Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 12.03.2019, Az.: 7 B 850/19

abschnittsbezogene Geschwindigkeitskontrolle; Bestimmtheitsgrundsatz; Datenverarbeitung; Eingriff; einstweilige Anordnung; Gesetzgebungskompetenz; Kennzeichenerfassung; Nichttreffer; Pilotbetrieb; Recht auf informationelle Selbstbestimmung; Rechtsgrundlage; Section Control

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
12.03.2019
Aktenzeichen
7 B 850/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69659
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Parallelentscheidung im einstweiligen Rechtsschutz zum Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover vom 12. März 2019, 7 A 849/19, das vollständig dokumentiert ist.

Tenor:

Dem Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig und bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Klageverfahrens
7 A 849/19 untersagt, mittels des Geschwindigkeitsmessgerätes „Section Control“ auf der Bundesstraße B 6 in A-Stadt zwischen den Anschlussstellen Gleidingen und Rethen das amtliche Kennzeichen eines jeden vom Antragsteller geführten Fahrzeugs zu erfassen und maschinell zu verarbeiten.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1) sind nicht erstattungsfähig. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 2) sind erstattungsfähig.

Gründe

I.

Der Antragsteller wendet sich in seiner Eigenschaft als Verkehrsteilnehmer gegen die auf der Bundesstraße 6 in Fahrtrichtung Norden zwischen den Anschlussstellen Gleidingen und Rethen in Betrieb genommene Verkehrsüberwachungsanlage „Section Control“. Betreiber der Anlage ist die Polizeidirektion Hannover, zuständige Bußgeldbehörde die Beigeladene zu 1).

Der Antragsteller hat am 18. Februar 2019 Klage bei dem beschließenden Gericht erhoben (- 7 A 849/19 -), der die Kammer mit Urteil vom heutigen Tage stattgegeben hat. Zugleich hat der Antragsteller um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens trägt er vor, die anlasslose Kennzeichenerfassung und -verarbeitung auf der streitbefangenen Strecke, die er nahezu täglich befahre, stelle einen nicht gerechtfertigten Eingriff in sein allgemeines Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG - in seiner Ausprägung als Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar. Der Antragsteller nimmt insoweit auf seinen Vortrag im Klageverfahren Bezug. Aufgrund der Häufigkeit der Verstöße sei das Abwarten des Hauptsacheverfahrens für ihn unzumutbar. Da die geltend gemachten Eingriffe grundsätzliche Bedeutung hätten und überdies das Willkürverbot verletzten, sei die Anordnung auch aus anderen Gründen notwendig.

Der Antragsteller beantragt,

dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig und bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Klageverfahren 7 A 849/19 zu untersagen, mittels des Geschwindigkeitsmessgerätes „Section Control“ auf der Bundesstraße B 6 zwischen den Anschlussstellen Gleidingen und Rethen das amtliche Kennzeichen eines jeden von ihm geführten Fahrzeugs zu erfassen und maschinell zu verarbeiten.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Er trägt vor, der Kläger habe weder einen Anordnungsanspruch noch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Ein Grundrechtseingriff liege nicht vor oder sei zumindest so gering, das die Entscheidung in der Hauptsache abgewartet werden müsse. Der Beklagte verweist insoweit auf seinen Vortrag im Klageverfahren. Mangels Eilbedürftigkeit bestehe auch keine Notwendigkeit, eine einstweilige Anordnung zu erlassen. Der bisher zu verzeichnende Erfolg der Maßnahme werde durch eine überstürzte Regelungsanordnung zunichtegemacht. Da der Gesetzentwurf zur Novelle des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung - NPOG-E - voraussichtlich noch vor der Sommerpause verabschiedet werde, stünde die Wiedereinführung der abschnittsbezogenen Geschwindigkeitskontrolle zudem auch im Falle des Erlasses einer Regelungsanordnung unmittelbar bevor.

Die Beigeladene zu 1)

stellt keinen Antrag.

Die Beigeladene zu 2) beantragt ebenfalls,

dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig und bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Klageverfahren 7 A 849/19 zu untersagen, mittels des Geschwindigkeitsmessgerätes „Section Control“ auf der Bundesstraße B 6 zwischen den Anschlussstellen Gleidingen und Rethen das amtliche Kennzeichen eines jeden vom Kläger geführten Fahrzeugs zu erfassen und maschinell zu verarbeiten.

Sie schließt sich der Argumentation des Antragstellers im Wesentlichen an.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Polizeidirektion Hannover sowie den Tatbestand des Urteils der Kammer vom heutigen Tage Bezug genommen.

II.

I. Der zulässige Antrag ist begründet.

Nach § 123 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen, nötig erscheint. Im Rahmen der Entscheidung über eine einstweilige Anordnung ist zu unterscheiden zwischen dem Anordnungsgrund (§ 123 Abs. 1 VwGO), der insbesondere die Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung begründet, und dem Anordnungsanspruch, d.h. dem materiellen Anspruch, für den der Antragsteller um vorläufigen Rechtsschutz nachsucht. Der Anordnungsanspruch ist identisch mit dem auch im Hauptsacheverfahren geltend zu machenden materiellen Anspruch (vgl. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017,
§ 123 Rn. 6). Sowohl Anordnungsgrund als auch Anordnungsanspruch sind nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung - ZPO - glaubhaft zu machen, wobei die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts maßgebend sind.

Gemessen daran hat der Antragsteller das Vorliegen eines Anordnungsgrundes und eines Anordnungsanspruchs glaubhaft gemacht.

1. Der Anordnungsgrund liegt vor, weil der Antragsteller die streitbefangene Strecke nach seinen - glaubhaften und unwidersprochen gebliebenen - Angaben nahezu täglich befährt und eine (rechtskräftige) Entscheidung in der Hauptsache daher zu spät käme, um die geltend gemachten Nachteile abzuwenden. Soweit der Antragsgegner einwendet, dass der Gesetzentwurf zur Novelle des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung - und die darin enthaltene Rechtsgrundlage für die Durchführung von abschnittsbezogenen Geschwindigkeitskontrollen (§ 32 Abs. 8 NPOG-E) - noch vor der Sommerpause verabschiedet und die streitbefangene Maßnahme unmittelbar danach wieder aufgenommen werden würde, trägt dies im Hinblick auf die in der Zwischenzeit drohenden Rechtsverletzungen des Antragstellers nicht.

2. Dem Antragsteller steht auch ein Anordnungsanspruch zur Seite. Er kann von dem Antragsgegner verlangen, die streckenbezogene Geschwindigkeitskontrolle in dem streitbefangenen Bereich zu unterlassen, denn die Geschwindigkeitskontrolle greift in das Grundrecht des Antragstellers auf informationelle Selbstbestimmung als Ausprägung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ein, ohne dass dies von einer Ermächtigungsgrundlage abgedeckt wäre. Wegen der Einzelheiten wird auf die Entscheidungsgründe des Urteils der Kammer vom heutigen Tage verwiesen, die den Beteiligten bekannt sind.

II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 1) sind aus Billigkeitsgründen nicht für erstattungsfähig zu erklären, weil sie keinen Sachantrag gestellt und sich damit keinem eigenen Kostenrisiko ausgesetzt hat (§§ 162 Abs. 3, 154 Abs. 3 VwGO). Demgegenüber ist die Beigeladene zu 2) dem Antragsteller beigetreten und hat einen Sachantrag gestellt, sodass ihre Kosten nach den genannten Vorschriften erstattungsfähig sind.