Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 12.03.2019, Az.: 3 A 420/19
Eltern; Familienasyl; Flüchtlingsschutz; Minderjährigkeit
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 12.03.2019
- Aktenzeichen
- 3 A 420/19
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2019, 69681
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 26 Abs 3 S 1 AsylVfG 1992
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Für die Frage der Minderjährigkeit des Stammberechtigten ist bei § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung abzustellen.
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 8. Januar 2019 verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Vollstreckungsschuldnerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Der Klägerin wird für das Verfahren im ersten Rechtszug Prozesskostenhilfe bewilligt. Ihr wird Rechtsanwalt B., B-Straße, B-Stadt zur Vertretung in diesem Verfahren beigeordnet.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die am C. 1973 geborene Klägerin ist irakische Staatsangehörige, kurdischer Volkszugehörigkeit und jesidischen Glaubens. Sie reiste im Wege der Familienzusammenführung mit einem Visum am 29. Juni 2018 nach Deutschland ein und beantragte am 12. Juli 2018 Asyl.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) hatte dem am 1D. 2000 geborenen Sohn der Klägerin mit Bescheid vom 5. April 2018 (Geschäftszeichen des Bundeamtes E.) die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt.
Im Rahmen ihrer Anhörung gab die Klägerin im Wesentlichen an, sie könne aufgrund ihres Glaubens nicht zurück in den Irak. Die Moslems und Araber wollten die Jesiden töten. Ihr persönlich sei nichts passiert; sie sie weder verfolgt noch bedroht worden. Die Angst die sie habe, sei allgemeiner Natur. Nach einem Vermerk in dem Anhörungsprotokoll beantragte die Antragstellerin während der Anhörung für sich Familienasyl. Ihr Sohn habe in Deutschland schon einen Schutzstatus bekommen. Dieser Sohn sei am 1D. 2018 volljährig geworden.
Mit Bescheid vom 8. Januar 2019 – zugestellt am 12. Januar 2019 – lehnte das Bundesamt unter der Ziffer 1. den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und unter Ziffer 2. den Antrag auf Asylanerkennung ab. Unter der Ziffer 3. verfügte es, dass der subsidiäre Schutzstatus nicht zuerkannt werde. Unter der Ziffer 4. stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorlägen. Es forderte die Klägerin unter Ziffer 5. auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen und drohte andernfalls an, sie in den Irak abzuschieben. Unter der Ziffer 6. befristete es das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, in der Person der Klägerin seien die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft im Sinne von § 3 des Asylgesetzes (AsylG) nicht gegeben. Die Gewährung von Familienasyl im Sinne des § 26 Abs. 3 AsylG sei nicht mehr möglich. Der Sohn der Klägerin habe bereits das 18. Lebensjahr vollendet, weshalb die Voraussetzung für eine Zuerkennung im Sinne des § 26 Abs. 3 AsylG nicht mehr vorlägen.
Am 17. Januar 2019 hat die Klägerin Klage erhoben und Prozesskostenhilfe beantragt. Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, ihr müsse, abgeleitet von ihrem schutzberechtigten Sohn Flüchtlingsschutz zugesprochen werden. Insoweit sei hinsichtlich der Minderjährigkeit des Stammberechtigten auf den Zeitpunkt ihrer Antragstellung und nicht auf den Zeitpunkt der Entscheidung durch die Beklagte abzustellen.
Sie beantragt,
die Beklagte wird verpflichtet, ihr unter Aufhebung des Bescheides vom 3. Januar 2019 die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, ihr den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
ihr Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten zu bewilligen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung. Ergänzend trägt sie im Wesentlichen vor, im Rahmen des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG sei für die Frage der Minderjährigkeit des Stammberechtigten auf den Zeitpunkt der Entscheidung abzustellen. Das Tatbestandsmerkmal der Personensorge nach § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylG könne nur so lange vorliegen, wie der Stammberechtigte noch minderjährig sei. Sinn und Zweck der Vorschrift sei der Schutz des Minderjährigen. § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG nenne im Unterschied zu § 26 Abs. 2 AsylG und 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG gerade nicht ausdrücklich den Zeitpunkt der Antragstellung. Auch im Rahmen des aufenthaltsrechtlichen Familiennachzuges nach § 36 Abs. 1 AufenthG ende der Anspruch, wenn das Kind volljährig werde. Sowohl die Regelung nach dem AufenthG als auch § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG dienten dem Schutz des Minderjährigen.
Die Beteiligten haben, die Beklagte in ihrem Schreiben vom 22. Januar 2019 und die Klägerin mit Schriftsatz vom 14. Februar 2019 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Entgegen der Formulierung in dem gestellten Antrag ist im Rahmen der nach § 88 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) gebotenen Auslegung bei verständiger Würdigung davon auszugehen, dass der Bescheid der Beklagten vom 8. Januar 2019 gemeint ist, da es sich offensichtlich um einen Schreibfehler handelt.
Die insoweit zu verstehende zulässige Klage, über die das Gericht mit dem Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist begründet.
Die mit Bescheid der Beklagten vom 8. Januar 2019 erfolgte Ablehnung des Antrages auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist rechtswidrig und die Klägerin dadurch in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 5 AsylG. Nach § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG werden die Eltern eines minderjährigen ledigen Asylberechtigten auf Antrag als Asylberechtigte anerkannt, wenn
1. die Anerkennung des Asylberechtigten unanfechtbar ist,
2. die Familie im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Asylberechtigte politisch verfolgt wird,
3. sie vor der Anerkennung des Asylberechtigten eingereist sind oder sie den Asylantrag unverzüglich nach der Einreise gestellt haben,
4. die Anerkennung des Asylberechtigten nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist und
5. sie die Personensorge für den Asylberechtigten innehaben.
§ 26 Abs. 5 AsylG bestimmt, dass auf Familienangehörige im Sinne des § 26 Abs. 1 bis 3 AsylG von international Schutzberechtigten die Absätze 1 bis 4 der Vorschrift entsprechend anzuwenden sind. An die Stelle der Asylberechtigung tritt die Flüchtlingseigenschaft oder der subsidiäre Schutz.
Die Voraussetzungen des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG sind hier erfüllt.
Der am 1D. 2000 geborene Sohn der Klägerin ist vom Bundesamt mit Bescheid vom 5. April 2018 unanfechtbar als Flüchtling anerkannt worden.
Dieser Sohn der Klägerin ist auch zu dem insoweit maßgeblichen Zeitpunkt ihrer Antragstellung am 12. Juli 2018 ledig und minderjährig im Sinne des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG gewesen.
Die Voraussetzungen des Eltern- und Geschwisterasyls müssen im Zeitpunkt der Antragstellung desjenigen vorliegen, der das Familienasyl begehrt. Es ist deshalb unschädlich, wenn der Minderjährige im laufenden Verfahren volljährig wird oder heiratet (Schröder in: Hofmann, AuslR, 2. Aufl., AsylG § 26 Rn. 26).
Betrachtet man die rechtlichen Vorgaben des Instituts des Familienasyls insgesamt, wird, bis auf den Fall des abgeleiteten Anspruchs der Eltern von ihrem Kind in § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG, ausdrücklich auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung des Zuziehenden abgestellt (§ 26 Abs. 2 und § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG). Aus dem Umstand, dass § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG eine solche ausdrückliche Formulierung nicht enthält, kann nicht im Umkehrschluss gefolgert werden, dass in diesen Fällen auf den Zeitpunkt der Entscheidung abzustellen ist. Hierfür sprechen eine richtlinienkonforme und systematische Auslegung der Vorschrift.
Der Anspruch aus § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG resultiert aus der Umsetzung der Vorgaben aus Art. 23 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (RL 2011/95/EU), (ABl. Nr. L 337 S. 9, ber. ABl. 2017 Nr. L 167 S. 58).
Das Schutzziel des Art. 23 RL 2011/95/EU – die Aufrechterhaltung des Familienverbands – knüpft an einen tatsächlichen Zustand an, nämlich, dass sich Mitglieder einer zuvor im Staat der Verfolgung bestehenden Familie in einen Mitgliedstaat geflüchtet haben und nunmehr dort ein (Teil-) Familienverband besteht. Eine vollständige Umsetzung der Verpflichtung aus der Richtlinie kann nur erreicht werden, wenn das Recht, den Familienverband aufrecht zu erhalten – von dem formalen Erfordernis einer Asylantragstellung im Fluchtstaat abgesehen – erworben wird, sobald der (Teil-) Familienverband tatsächlich im Fluchtstaat besteht. Wäre hingegen in Bezug auf die Minderjährigkeit des stammberechtigten Kindes maßgeblich auf Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung abzustellen, würde der tatsächlich bestehende Familienverband nicht durchgängig geschützt. Im Falle einer zeitlich verzögerten behördlichen Entscheidung ginge den Familienmitgliedern ihr Recht aus Art. 23 RL 2011/95/EU verloren, wenn das stammberechtigte Kind vor Erlass eines Bescheides volljährig wird. Die Behörde könnte bei dieser Auslegung durch die Wahl des Entscheidungszeitpunktes beeinflussen, ob der Tatbestand erfüllt ist.
Das Abstellen auf den Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung wäre zudem nicht damit vereinbar, dass das Unionsrecht einen einheitlichen Schutz des Familienverbandes insgesamt vorgibt. Art. 23 Abs. 1 und 2 RL 2011/95/EU differenzieren nicht im Hinblick darauf, ob Kinder ihre Rechte von schutzberechtigten Eltern ableiten oder umgekehrt. Ein in seiner Wirkung gespaltenes nationales Schutzniveau abhängig davon, ob Eltern zu ihren Kindern ziehen oder umgekehrt, wäre mit diesen Vorgaben nicht zu vereinbaren.
Angesichts des unionsrechtlich geprägten gleichgelagerten Zwecks, den im Fluchtstaat (neu) bestehenden Familien(teil)verband zu schützen und die Integration der nahen Angehörigen sowie des Stammberechtigten zu fördern, wäre es widersprüchlich, beim Familienflüchtlingsschutz für Eltern, die zu ihren Kindern ziehen, andere Maßstäbe anzulegen als im umgekehrten Fall, in dem die Kinder den Flüchtlingsschutz von den stammberechtigten Eltern ableiten.
Noch widersprüchlicher wäre es insoweit, minderjährige Stammberechtigte, zu denen ein Elternteil zuziehen will, schlechter zu stellen als solche, zu denen ein Geschwisterkind zuziehen will. Ein solches Ergebnis wäre insbesondere deshalb nicht nachvollziehbar, weil unter Berücksichtigung der Definition von „Familienangehörigen“ in Art. 2 Buchstabe j RL 2011/95/EU der Zuzug von (minderjährigen) Geschwistern zu minderjährigen Stammberechtigten nicht von der Richtlinie gefordert wird, der Zuzug von Eltern dagegen nach dieser Richtlinie von den Mitgliedstaaten ermöglicht werden muss.
Bei der Auslegung von § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG ist zudem zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber für den Fall eines zu seinen stammberechtigten Eltern zuziehenden Minderjährigen (§ 26 Abs. 2 AsylG) auf den Zeitpunkt der Antragstellung abgestellt hat, weil sich die Verfahrensdauer nicht nachteilig auf das Entstehen des Familienasyls auswirken soll (so ausdrücklich: Beschlussempfehlung und Bericht des Innenausschusses, BT-Drs. 12/2718, S. 60). In dem Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung der RL 2011/95/EU der Bundesregierung wird dann lediglich mitgeteilt, dass § 26 Abs. 2 AsylG unverändert bleibe und in § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG der „Familienschutz erstmalig auf die Eltern minderjähriger lediger Asylberechtigter erstreckt“ werde (BR-Drs. 218/13, S. 30). Sofern der Gesetzgeber aber in Bezug auf die verschiedenen Konstellationen des Familienasyls unterschiedliche Beurteilungszeitpunkte gewollt hätte, wäre angesichts seines erklärten Ziels, Familienschutz auf Eltern minderjähriger lediger Asylberechtigter auszudehnen, zu erwarten gewesen, dass er dies im Zuge der Rechtsänderung deutlich macht und seine Beweggründe für die unterschiedliche rechtliche Betrachtung in den Gesetzesmaterialien benennt.
Nicht zuletzt ist zu berücksichtigen, dass es zu Problemen im Hinblick auf die Grundsätze der Gleichbehandlung und der Rechtsicherheit käme, wenn man für die Frage der Minderjährigkeit des Stammberechtigten auf den Zeitpunkt der Entscheidung abstellen würde. Eine solche Vorgehensweise hätte möglicherweise zur Folge, dass zwei identische Familienmitglieder zweier identischer international Schutzberechtigter, die ihr Asylgesuch zeitgleich äußern, je nach dem Zeitpunkt der behördlichen und gerichtlichen Entscheidungen unterschiedliche Entscheidungen erhalten, ohne dass sie darauf Einfluss nehmen könnten.
(vgl. zum Ganzen:VG Hamburg, Urt. v. 05.02.2014 – 8 A 1236/12 –, BeckRS 2014, 48003; VG Karlsruhe Urt. v. 08.02.2018 – 2 K 7425/16 –, BeckRS 2018, 3431, Rn. 19ff.; VG Stuttgart Urt. v. 23.05.2018 – A 1 K 17/17, BeckRS 2018, 13324, Rn. 34; VG Augsburg Urt. v. 20.09.2018 – 5 K 18.31209 –, BeckRS 2018, 24575 Rn. 32 ff.; VG Gelsenkirchen Urt. v. 22.01.2019 – 15a K 5551/18, BeckRS 2019, 943 Rn. 18ff.; im Ergebnis ebenso: VG Oldenburg Urt. v. 21.09.2018 – 15 A 8994/17 –, BeckRS 2018, 22876 Rn. 29ff.)
Die sonstigen Argumente der Beklagten führen zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung.
Sofern diese einwendet, dass Tatbestandsmerkmal der Personensorge nach § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AsylG könne nur so lange vorliegen, wie der Stammberechtigte noch minderjährig sei, verfängt ihr Einwand nicht. In zeitlicher Hinsicht besteht zwischen den beiden Tatbestandsmerkmalen „minderjährig“ und „Personensorge“ kein Unterschied. Denn mit der Volljährigkeit endet die Personensorge der Eltern. Die Frage, zu welchem Zeitpunkt der Stammberechtigte minderjährig sein muss, kann daher nicht mit einem Verweis auf das Tatbestandsmerkmal der Personensorge beantwortet werden. Dies käme einer zirkulären Argumentation gleich. Der maßgebliche Beurteilungszeitpunkt ist vielmehr für beide Voraussetzungen aufgrund ihrer zeitlichen Übereinstimmung parallel im Wege der dargestellten Auslegung (s. o.) zu bestimmen.
Wenn die Beklagte anführt, auch im Rahmen des aufenthaltsrechtlichen Familiennachzuges gemäß § 36 Abs. 1 AufenthG ende der Anspruch, wenn das Kind volljährig werde, lässt sich daraus für die Auslegung des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG kein zwingender Schluss ziehen. Die Beklagte verkennt insoweit, dass beiden Vorschriften unterschiedliche Schutzzwecke zugrunde liegen. § 36 Abs. 1 AufenthG dient der Umsetzung von Art. 10 Abs. 3a der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (RL 2003/86/EG). Danach gestatten die Mitgliedstaaten, wenn es sich bei einem Flüchtling um einen unbegleiteten Minderjährigen handelt, die Einreise und den Aufenthalt seiner Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades zum Zwecke der Familienzusammenführung. In Anknüpfung an den aus der europarechtlichen Vorgabe resultierenden Zweck, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge zu schützen, bestimmt § 36 Abs. 1 AufenthG, dass den Eltern eines minderjährigen Ausländers, der eine bestimmte Form der Aufenthalts- beziehungsweise der Niederlassungserlaubnis besitzt, ebenfalls eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen, wenn sich kein personensorgeberechtigter Elternteil im Bundesgebiet aufhält. Die Vorschrift dient erkennbar allein dem Ziel, die Personensorge unbegleiteter Minderjähriger im Bundesgebiet sicherzustellen. Die Wahrung der Familieneinheit als Ganzes ist dagegen nicht vom Schutzzweck umfasst. Deutlich wird dies insbesondere auch dadurch, dass die Rechte aus der Norm nur dann beansprucht werden können, wenn sich nicht bereits ein sorgeberechtigter Elternteil in Deutschland aufhält. Der dargestellte Schutzzweck fällt deswegen weg, sobald der Minderjährige volljährig wird und die Personensorge der Eltern entfällt. Ziel des § 26 Abs. 3 Satz 1 AsylG ist – als Teil des Familienasyls – hingegen, beruhend auf den unionsrechtlichen Vorgaben aus Art. 23 Abs. 1 und 2 RL 2011/95/EU die Wahrung des Familienverbandes (s. o.). Dieser Zweck, aus dem das Recht der Familienangehörigen die Flüchtlingseigenschaft zu erwerben resultiert, ist zeitlich nicht – wie bei § 36 AufenthG – auf die Minderjährigkeit beschränkt, sondern hängt vom Bestand des Flüchtlingsschutzes des Stammberechtigten ab, der mit der Minderjährigkeit nicht endet.
Die Familie der Klägerin hat im Sinne der Art. 2 Buchstabe j der Richtlinie 2011/95/EU, § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG schon in dem Staat bestanden, in dem der Asylberechtigte – der Sohn der Klägerin – politisch verfolgt wird, hier dem Irak.
Die Klägerin hat ihren Asylantrag, entsprechend den Vorgaben aus § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AsylG, unverzüglich nach ihrer Einreise gestellt.
Anhaltspunkte im Sinne des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 AsylG dafür, dass die Anerkennung des Asylberechtigten – beziehungsweise hier der Flüchtlingsschutz des Sohnes der Klägerin – zu widerrufen oder zurückzunehmen ist, bestehen nicht.
Die Klägerin hat zu dem insoweit maßgeblichen Zeitpunkt ihrer Asylantragstellung (siehe oben) die Personensorge für ihren Sohn innegehabt.
Ob der Klägerin auch ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund ihres vorgetragenen eigenen Verfolgungsschicksals gemäß § 3 Abs. 4 in Verbindung mit § 3 Abs. 1 AsylG zusteht, braucht das Gericht nicht mehr zu entscheiden. § 26 AsylG vermittelt der Klägerin einen vollwertigen Asyl- beziehungsweise Flüchtlingsanspruch, der demjenigen des Stammberechtigten in nichts nachsteht. Prozessual hat das zur Folge, dass die gleichzeitige Klage auf Anerkennung als Asylberechtigter beziehungsweise als Flüchtling aufgrund eigener politischer Verfolgung mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig wird. Denn der Familienangehörige kommt von der Rechtsfolge Asylberechtigung/Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft her gedacht mit dem Familienasyl einfacher zu seinem Ziel. (Günther in: BeckOK AuslR, Stand November 2018, § 26 AsylG Rn. 3, m. w. N. z. Rspr. d. BVerwG). Er ist auch durch die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus allein nach § 26 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 5 AsylG gegenüber einer Zuerkennung aufgrund eines eigenen individuellen Verfolgungsschicksals rechtlich nicht schlechter gestellt. Das Gesetz berücksichtigt seine gegebenenfalls vorliegenden eigenen Verfolgungsgründe im Falle des Verlustes des abgeleiteten Schutzstatus ausreichend. Gemäß § 73 Abs. 2b Satz 3 AsylG ist in den Fällen des § 26 Abs. 5 AsylG die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – nur dann – zu widerrufen, wenn die Flüchtlingseigenschaft des Ausländers, von dem die Zuerkennung abgeleitet worden ist, erlischt, widerrufen oder zurückgenommen wird und dem Ausländer nicht aus anderen Gründen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden könnte.
Über den gestellten Hilfsantrag braucht das Gericht, da die Klägerin mit ihrem Hauptantrag obsiegt, ebenfalls nicht zu entscheiden.
Die in dem angegriffenen Bescheid vom 8. Januar 2019 tenorierte Abschiebungsandrohung sowie das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot sind, da der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, rechtswidrig und daher aufzuheben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 der Zivilprozessordnung (ZPO).
Der Klägerin ist gemäß § 114 Abs. 1 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) Prozesskostenhilfe zu bewilligen, weil sie nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann und die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung aus den genannten Gründen hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (siehe oben).