Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 10.01.2019, Az.: 9 LA 168/18

Afghanistan; Einzelfall; Gefahrendichte; grundsätzliche Bedeutung; innerstaatliche Fluchtalternative; Kabul; UNHCR; Verfahrensfehler; wirtschaftliches Existenzminimum

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
10.01.2019
Aktenzeichen
9 LA 168/18
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 70126
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 30.10.2018 - AZ: 7 A 3636/17

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Zur Bewertung des UNHCR in seinen Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.8.2018, wonach angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt grundsätzlich nicht verfügbar ist.

Tenor:

Die Anträge der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 30. Oktober 2018 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 7. Kammer (Einzelrichterin) – und auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe werden abgelehnt.

Die Kläger tragen die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens als Gesamtschuldner. Die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Prozesskostenhilfeverfahrens werden nicht erstattet.

Gründe

1. Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

Die geltend gemachten Zulassungsgründe eines Verfahrensfehlers im Sinne von § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO und einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG sind nicht entsprechend den Voraussetzungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG hinreichend dargelegt bzw. liegen nicht vor.

Soweit sich die Kläger auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts in dem Verfahren des Ehemannes (7 A 3635/17) beziehen, bleibt ihr Vorbringen schon deshalb erfolglos, weil jenes Verfahren durch Beschluss des Senats vom 21. Dezember 2018 (9 LA 169/18) bereits rechtskräftig abgeschlossen ist.

Der Antrag der Kläger hat aber auch keinen Erfolg, wenn man ihren Vortrag auf das gegen sie ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts bezieht.

a) Die Kläger rügen die Verletzung rechtlichen Gehörs.

Sie tragen vor, das Verwaltungsgericht stütze sein Urteil u. a. auf einen Lagebericht des Auswärtigen Amtes, Stand: September 2016. Dieser Lagebericht sei jedoch weder in der mündlichen Verhandlung erwähnt worden noch in der Erkenntnismittelliste zu finden. Sie hätten deshalb keine Stellung dazu nehmen können.

Der Lagebericht des Auswärtigen Amtes ist jedoch in der den Klägern übersandten Erkenntnismittelliste des Verwaltungsgerichts aufgeführt. Es handelt sich um den Lagebericht vom 19. Oktober 2016, Stand: September 2016. Mithin hatten die Kläger hinreichend Gelegenheit, zu diesem Lagebericht Stellung zu beziehen.

Die Kläger meinen, es liege eine Überraschungsentscheidung vor, weil das Verwaltungsgericht keinen richterlichen Hinweis erteilt habe, dass es die Tätigkeit des Ehemanns der Klägerin zu 1. als Techniker für ausländische und inländische Streitkräfte in Frage stelle. Wie bereits ausgeführt, ist das Verfahren des Ehemanns bereits rechtskräftig abgeschlossen, so dass sich die Kläger auf diesbezügliche Einwände nicht mehr berufen können. Im Übrigen hatte bereits das Bundesamt den Vortrag des Ehemanns der Klägerin zu 1. nicht für glaubhaft gehalten. Der Ehemann der Klägerin zu 1. musste deshalb davon ausgehen, dass es maßgeblich auf die Glaubhaftigkeit ankommen würde. Es oblag ihm, hierzu in der mündlichen Verhandlung umfassend vorzutragen. Eines richterlichen Hinweises bedurfte es nicht.

b) Die Berufung ist auch nicht wegen einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen.

Eine Rechtssache ist i. S. d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich noch nicht geklärte Rechtsfrage oder eine obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Tatsachenfrage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich ist und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf.

Die Kläger halten die Frage für grundsätzlich bedeutsam,

„ob eine Familie mit zwei minderjährigen Kindern im Falle einer Rückkehr – jedenfalls in Kabul – eine ausreichende Lebensgrundlage finden kann.“

Sie beziehen sich dabei auf die Richtlinien des UNHCR zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30. August 2018, wonach angesichts der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt grundsätzlich nicht verfügbar ist (UNHCR-Richtlinien vom 30.8.2018, S. 129).

In der Zulassungsbegründung fehlt es jedoch an einer Darlegung, ob die Bewertung des UNHCR, die auf von dem UNHCR selbst definierten Maßstäben beruht (siehe UNHCR-Richtlinien vom 30.8.2018, S. 120 ff. und Leitfaden zur Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Afghanistan, November 2018, https://www.ecoi.net/en/file/local/1452666/1930_1543481244_5bfeca114.pdf), den in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen für die Bewertung der Frage, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative vorliegt, entspricht.

Der UNHCR geht davon aus, dass Zivilisten, die in Kabul tagtäglich ihren wirtschaftlichen oder sozialen Aktivitäten nachgehen, Gefahr laufen, Opfer der allgegenwärtigen in der Stadt bestehenden Gefahr zu werden (UNHCR-Richtlinien vom 30.8.2018, S. 127). Diese Einschätzung hat der UNHCR auf die von UNAMA berichteten Zahlen ziviler Opfer in Kabul im Jahr 2017 und in den ersten sechs Monaten des Jahres 2018 gestützt. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass der UNHCR die von dem Bundesverwaltungsgericht entwickelten Vorgaben einer quantitativen Betrachtung der Gefahrendichte im Verhältnis zur Einwohnerzahl berücksichtigt hat (vgl. BVerwG, Urteile vom 27.4.2010 – 10 C 4.09 – juris Rn. 33, vom 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris Rn. 22 und vom 13.2.2014 – 10 C 6.13 – juris Rn. 24). Das Verwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang festgestellt (S. 10, 11 UA), dass die Gefahrendichte in Kabul die Erheblichkeitsschwelle des Bundesverwaltungsgerichts noch nicht erreicht hat. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Schwelle nunmehr überschritten wäre, werden von den Klägern nicht genannt.

Der UNHCR begründet seine Einschätzung weiter mit dem rapiden Bevölkerungswachstum in Kabul, das die notwendigen Infrastruktureinrichtungen, den Dienstleistungssektor und die Arbeitsplatzkapazitäten überfordere (UNHCR-Richtlinien vom 30.8.2018, S. 128).Nach den vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätzen bietet ein verfolgungssicherer Ort erwerbsfähigen Personen das wirtschaftliche Existenzminimum in aller Regel dann, wenn sie dort, sei es durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können (BVerwG, Urteil vom 1.2.2007 – 1 C 24.06 – juris Rn. 11). Dies erfordert aber eine Gesamtschau und eine auf den konkreten Einzelfall bezogene Prüfung unter Berücksichtigung objektiver Gesichtspunkte und persönlicher und familiärer Umstände. Relevant kann dabei sein, ob die Person in der fraglichen Region eine familiäre Anbindung hat (vgl. VGH BW, Urteil vom 3.11.2017 – A 11 S 1704/17 – juris Rn. 199 zur internen Fluchtalternative im Rahmen des Art. 3 EMRK). Auch der UNHCR geht davon aus, dass die Frage, ob eine Flucht- oder Neuansiedlungsalternative „zumutbar” ist, im jeweiligen Einzelfall unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände der Antragstellenden beurteilt werden muss; maßgebliche Faktoren sind dabei Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Behinderungen, die familiäre Situation und Verwandtschaftsverhältnisse sowie der jeweilige Bildungs- und Berufshintergrund (UNHCR-Richtlinien vom 30.8.2018, S. 122). Der UNHCR hält zwar eine interne Schutzalternative in Kabul grundsätzlich nicht für verfügbar. Dies schließt aber eine Verfügbarkeit im Einzelfall nicht aus.

Ist die Beantwortung der Frage, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, von Einzelumständen abhängig, kann sie nicht grundsätzlich geklärt werden.

Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht im Rahmen der Prüfung von Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG die Umstände des vorliegenden Einzelfalls geprüft und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Kläger in das Netzwerk ihrer Großfamilien in Kabul zurückkehren können. Selbst wenn die Familie nicht in das Netzwerk zurückkehren könnte – so das Verwaltungsgericht weiter –, sei dem Ehemann der Klägerin zu 1. nach seiner freiwilligen Wiedereinreise nach Afghanistan im März 2010 der berufliche Wiedereinstieg ohne Weiteres geglückt. Dies hebe ihn von der Masse der Rückkehrer erheblich ab. Zudem sei er als Informatiker besonders gut ausgebildet und langjährig berufserfahren.

Diese Feststellungen des Verwaltungsgerichts haben die Kläger nicht mit durchgreifenden Verfahrensrügen angegriffen. Soweit sie vortragen, in der Klagebegründung des Ehemanns lasse sich keine Aussage dazu finden, dass er neben den Klägern des vorliegenden Verfahrens weitere Verwandte habe, trifft dies nicht zu. Aus der Klagebegründung des Ehemanns ergibt sich, dass sich die Kläger zusammen mit dem Ehemann der Klägerin zu 1. vor der Ausreise bei dem Vater der Klägerin zu 1. versteckt haben. Die Kläger zeigen auch mit ihrem Einwand, bei ihnen stelle sich im Falle einer Rückkehr dieselbe Problematik wie bei den faktischen Iranern, keinen Verfahrensfehler auf. Sie hatten hinreichend Gelegenheit, hierzu im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorzutragen. Soweit sie sich gegen die Einschätzung des Verwaltungsgerichts wenden, dass der Ehemann der Klägerin zu 1. aufgrund seiner Ausbildung eine Arbeit finden könne, wenden sie sich gegen die Würdigung des Verwaltungsgerichts im konkreten Einzelfall. Damit kann jedoch weder ein Verfahrensfehler noch eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache begründet werden.

Die von den Klägern aufgeworfene Frage,

 „ob ein Afghane, der an Depression leidet, nach mehrjährigem Auslandsaufenthalt nach seiner Rückkehr, eine ausreichende Lebensgrundlage – jedenfalls in Kabul – finden kann“,

stellt sich hier nicht, weil die Kläger nicht an Depressionen leiden.

Die Frage,

„ob ein afghanischer Mann, der vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsland mehrere Jahre für ausländische Streitkräfte tätig war, jedenfalls in Kabul eine ausreichende Lebensgrundlage finden kann.“

ist hier ebenfalls nicht entscheidungserheblich, weil die in der Frage genannten Eigenschaften ebenfalls nicht auf die Kläger zutreffen.

2. Die Bewilligung der von den Klägern beantragten Prozesskostenhilfe für das Zulassungsverfahren kommt nicht in Betracht, weil die Rechtsverfolgung nicht die nach § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO erforderliche hinreichende Erfolgsaussicht bietet.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2, 159 Satz 2 VwGO und § 83b AsylG sowie auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).