegten Pflegetagebuchs wies die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 10. Juli 2000 zurück. Zur Begründung bezog sie sich auf die von ihr veranlassten Gutachten des MDKN und wies ergänzend darauf hin, auch unter Berücksichtigung des von der Klägerin vorgelegten Pflegetagebuches würden unter Zugrundelegung der Maßstäbe der Begutachtungs-Richtlinien die Voraussetzungen für die Annahme der Pflegestufe I nicht erfüllt.

4

Vor dem SG hat die Klägerin mit ihrer am 21. Juli 2000 eingegangenen Klage ihr Begehren weiter verfolgt und erneut betont, dass ihr Hilfebedarf durch den MDKN nicht zutreffend erfasst sei. Das SG hat zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts einen Bericht des behandelnden praktischen Arztes Dipl med K. vom 09. Oktober 2000 und eine ergänzende Stellungnahme des Gutachters des MDKN Dr I. vom 23. Oktober 2000 eingeholt. Letzterer ist die Klägerin unter Vorlage eines ärztlichen Attests des Dipl med K. vom 07. Oktober 2000 entgegengetreten.

5

In seiner mündlichen Verhandlung am 25. Januar 2001 hat das SG die Klägerin persönlich und ihren Ehemann als Zeugen gehört und die Klage sodann mit Urteil vom selben Tage abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, im Bereich der Grundpflege habe sich kein Hilfebedarf von mehr als 45 Minuten täglich feststellen lassen. Von vornherein nicht berücksichtigt werden könnten die von der Klägerin reklamierten Hilfen beim Gehen insbesondere bei den nächtlichen Toilettengängen. Wie die Klägerin selbst erklärt habe, könne sie in der Wohnung noch allein gehen. Ohne Belang sei die Angabe des Zeugen, dass er ständig anwesend sein müsse für den Fall, dass die Klägerin stürze. Das bloße Bereithalten zur Hilfeleistung sei nicht berücksichtigungsfähig. Auch Hilfeleistungen beim Treppensteigen könnten keine Berücksichtigung finden, weil nicht erkennbar sei, dass das Treppensteigen für die Grundpflege erforderlich sei. Die Klägerin könne sämtliche Verrichtungen der Grundpflege im Obergeschoss, in dem sich sowohl das Badezimmer als auch die Toilette und die Küche wie auch das Wohnzimmer befänden, vornehmen. Soweit sie in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht habe, dass sie im Erdgeschoss die Wäsche in die Waschmaschine tun und die Toilette aufsuchen müsse, handele es sich dabei um Hilfestellungen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung bzw nicht erforderliche Toilettengänge, da sich auch im Obergeschoss eine Toilette befinde. Auch sei nicht erkennbar, dass der Ehemann der Klägerin bei nächtlichen Toilettengängen behilflich sein müsse. Allein der Umstand, dass er der Klägerin das Licht anmachen müsse, damit diese nicht die Treppe herunter stürze, reiche nicht aus, weil nicht erkennbar sei, dass sich die Klägerin bei Anbringung entsprechender Vorrichtungen (Schalter) nicht selbst helfen könne. Die Darstellung der Klägerin bzw ihres Ehemanns, dass sich ihr Gesundheitszustand seit Oktober 2000 verschlechtert habe, finde in Berichten des behandelnden Arztes Meister keine Entsprechung. Auch im Schriftsatz vom 07. November 2000 sei eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Klägerin nicht erwähnt worden, vielmehr heiße es allgemein, der Gesundheitszustand habe sich im letzten halben Jahr verschlechtert. Diese Angabe sei schwerlich mit dem Hinweis des behandelnden Arztes vereinbar, dass der letzte Hausbesuch im August 2000 stattgefunden habe. Im Übrigen sei bezüglich des Umfangs des Hilfebedarfs darauf zu verweisen, dass die Orientierungswerte in der Pflegebegutachtungs-Richtlinie von Hilfestellungen einer durchschnittlichen, nicht professionellen Pflegekraft ausgingen. Alles in allem sei damit ein täglicher Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege von 45 Minuten nicht erwiesen.

6

Gegen das – am 11. Februar 2001 zugestellte – Urteil hat die Klägerin am 12. März 2001, einem Montag, Berufung eingelegt. Unter Vorlage verschiedener medizinischer Unterlagen ist sie der Auffassung, das Gericht habe einer Verschlimmerung ihres Krankheitsbildes nicht hinreichend Rechnung getragen. Immerhin habe sie ab Oktober 2000 mit einem Rollstuhl versorgt werden müssen. Das SG habe auch Befundberichte des L. vom 04. Dezember 1997 und 03. Juni 1999 sowie die Befundberichte des Dr M. vom 24. Januar 2000 und des Dr N. vom 03. Mai 1998 sowie des Dr O. vom 16. August 2000 zu Unrecht nicht in seine Beurteilung einbezogen. Insbesondere auch ein Bericht der Radiologin Dr P. vom 18. April 2001 sei nunmehr zu berücksichtigen. Schließlich werde auch eine Auswertung der Pflegedokumentation für den Zeitraum vom 08. Mai bis 13. Mai 2001 ergeben, dass der Hilfebedarf die Voraussetzungen für die Annahme der Pflegestufe I erfülle.

7

Die Klägerin beantragt,

  1. 1.

    das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 25. Januar 2001 und den Bescheid der Beklagten vom 09. Februar 2000 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10. Juli 2000 aufzuheben;

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Pflegegeld nach Pflegestufe I ab 17. Januar 2000 zu zahlen.

8

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

9

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Insbesondere verweist sie darauf, dass die in der nunmehr erneut vorgelegten Pflegedokumentation mitgeteilten Zeitansätze entweder keine Berücksichtigung finden könnten oder von ihrem Umfang her nicht nachvollziehbar seien.

10

Die Verwaltungsvorgänge der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand des Verfahrens gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Prozess- und Beiakten ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung ist nicht begründet.

12

Das SG hat zutreffend entschieden, dass der Klägerin Leistungen der Sozialen Pflegeversicherung im Umfang der Pflegestufe I (noch) nicht zustehen.

13

Zur Vermeidung unnötiger Wiederholungen wird auf dieüberzeugenden Ausführungen des angefochtenen Urteils Bezug genommen (§ 153 Abs 2 SGG).

14

Im Berufungsverfahren sind neue Gesichtspunkte, die eine der Klägerin günstigere Entscheidung rechtfertigen könnten, nicht hervorgetreten. Vorab ist erneut zu betonen, dass eine generelle, also nicht auf die Wahrnehmung der in § 14 Abs 4 SGB XI abschließend aufgezählten Verrichtungen des täglichen Lebens bezogene Betreuung und Beaufsichtigung bei der Feststellung des Hilfebedarfs im Sinne des § 14 Abs 1 SGB XI keine Berücksichtigung finden kann (vgl BSG, Urteil vom 19.02.1998 –Az.: B 3 P 11/97 R-), dass vielmehr nur eine konkrete Anleitung, Überwachung und Erledigungskontrolle bei der Wahrnehmung der Verrichtungen des täglichen Lebens Berücksichtigung finden kann. Dabei handelt es sich um solche Unterstützungsmaßnahmen, die die Pflegeperson in zeitlicher und örtlicher Hinsicht in gleicher Weise binden wie bei unmittelbarer körperlicher Hilfe und daher dazu führen, dass die Pflegeperson dadurch an der Erledigung anderer Dinge oder am Schlafen gehindert ist (BSG Urteile vom 24.06.1998 – B 3 P 4/97 R– SozR 3-3300 § 14 Nr 5 und 06.08.1998 – B 3 P 17/97 R – SozR 3-3300 § 14 Nr 6; st Rspr). Ebensowenig ist ein Hilfebedarf darin begründet, dass der Versicherte aufgrund seines Alters, seiner Krankheiten und Behinderungen bei der Wahrnehmung der Verrichtungen des täglichen Lebens längere Zeit benötigt, als dies bei einem Gesunden der Fall ist. Soweit also die Klägerin darauf verweist, dass ihr aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkungen die Wahrnehmung der Verrichtungen des täglichen Lebens zunehmend schwerer falle, kommt es darauf nicht entscheidend an. Entscheidend ist vielmehr allein, ob sie objektiv bei der Wahrnehmung dieser Verrichtungen Hilfe benötigt oder nicht. Dementsprechend kann auch eine aus Fürsorglichkeit erwachsende Zuwendung des Ehemanns mit dem Ziel, der Klägerin die Wahrnehmung der Verrichtungen des täglichen Lebens zu erleichtern, für sich allein keinen Hilfebedarf begründen.

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Soweit die Klägerin im Berufungsverfahren darauf verweist, dass das SG medizinische Unterlagen in seine Beurteilung nicht einbezogen habe, vermag auch dies zu keinem für sie günstigeren Ergebnis zu führen. In dem Gutachten des MDKN vom 03. Februar 2000 sind als pflegebegründende Diagnosen eine fortschreitende Osteoporose mit zunehmender Geheinschränkung und allgemeiner Bewegungseinschränkung sowie herz- bzw kreislaufbedingte gesundheitliche Beeinträchtigungen erwähnt. Daneben werden Ersatz eines Hüftkopfes als Folge eines erlittenen Sturzes, Rippenfrakturen sowie Schmerzen und Schwäche an beiden Händen (auch Handgelenken) ausdrücklich benannt und auch bei der Feststellung des Pflegebedarfs berücksichtigt. Bei der Bewertung eines krankheitsbedingten Hilfebedarfs ist allgemein darauf zu verweisen, dass nicht die Schwere einer Erkrankung oder Behinderung sondern allein der aus der konkreten (krankheits- bzw behinderungsbedingten) Funktionseinschränkung resultierende Hilfebedarf in Bezug auf die gesetzlich definierten Verrichtungen als Grundlage der Bestimmung der Pflegebedürftigkeit dient (vgl Richtlinien de Spitzenverbände der Pflegekassen zur Begutachtung von Pflegebedürftigkeit nach dem Elften Buch des Sozialgesetzbuches –SGB XI- unter D.5.). Es besteht kein nachvollziehbarer Grund zu der Annahme, dass der Gutachter des MDKN die krankheitsbedingten Funktionsdefizite in seine Beurteilung des Hilfebedarfs nicht angemessen einbezogen haben sollte. Auch die im Berufungsverfahren vorgelegten medizinischen Unterlagen, die abgesehen von den Berichten des Dr O. vom 16. August 2000 und der Dr P. vom 18. April 2001 aus der Zeit vor der Begutachtung durch den MDKN entstammen, geben dazu keinen Anlass. Die in diesen Berichten erwähnten Krankheitsbilder sind in dem Gutachten des MDKN ausdrücklich aufgeführt. Soweit Dr O. in seinem Bericht vom 16. August 2000 von "potentiell lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen" spricht, ist nicht erkennbar, dass diese Bewertung der Erkrankung die Beurteilung der MDKN-Gutachten in Frage stellt. Auch der Bericht der Radiologin Dr P. vom 18. April 2001 ergibt keinen Hinweis auf die Notwendigkeit weitergehender Ermittlungen. Als Diagnose werden in diesem Bericht eine Osteoporose sowie ein Zustand nach Oberschenkelfraktur links erwähnt. Ausdrücklich heißt es in der abschließenden Beurteilung, es handele sich nur um eine mäßige Osteoporose; im Vergleich zur Voruntersuchung im Januar 2000 sei keine Befundverschlechterung eingetreten. Dieser Bericht ist also eher als Bestätigung für die Einschätzung des SG’s zu werten, als dass er einen Hinweis auf die Unrichtigkeit der sozialgerichtlichen Feststellungen geben könnte.

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Nach allem hat die Berufung keinen Erfolg haben können.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.