Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 01.03.2005, Az.: 1 A 298/01

Abschiebungshindernis; Abschiebungsverbot; administrativ; Asylbewerber; beachtliche Wahrscheinlichkeit; Bedrohung; christliche Taufe; christlicher Glaube; Dissident; Glaubwürdigkeit; Haftstrafe; Menschenrechtsverletzungen; Minderheiten; politische Gesinnung; Unterdrückung; Verfolgungsfurcht; Vietnam

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
01.03.2005
Aktenzeichen
1 A 298/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2005, 50628
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Für die Bewertung, ob eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine politische Verfolgung besteht, kommt es auf eine zusammenfassende Würdigung der Gesamtverhältnisse im Herkunftsland an - einschließlich dortiger Veränderungen.

2. Vietnam stellt sich inzwischen als eines der repressivsten Regime in Asien dar.

3. Eine Kündigung wegen unerwünschter Kontakte zu Ausländern ist ein ernsthafter Hinweis auf eine berechtigte Verfolgungsfurcht im Falle der Rückkehr in das Heimatland.

4. Ein zum christlichen Glauben übergetretener Asylbewerber aus Vietnam kann in seiner Heimat bedroht sein, weil seine Religion dort zu den "abergläubischen Praktiken" zählt.

5. Wiederholte Vorladungen indizieren für Vietnam eine administrative Haft im Falle der Rückkehr.

Tatbestand:

1

Der am ... ... 1973 in H. P. (Vietnam) geborene Kläger - früher buddhistischen, jetzt christlichen - Glaubens erstrebt Abschiebungsschutz gemäß § 60 Abs. 1 und Abs. 2-7 AufenthG.

2

Er verließ Vietnam am 29. März 2000, reiste auf dem Landweg über Russland in das Bundesgebiet ein und stellte hier am 11. Juni 2001 einen Asylantrag, der durch Bescheid vom 18. September 2001 - zugestellt per Einschreiben am 22. September 2001 - abgelehnt und mit dem zugleich festgestellt wurde, dass die Voraussetzungen für einen Abschiebungsschutz gem. den §§ 51 Abs. 1 und 53 AuslG nicht vorliegen. Daneben wurde eine Abschiebungsandrohung für den Fall verfügt, dass der Kläger das Bundesgebiet nicht innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Bescheides verlasse.

3

Mit seiner am 2. Oktober 2001 erhobenen Klage begehrt der Kläger die Verpflichtung der Beklagten, ihm Abschiebungsschutz zu gewähren. Zur Begründung bezieht er sich darauf, dass er wegen seiner Kontakte zu Ausländern in Vietnam Hausarrest erhalten und sogar seine Arbeit verloren habe. Er habe dann monatlich 1-2mal bei der Polizei erscheinen sollen. Außerdem habe er eine Vorladung der Polizei H. N. v. 3.4.2000 - Kriminalabteilung der Kommunepolizei - erhalten, derzufolge er Angaben über seine Beziehungen zu Ausländern machen solle. Im Jahre 2001 habe er sich in Deutschland taufen lassen und sei evangelischer Christ geworden. Schließlich hätten er wie auch seine Mutter im Jahre 2004 wieder polizeiliche Vorladungen erhalten, die zeigten, dass er in Vietnam nach wie vor gesucht werde. Er fühle sich verfolgt. Er beantragt,

4

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 18. September 2001 zu verpflichten festzustellen, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG,

5

hilfsweise die des § 60 Abs. 2 bis Abs. 7 AufenthG vorliegen.

6

Die Beklagte beantragt,

7

die Klage abzuweisen.

8

Sie bezieht sich zur Begründung auf die angefochtene Entscheidung.

9

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

10

Die zulässige Klage ist begründet.

11

Die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG liegen hier vor, weil die geltend gemachte Bedrohung und Verfolgung des Klägers bei und nach einer Rückkehr nach Vietnam mit der erforderlichen, aber auch ausreichenden „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ droht. Der Kläger ist demgemäß als Flüchtling iSd „Genfer Konvention“ v. 28. Juli 1951 (BGBl. II 1953, 559) anzuerkennen (§ 3 AsylVfG n.F.).

12

Auf Abschiebungshindernisse iSv § 60 Abs. 7 AufenthG - ggf. iVm der EMRK (vgl. dazu Urt. d. Nds. OVG v. 21.1.1997 - 10 L 1313/96 -) kommt es damit nicht mehr an.

13

1. Nach § 60 Abs. 1 AufenthG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder auch nur seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Auch eine Bedrohung seiner Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 19 Abs. 2 EU-Grundrechtecharta) führt zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 1 AufenthG (vgl. Nr. 10 der Gründe Richtlinie 2004/83/EG v. 29.4.2004). Soweit diese Regelung voraussetzt, daß der Ausländer im Herkunftsland "bedroht" ist, läßt sie erkennen, daß eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dieser Rechtsgutsverletzung bestehen muß und die bloße, selbst durch Präzedenzfälle bestätigte Möglichkeit allein noch nicht ausreicht. Andererseits reicht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für den Eintritt künftiger politischer Verfolgung aus. Diese Wahrscheinlichkeit ist dann zu bejahen, wenn bei zusammenfassender Wertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für die Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und daher gegenüber den dagegen sprechenden Umständen überwiegen ( BVerwG, DÖV 1993, 389 [BVerwG 03.11.1992 - BVerwG 9 C 21/92]; OVG Lüneburg, Urt. v. 26.8.1993 - 11 L 5666/92 ).

14

Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Menschenwürde- und Freiheitsrechten des Klägers ist hier gegeben.

15

2. Für die Frage, ob staatliche Maßnahmen oder solche anderer Akteure (§ 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG) auf die „politische Einstellung des Betroffenen“ abzielen und sich als Bedrohung darstellen, kommt es nämlich bei zusammenfassender Wertung (s.o.) stets auf die „Gesamtverhältnisse im Herkunftsland“ an sowie auf dortige (objektive) Veränderungen. Diese können die (bloße) Wahrscheinlichkeit einer Bedrohung iSv § 60 Abs. 1 AufenthG nahe legen (vgl. BVerwG, InfAuslR 1994, S. 286 [BVerwG 15.03.1994 - BVerwG 9 C 510/93] / S. 288). Somit ist eine Bedrohungslage unter Berücksichtigung der Genfer Konvention (§ 60 Abs. 5 AufenthG) einschließlich der EMRK sowie der Richtlinie 2004/83/EG des Rates v. 29.4.2004 (über Mindestnormen) - Amtsblatt der EU v. 30.9.04 - L 304/12 ff. - im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG schon bei einer Gesamtschau (Funke-Kaiser, GK-AsylVfG, Loseblattsammlung Bd. 2 / Std. Sept. 2000, § 71 Rdn. 88) mit hieraus ableitbarer Änderung der „Gesamtverhältnisse im Herkunftsland“ gegeben, aber auch bei einer Veränderung der Lebensbedingungen und der behördlichen Reaktionen auf politisches Engagement (Art. 4 Abs. 3 a der gen. Richtlinie 2004/83/EG; VG Gießen, NVwZ 1997, Beilage Nr. 9, S. 69 f [BVerwG 06.09.1995 - BVerwG 1 VR 2.95]). Das politische - auch religiöse - Engagement ist nur ein Anknüpfungspunkt für staatliche Reaktionen und Repressionen.

16

3. Insoweit ist heute - Anfang 2005 - zu berücksichtigen, dass sich Vietnam inzwischen „als eines der repressivsten Regime in Asien“ erwiesen hat (so D. Klein in „Aus Politik und Zeitgeschehen“, hrsg. v. d. Bundeszentrale für politische Bildung, B 21-22/2004, S. 5):

17

„Vietnam erwies sich auch 2003 als eines der repressivsten Regime in Asien...; offene Gewalt auf der Straße, Telefonterror und willkürliche Verhaftungen sind an der Tagesordnung. Vietnam gehört zweifellos zu den schlimmsten Feinden der Menschenrechte und Unterdrückern der Pressefreiheit in Südostasien“ (Klein, aaO., S. 5)

18

Weiterhin ist insoweit zu berücksichtigen, dass nach den derzeitigen Erkenntnissen (vgl. AA Lagebericht v. 12.02.2005) aktive Gegner des Sozialismus und des „Alleinherrschaftsanspruchs der KPV“ inhaftiert oder bestraft werden können und hieran „auch das neue StGB nichts ändert“ (Lagebericht, aaO., S. 5). In Vietnam werden demgemäß „alle elektronischen und Printmedien des Landes durch die Regierung überwacht, das Internet eingeschlossen“ (Lagebericht, aaO. S. 6). Viele Journalisten üben „Selbstzensur“. Versuche, mit politischen Flugblättern oder Zeitungen Resonanz in der Bevölkerung zu erzeugen, „werden strikt unterbunden“ (Lagebericht, aaO. S. 6).

19

Dass in Vietnam nach wie vor kritische bzw. abweichende Meinungen unterdrückt und ggf. verfolgt werden, ergibt sich auch aus dem Jahresbericht 2004 von amnesty international (Vietnam, S. 414 ff.), wo dargestellt ist, dass unabhängigen Menschenrechtsbeobachtern der Zugang zum Land verweigert wird (S. 415 r. Spalte) und die Justiz gegen Regierungskritiker vorgeht. Für die Richtigkeit dieser Darstellung spricht, dass nach der Stellungnahme des „Arbeitskreises für Gerechtigkeit und Frieden an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt“ v. Juni 2004 die Verhältnisse in Vietnam so liegen, dass „Menschenrechtsverletzungen an Andersdenkenden und Intellektuellen sowie die Unterdrückung von ethnischen und religiösen Minderheiten ... an der Tagesordnung sind“.

20

Nach einer Meldung von amnesty international v. 2.1.2004 wurde Dr. N. D. Q. lediglich aufgrund einer Stellungnahme zum Fehlen von Informationsfreiheit festgenommen, nachdem er 1998 aufgrund einer Amnestie frei gekommen war und sich zuvor für die Wahrung der Menschenrechte eingesetzt und deshalb in der Vergangenheit ca. 18 Jahre in vietnamesischen Gefängnissen zugebracht hatte. Für das Menschenrechtsdefizit spricht auch die Verweigerung der Einreise von langjährig im Ausland verbliebenen Vietnamesen durch vietnamesische Behörden (vgl. dazu die sog. „N-Listen“ beim Nds. Landeskriminalamt und die Rückführungsschwierigkeiten bei der Grenzschutzdirektion Koblenz, Urt. des VG Lüneburg, InfAuslR 2002, 367 m.w.N.).

21

4. Im vorliegenden Fall ist zugunsten des Klägers zunächst davon auszugehen, dass er als jemand, der in einem Reisebüro gearbeitet hat (S. 3 der Anhörung v. 13.6.2001), vielfältigen Kontakt zu Ausländern hatte, so wie er das bei seiner Anhörung vom 13. Juni 2001 und auch in der mündlichen Verhandlung vom 1. März 2005 dargelegt hat, und der offensichtlich durch einen zu intensiven Kontakt zu Ausländern, mit denen er auch „ausgegangen ist“ (S. 5 des Anhörungsprotokolls), negativ aufgefallen ist, den staatlichen Organen also verdächtig erschien. Es ist weiterhin davon auszugehen, dass er dann auch gekündigt worden ist.

22

Damit hat der Kläger bereits in seiner Heimat einen „sonstigen ernsthaften Schaden“ erlitten (Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2004/83/EG), was als „ernsthafter Hinweis“ darauf zu werten ist, dass die Verfolgungsfurcht des Klägers auch für die Zukunft begründet ist (Art. 4 Abs. 4 der gen. Richtl.).

23

5. Des weiteren ist hier eine deutliche Bedrohung des Klägers, der zum christlichen Glauben übergetreten ist (vgl. die Darlegungen in der mündlichen Verhandlung vom 1. März 2005 und die dazu überreichten Unterlagen), aus den Strafvorschriften herzuleiten, die Aktivitäten von Religionsgemeinschaften und deren Mitgliedern stark beschränken (Art. 81 c vietnStGB - Verbreitung von Zwietracht - und Art. 199 vietnStGB - Betreiben abergläubischer Praktiken -). Denn die Wirtschaft des Landes entwickelt sich nicht mehr so gut wie zu Beginn der 90er Jahre und die sozialen Probleme haben zugenommen, so daß die Reformpolitik an Glaubwürdigkeit verloren hat und sich viele Menschen den Religionsgemeinschaften zuwenden. In der Stellungnahme von Dr. Will vom 16. Juni 1999 an das VG Freiburg heißt es diesbezüglich:

24

Die vietnamesische Regierung sah sich daher auch veranlaßt, am 19.4.1999 ein Dekret über die Zulässigkeit religiöser Aktivitäten zu erlassen, in dem gefordert wird, die entsprechenden Vorschriften rigoros anzuwenden, um jeden Mißbrauch der Religion im Kampf gegen die Volksmacht zu unterbinden.

25

Die vom Kläger absolvierte „Sommerfreizeit im J. Z.“ in W. vom 30. Juli bis 5. August 2001 und die dabei erfolgte Taufe sind als Nachfluchtgründe iSv. Art. 5 der Richtlinie 2004/83/EG anzuerkennen. Hierbei kommt dem Kläger zugute, dass seine Aussagen „kohärent und plausibel“ erscheinen und der Kläger nach dem Gesamteindruck, den er in der mündlichen Verhandlung vom 1. März 2005 gemacht hat, glaubwürdig ist (Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2004/83/EG).

26

6. Weiterer Anknüpfungspunkt für Verfolgungsmaßnahmen gegen den Kläger ist die Tatsache, daß es in Vietnam sog. „administrative Haftstrafen“ auf der Grundlage der Regierungsverordnung Nr. 31-CP v. 14. April 1997 (Lagebericht d. Ausw. Amtes v. 26.2.1999) gibt, für deren Verbüßung mittlerweile in nahezu jeder vietnamesischen Provinz ein zentrales Lager eingerichtet worden ist. (vgl. Der Einzelentscheider-Brief v. Febr. 1999). Allerdings sind verläßliche Erkenntnisse über die vietnamesische Praxis in diesem Bereich „nur schwer zu erhalten“ (so Bericht des Ausw. Amtes v. 26.2.1999 - Stand: Febr. 1999), so dass unklar ist, welche Personen aufgrund welcher Erkenntnisse in die unstreitig existierenden Lager verbracht und dort - durch welche Methoden auch immer - „abgestraft“ werden.

27

Immerhin ist es hier aber so, dass der Kläger bereits im April 2000, aber auch im letzten Jahr wieder - im August und im Dezember 2004 - unter seiner Adresse in Vietnam Vorladungen der vietnamesischen Polizei erhalten hat, in denen er aufgefordert worden ist zu erläutern, weshalb er sich nicht gesetzestreu verhalten habe. Unter diesen Umständen liegt es nahe, dass der Kläger bei seiner Rückkehr - wie er befürchtet - mit einer Administrativhaft oder vergleichbaren Maßnahmen belegt werden wird.

28

Amnesty International geht davon aus, daß politisch Andersdenkende („Illoyale“) und Oppositionelle, die ihre abweichende Gesinnung offenbart hätten, mit Mitteln staatlicher Maßnahmen aller Art, des Strafrechts sowie durch Haft - ohne jeden Prozeß - in Vietnam drastisch verfolgt würden. Auch durch die ai-Stellungnahme gegenüber dem VG Neustadt/Wstr. vom 7.1.1997 wird bestätigt, daß „regimekritisches“ Verhalten, wozu in Einzelfällen auch schon humanitäre Hilfsaktionen zugunsten von Überschwemmungsopfern im Mekong-Delta zählen können (siehe FR v. 17.8.1995), ggf. hart bestraft wird, u.zw. auf der Grundlage der Staatsschutzvorschriften oder administrativer Haft (s.o.). Auch andere Erkenntnisquellen belegen diese Tendenz der harten Bestrafung „antisozialistischer Tätigkeit“ (ai-Stellungn. v. 2.2.1999, ai-Schr. v. 5.11.1996 an VG Frankf./Oder; Prof. Lulei, Schr. v. 24.2.1998 an VG Frankfurt/Oder; Stellungn. von Dr. G. Will an VG Berlin v. 17. Nov. 1999).

29

Der vietnamesische Dissident Doan Viet Hoat warnte im Februar 1999 denn auch davor zu glauben, daß ein wirtschaftlich prosperierendes Land automatisch auch demokratische Strukturen entfalte; bei einer Abschiebung kritischer Vietnamesen drohe ihnen vielmehr Unterdrückung (so FR v. 6.2.1999). Zudem ist ein 42-seitiges Regierungspapier bekannt geworden, in dem Christen durchgehend als „die bösen Leute“ eingestuft würden, die einer „illegalen Religion“ anhingen (Nürnberger Zeitung v. 30.6.1999). Drei Dissidenten sind inzwischen zu Haftstrafen wegen Verbreitung antikommunistischer Literatur verurteilt worden (so FR v. 25.3.1999).

30

Aufgrund dieser vielschichtigen, von alten Dogmen und einem Kurs der Erneuerung sowie einer - allerdings ins Stocken geratenen (vgl. Nürnberger Zeitung v. 30.6.1999, FAZ v. 2o.3.1999, Dr. Will v. 16.6.1999) - wirtschaftlichen Öffnung des Landes bestimmten Situation Vietnams ist eine Prognose zum Verhalten vietnamesischer Behörden bei der Anwendung des vietStGB und der Befugnis zur administrativen Haft nicht abzugeben - zumal ein politisch begründeter Entscheidungsspielraum einschließlich offener Willkür gerade bei Justizakten zum Staats- und Selbstverständnis Vietnams gehört. Es ist damit mehr oder weniger dem Zufall überlassen, ob jemand repressiv „behandelt“ wird oder nicht. Richter werden nach ihrer politischen Zuverlässigkeit ausgesucht und haben den politischen Organen strikt zu gehorchen. Willkürliche Verhaftungen finden statt, wobei das formale Recht, einen Beistand hinzuzuziehen, nicht einmal eingehalten wird (so Einzelentscheider-Brief Febr. 1999). Im Falle eines auffälligen und vor allem auch inhaltlich regimekritischen, von der vorgegebenen Parteidoktrin abweichenden Verhaltens kann unter diesen Umständen die Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung - mit der erforderlichen Beachtlichkeit - ohne weiteres angenommen werden (vgl. dazu OVG Saarland, aaO.; vgl. die Äußerungen des vietn. Dissidenten Doan Viet Hoat lt. FR v. 6.2.1999; vgl die ai-Stellungnahme v. 2.2.1999).

31

Der Kläger muß dem vietnamesischen Staat damit als ein verfolgungswürdiger, von der staatlich gewünschten Einstellung und Gesinnung abweichender Staatsbürger mit religiöser Bindung (Christentum) erscheinen, der unbedingt einer Sonderbehandlung bedarf. Somit ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Bedrohung und Verfolgung des Klägers iSv § 60 Abs. 1 AufenthG iVm der Richtlinie 2004/83/EG durch jede Art von Schikanen, Repressionen, unmenschlicher Behandlung, freiheitsentziehender Inhaftierung, ggf. auch harte Strafen und „Umerziehung“ in Vietnam gegeben.

32

Nach allem ist der Kläger als Flüchtling iSv § 3 AsylVfG anzuerkennen, ist also festzustellen, dass in seiner Person die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen.

33

Eine Entscheidung zum Vorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 7 AufenthG, die lediglich hilfsweise beantragt worden ist, kann im Hinblick auf die zuvor dargestellte Entscheidung zu § 60 Abs. 1 AufenthG unterbleiben (§ 31 Abs. 3 Nr. 2 AsylVfG analog).

34

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b Abs. 1 AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.