Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 23.06.2016, Az.: L 11 SF 6/16 AB (AS)

Befangenheitsantrag; Gewährung von Akteneinsicht nur im Gericht; Vermeintlich fehlerhafte Verfahrenshandlungen des abgelehnten Richters

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
23.06.2016
Aktenzeichen
L 11 SF 6/16 AB (AS)
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2016, 32167
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2016:0623.L11SF6.16AB.AS.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Braunschweig - AZ: S 26 AS 3347/12

Redaktioneller Leitsatz

1. Für eine Ablehnung reicht ein Grund nur dann aus, wenn er aus der Sicht eines Verfahrensbeteiligten bei Anstellung vernünftiger Erwägungen Bedenken gegen die Unparteilichkeit des Richters rechtfertigt.

2. Deshalb begründen (vermeintlich) fehlerhafte Verfahrenshandlungen des abgelehnten Richters nur dann eine Besorgnis der Befangenheit, wenn sich hierin eine unsachliche oder gar von Willkür geprägte Einstellung äußert.

3. Die Gewährung von Akteneinsicht im Gericht (anstatt im Wege der Übersendung in die Kanzlei des Prozessbevollmächtigten) entspricht der Grundregel des § 120 Abs. 1 SGG.

4. Die Übersendung von Akten bzw. die Gestattung der Mitnahme von Akten steht im Ermessen des Berichterstatters (§§ 120 Abs. 2 Satz 2 und 3, 155 Abs. 4 SGG).

5. Ein gebundener Anspruch auf Versendung der Akten an einen anderen Ort (z.B. an die Kanzlei des Prozessbevollmächtigten) existiert somit nicht.

Tenor:

Die in den Verfahren L 11 AS 1365/13 B, L 11 AS 125/14, L 11 AS 234/14 B, L 11 AS 512/14 NZB, L 11 AS 513/14 NZB, L 11 AS 1387/15 und L 11 AS 1388/15 gegen Richter am Landessozialgericht H. gestellten Ablehnungsgesuche werden als unbegründet zurückgewiesen.

Gründe

I. Die Kläger führen vor dem erkennenden Senat u.a. die Verfahren L 11 AS 1365/13 B, L 11 AS 125/14, L 11 AS 234/14 B, L 11 AS 512/14 NZB, L 11 AS 513/14 NZB, L 11 AS 1387/15 und L 11 AS 1388/15. Am 5. April 2016 hat ihr Prozessbevollmächtigter, Rechtsanwalt (RA) I., in sämtlichen o.g Verfahren beantragt, ihm mittels Übersendung der Akten in seine Kanzlei Akteneinsicht zu gewähren.

Der Berichterstatter RLSG H. hat dem Prozessbevollmächtigten daraufhin Akteneinsicht in den Räumen des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen (LSG) gewährt. Alternativ ist ihm Akteneinsicht in den Räumen des Sozialgerichts (SG) Braunschweig oder dem für den Wohn- und Kanzleiort des Prozessbevollmächtigten zuständigen Amtsgericht (AG) Gifhorn angeboten worden. Zur Begründung hat der Berichterstatter in seiner Verfügung vom 5. April 2016 ausgeführt, dass die Übersendung von Akten im Rahmen der Akteneinsicht im Ermessen des Gerichts stehe (§ 120 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Dem Prozessbevollmächtigten sei bereits in anderen Verfahren (z.B. L 11 AS 524/12 NZB - Aktenzeichen des Prozessbevollmächtigten: J.) mitgeteilt worden, dass eine Aktenübersendung in seine Kanzlei nicht in Betracht komme, da er Empfangsbekenntnisse in einer Vielzahl von Verfahren nicht zeitnah bzw. überhaupt nicht zurückgereicht habe und dem Gericht dadurch eine zeitnahe Überwachung des Eingangs von Akten bei ihm unmöglich gemacht werde. Hieran werde festgehalten.

Der Prozessbevollmächtigte der Kläger hat daraufhin mit Schreiben vom 13. April 2016 (Eingang per Telefax beim LSG am 25. April 2016) in den Verfahren L 11 AS 1365/13 B, L 11 AS 125/14, L 11 AS 234/14 B, L 11 AS 512/14 NZB, L 11 AS 513/14 NZB, L 11 AS 1387/15 und L 11 AS 1388/15 "Antrag auf Besorgnis der Befangenheit" gestellt. Zur Begründung hat er u.a. vorgetragen, dass "bis zum heutigen Tag lediglich behauptet und nicht belegt" worden sei, wann er "in welchen Verfahren welche Verwaltungsakten erhalten haben und das Empfangsbekenntnis nicht oder nicht zeitnah zurückgesandt haben soll, zumal in der Vergangenheit kaum Akten angefordert worden" seien.

RLSG H. hat sich unter dem 27. April 2016 dienstlich geäußert. Die Beteiligten haben Gelegenheit zur Stellungnahme erhalten. II.

Das nach § 60 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. §§ 42 ff Zivilprozessordnung (ZPO) statthafte und zulässige Befangenheitsgesuch hat in der Sache keinen Erfolg.

Nach § 42 Abs 2 ZPO kann ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Für eine Ablehnung reicht ein Grund nur dann aus, wenn er aus der Sicht eines Verfahrensbeteiligten bei Anstellung vernünftiger Erwägungen Bedenken gegen die Unparteilichkeit des Richters rechtfertigt. Deshalb begründen (vermeintlich) fehlerhafte Verfahrenshandlungen des abgelehnten Richters nur dann eine Besorgnis der Befangenheit, wenn sich hierin eine unsachliche oder gar von Willkür geprägte Einstellung äußert (BVerfG, Beschluss vom 6. Mai 2010 - 1 BvR 96/10 -, Rn 12 - zitiert nach ; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage 2014, § 60 Rn 8g mit umfangreichen weiteren Nachweisen).

RLSG H. hat seine Ermessensentscheidung zum Ort der Akteneinsicht (im LSG, wahlweise auch im SG Braunschweig oder im AG Gifhorn) sachlich und ohne Anhaltspunkte für eine von Willkür geprägte Einstellung begründet. Es ist zudem nicht einmal ansatzweise erkennbar, dass eine andere Entscheidung geboten gewesen sein könnte. Schließlich entspricht die Gewährung von Akteneinsicht im Gericht (anstatt im Wege der Übersendung in die Kanzlei des Prozessbevollmächtigten) der Grundregel des § 120 Abs 1 SGG. Die Übersendung von Akten bzw. die Gestattung der Mitnahme von Akten steht im Ermessen des Berichterstatters (§§ 120 Abs 2 Satz 2 und 3, 155 Abs 4 SGG). Ein gebundener Anspruch auf Versendung der Akten an einen anderen Ort (hier: Kanzlei des Prozessbevollmächtigten) existiert somit nicht (vgl. BSG, Beschluss vom 10. April 1962 - 2 RU 265/59 -).

Unabhängig davon, dass die von den Klägern angegriffene Entscheidung von RLSG H. zur Gewährung von Akteneinsicht keinen nachvollziehbaren Anlass für eine Besorgnis der Befangenheit bietet, ruft der Senat die Vorgeschichte der hier angegriffenen richterlichen Verfügung vom 5. April 2016 in Erinnerung. So war RA I. in einem von anderen Rechtsmittelführern geführten Beschwerdeverfahren (L 11 AS 146/12 B - Aktenzeichen des Prozessbevollmächtigten: K.) antragsgemäß Akteneinsicht mittels Übersendung der Gerichtsakten in seine Kanzlei gewährt worden. Die Akte wurde seitens des LSG am 11. Juni 2012 unter Beifügung eines von RA I. zurückzureichenden Empfangsbekenntnisses zur Post gegeben. Nachdem ein Rücklauf dieses Empfangsbekenntnisses nicht erfolgte, wurde der RA I. mit Schreiben vom 27. Juni 2012 und 11. Juli 2012 an die Rücksendung sowohl der Akte als auch des Empfangsbekenntnisses erinnert. Diese Schreiben blieben unbeantwortet. Erst auf das dritte Erinnerungsschreiben vom 28. August 2012 (am selben Tag auch per Fax übersandt) teilte RA I. nach Ablauf von mehr als 10 Tagen mit, die Akte nie erhalten zu haben und deswegen auch das Empfangsbekenntnis nicht zurückreichen zu können. Damit wurde - trotz mehrfacher Nachfrage - erst nach Ablauf von ca. drei Monaten bekannt, dass die übersandte Akte auf dem Postweg verloren gegangen sein dürfte. Eine zeitnahe Klärung des Verbleibs der Akte war angesichts des Verhaltens von RA I. nicht möglich.

Trotz dieser Vorkommnisse und trotz der im August 2012 erfolgten Mitteilung des Senats, dass Akteneinsicht nunmehr nur noch in den Räumen des Gerichts gewährt werden könne (richterliche Verfügung vom 28. August 2012 im Verfahren L 11 AS 146/12 B), hat RA I. auch in der Folgezeit Empfangsbekenntnisse nicht zeitnah bzw. nicht zuverlässig zurückgesandt. Dies gilt u.a. für folgende Verfahren:

- L 11 AS 538/12 NZB: Empfangsbekenntnis wurde weder unaufgefordert noch nach Erinnerung zurückgereicht

- L 11 AS 1298/12 B: Empfangsbekenntnis wurde weder unaufgefordert noch nach Erinnerung zurückgereicht

- L 11 AS 1299/12 B: Empfangsbekenntnis wurde weder unaufgefordert noch nach Erinnerung zurückgereicht

- L 11 AS 524/12 NZB: Rückgabe des Empfangsbekenntnisses erst auf Erinnerung

- L 11 AS 492/12 NZB: Das Empfangsbekenntnis zum verfahrensbeendenden Beschluss vom 11. Dezember 2012 wurde weder auf die schriftlichen Erinnerungen vom 3. und 15. Januar 2013 noch auf die fernmündliche Erinnerung vom 25. Januar 2013 (Nachricht auf dem Anrufbeantworter) zurückgereicht. Diesbezüglich wurde von der Rechtsanwaltskammer Celle eine Berufsrechtsaufsichtsakte angelegt und die Angelegenheit an die zuständige Berufsrechtsaufsichtsabteilung abgegeben (Az. der Rechtsanwaltskammer: L.). Der Ausgang dieses Verfahrens ist dem Senat unbekannt.

- L 11 AS 495/12 NZB: Rückgabe des Empfangsbekenntnisses erst auf Erinnerung

- L 11 AS 398/13 EB: zweimalige Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 876/13 NZB: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 877/13 B: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 878/13 NZB: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 446/10: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 355/14 NZB: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1179/14 NZB: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1173/14 NZB: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1374/13 NZB: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1375/13 NZB: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 68/15 B: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 330/15 NZB: zweimalige Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 837/13: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 SF 8/15 B (AS): Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 327/15 NZB: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 330/15 NZB: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 329/15 NZB: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 329/15 NZB: Auf die Erinnerung an die Rücksendung des Empfangsbekenntnisses wurde von RA I. lediglich das Erinnerungsschreiben, versehen mit dem handschriftlichen Vermerk "erfolgt" zurückgesandt, nicht jedoch der Erhalt des verfahrensbeendenden Beschlusses ausdrücklich bestätigt. Der verfahrensbeendende Beschluss wurde daraufhin nochmals zugestellt (per Postzustellungsurkunde)

- L 11 AS 1184/15 NZB: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1185/15 B: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1186/15 NZB: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1187/15 B: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1188/15 NZB: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1189/15 B: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1190/15 NZB: dreimalige Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1191/15 B: zweimalige Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1194/15 NZB: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1195/15 B: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1196/15 NZB: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1197/15 B: dreimalige Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1198/15 NZB: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 159/15: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 160/15: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 161/15: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 198/15: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 199/15: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1197/15 B: zweimalige Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1190/15 NZB: zweimalige Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1191/15 B: zweimalige Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1192/15 NZB: zweimalige Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1193/15 B: zweimalige Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1679/15: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1678/15: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

- L 11 AS 1675/15: Erinnerung an Rückgabe des Empfangsbekenntnisses

Es entspricht der allgemeinen Meinung, dass die Übersendung von Akten in die Kanzlei eines Prozessbevollmächtigten nicht in Betracht kommt, wenn - wie hier - aufgrund von Vorerfahrungen die Unzuverlässigkeit der betreffenden Kanzlei feststeht (vgl. etwa: Bieresborn in Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Auflage 2014, § 120 Rn 21; Keller, a.a.O., § 120 Rn 4a; Schulze-Hagenow in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Auflage 2014, § 120 Rn 17 - jeweils m.w.N.).

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).