Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 08.03.2005, Az.: 4 A 418/03
Betreuung; Einrichtung; Einrichtungsort; gewöhnlicher Aufenthalt; Kostenerstattung; Lastenausgleich; Lebensmittelpunkt; Mittelpunkt; Sozialhilfe; Sozialhilfeträger; Umzug
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 08.03.2005
- Aktenzeichen
- 4 A 418/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 50998
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 107 Abs 1 BSHG
- § 97 Abs 2 S 2 BSHG
- § 30 Abs 3 S 2 SGB 1
- § 37 S 1 SGB 1
Tatbestand:
Der Kläger nimmt den Beklagten als Sozialhilfeträger auf Kostenerstattung in Höhe von insgesamt 9.008 EUR in Anspruch, die er im Zeitraum vom 27. April 2000 bis zum 31. März 2001 als Hilfe zum Lebensunterhalt und in der Zeit vom 1. Dezember 2000 bis zum 13. April 2002 als Eingliederungshilfe an Herrn C. D. geleistet hat.
Der am 9. September 1969 geborene C. D. befand sich vom 28. Januar 1992 bis zum 20. Januar 2000 im Reha-Zentrum E. en im Gebiet des Beklagten. Vom 1. September 1995 an befand er sich in einer Ausbildung in der überbetrieblichen Ausbildungsstätte des Zentrums und war dort in einem Internat untergebracht. Kostenträger dieses Aufenthalts war das Arbeitsamt F.. Vor 1992 lebte Herr D. von Oktober 1990 bis zum 27. Januar 1992 in der Jugendpsychiatrie in F., davor bei seinen Eltern in G..
Vom 21. Januar 2000 bis zum 12. April 2000 wohnte Herr D. weiterhin im Reha-Zentrum E. en. Er bezog in dieser Zeit Arbeitslosenunterstützung von dem Arbeitsamt H.. Für seine Unterbringung zahlte er einen monatlichen Kostenbeitrag für Verpflegung in Höhe von 100 DM. Gegenüber dem Sozialamt der Stadt G. erklärte er am 30. Mai 2000, dass er nach Beendigung seiner Ausbildung zum Bürokaufmann, die er ohne Abschluss beendete, und der Entlassung, seinen Lebensmittelpunkt nach E. en verlegt und sich dort mit Hauptwohnsitz angemeldet habe. Sein Zimmer in der Einrichtung habe er am 13. April 2000 verlassen und sei nach G. umgezogen, wo er Leistungen des Arbeitsamtes und der Sozialhilfe beantragt habe.
Die im Auftrag des Klägers tätige Stadt G. - Sozialamt - gewährte C. D. in der Zeit vom 27. April 2000 bis zum 31. März 2001 Hilfe zum Lebensunterhalt in einer Höhe von insgesamt 2.352,90 EUR. Ab dem 16. Februar 2001 übernahm der Kläger die Kosten für ein (ambulantes) „Betreutes Wohnen“ des Herrn D. nach §§ 39 ff BSHG, die sich für den Zeitraum vom 1. Dezember 2000 bis zum 13. April 2002 auf insgesamt 6.655,10 EUR belaufen.
Auf den Antrag des Klägers vom 31. Mai 2000 erteilte die für den Beklagten tätige Stadt I. zunächst am 14. Juli 2000 ein Kostenanerkenntnis. Der Beklagte vertrat demgegenüber die Auffassung, Herr D. habe nach Beendigung seiner Ausbildung einen gewöhnlichen Aufenthalt in E. en nicht begründet. Daran ändere auch die Ummeldung des Hauptwohnsitzes nichts. Mit Schreiben vom 21. August 2002 nahm er daher das von der Stadt I. erteilte Kostenanerkenntnis zurück und lehnte den Kostenerstattungsanspruch des Klägers ab.
Der Kläger hat am 9. Dezember 2003 Klage erhoben. Zur Begründung führt er aus, seine Zuständigkeit sei mit dem Ende der Betreuungsbedürftigkeit des Herrn D. am 20. Januar 2000 erloschen. Dieser habe durch sein Verweilen in der Einrichtung in E. en einen neuen gewöhnlichen Aufenthalt begründet. Das Zimmer in der Einrichtung habe ihm lediglich als Unterkunft gedient, hierfür sei von ihm ein monatlicher Kostenbeitrag von 100 DM entrichtet worden. Herr D. habe während der Dauer seines weiteren Aufenthalts in E. en vom 21. Januar 2000 bis zum 13. April 2000 vom Arbeitsamt H. Arbeitslosenunterstützung erhalten. Dies und die Ummeldung seines Hauptwohnsitzes mache deutlich, dass er im fraglichen Zeitraum den Schwerpunkt seiner Lebensbeziehung nach E. en verlagert gehabt habe. Nach seiner Rechtsauffassung sei dem Verlassen einer Einrichtung gleichzusetzen, wenn keine Heimbetreuungsbedürftigkeit mehr vorliege bzw. der Hilfeempfänger tatsächlich nicht in der Betreuung verbleibe. Für die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts in E. en spreche die Dauer des Aufenthalts von immerhin fast drei Monaten, der Umstand, dass ein Ende des Aufenthalts in I. nicht absehbar oder mit dem Rehabilitationszentrum konkret vereinbart gewesen sei, die Gewährung von Leistungen durch das Arbeitsamt H. sowie die spätere schriftliche Erklärung des Herrn D. vom 30. Mai 2000, in der genannten Zeit im E. er Meldedienst gearbeitet und dort Kassetten vervielfältigt zu haben.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich,
den Beklagten zu verurteilen, ihm die Kosten der im Zeitraum vom 27. April 2000 bis zum 31. März 2001 an Herrn C. D. geleisteten Hilfe zum Lebensunterhalt in Höhe von 2.352,90 EUR und der im Zeitraum vom 1. Dezember 2000 bis zum 13. April 2002 geleisteten Kosten der Eingliederungshilfe in Höhe von 6.655,10 EUR, insgesamt 9.008 EUR, nebst 4 % Zinsen ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung führt er aus, bei dem „Reha-Zentrum E. en“ handele es sich um eine Einrichtung im Sinne von § 97 Abs. 4 BSHG, in der ein gewöhnlicher Aufenthalt nicht begründet werden könne. Dass Herr D. nach Beendigung der Betreuung noch drei Monate in der Einrichtung gelebt habe, zwinge nicht zu der Bewertung, dass dort ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet worden sei. Dagegen spreche bereits, dass der Betreffende nur drei Monate nach Beendigung der Ausbildung wieder zurück nach G. gezogen sei, wo seine Familie lebe. Dass der (weitere) Aufenthalt in der Einrichtung vom 20. Januar 2000 bis zum 13. April 2000 nur als Übergangslösung angesehen werden könne, der nicht auf die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts gezielt habe, sei auch schon daran erkennbar, dass Herr D. lediglich einen symbolischen Betrag für Unterkunft und Verpflegung gezahlt habe, der keinesfalls ausreichend sei, um eine Wohnung und zusätzlich die Verpflegung zu bezahlen. Maßgeblich sei in diesem Zusammenhang auch zu berücksichtigen, dass das Reha-Zentrum als Einrichtung ohnehin auf Dauer nicht in der Lage gewesen wäre, einen seiner Heimplätze (praktisch) ohne Bezahlung Herrn D. zu überlassen. Dass er Leistungen des Arbeitsamtes H. erhalten und seinen Hauptwohnsitz in I. angemeldet habe, stehe bei dieser Sachlage seiner Beurteilung nicht entgegen.
Wegen der Einzelheiten und des weiteren Vorbringens wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Klägers und des Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat Erfolg.
Der Kläger hat Anspruch auf die geltend gemachte Erstattungsleistung nach § 107 Abs. 1 BSHG.
Verzieht eine Person vom Ort ihres bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltes, so ist gemäß der „Kostenerstattung bei Umzug“ betreffenden Regelung des § 107 Abs. 1 BSHG i.d.F. von Art. 7 Nr. 26 des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms - FKPG - vom 23. Juni 1993 (BGBl. I S. 944) der Sozialhilfeträger des bisherigen Aufenthaltsortes verpflichtet, dem nunmehr zuständigen örtlichen Träger der Sozialhilfe die dort erforderlich werdende Hilfe außerhalb von Einrichtungen im Sinne des § 97 Abs. 2 Satz 2 BSHG zu erstatten, wenn die Person innerhalb eines Monats nach dem Aufenthaltswechsel der Hilfe bedarf. § 107 BSHG bewirkt einen Lastenausgleich im Wege „horizontaler“ Kostenerstattung unter örtlichen Trägern der Sozialhilfe (BVerwG, Urt. v. 2.10.2003 - 5 C 22.02 -, ZFSH 2004, S. 172, 173 m.w.N.; kritisch W. Schellhorn/H. Schellhorn, BSHG, Kommentar, 16. Aufl. 2002, § 107 Rn. 3; vgl. auch Oestreicher/Schel-ter/Kunz, BSHG, Kommentar, Loseblatt, Stand: Juni 2003, § 107 Rn. 2).
Bei der Auslegung des Rechtsbegriffs des gewöhnlichen Aufenthalts in § 107 BSHG ist von der Legaldefinition in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I auszugehen (BVerwG, Urt. v. 26.2.2004, - 5 L 39.02 -, FEVS 55, 302; Urt. v. 18.3.1999 - 5 C 11.98 -, Buchholz 436.0 § 107 BSHG Nr. 1; Urt. v. 7.10.1999 - 5 C 21.98 -, FEVS 51, 385 ff., NdsOVG, 12. Senat (Berichterstatter), Urt. v. 6.1.2003 - 12 LB 538/02 - m.w.N.). Da das Bundessozialhilfegesetz keine näheren Regelungen zur Bestimmung des Rechtsbegriffs des gewöhnlichen Aufenthalts enthält, gilt gemäß § 37 Satz 1 SGB I die Legaldefinition in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I mit der Maßgabe, dass der unbestimmte Rechtsbegriff unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck sowie Regelungszusammenhang der jeweiligen Norm auszulegen ist (BVerwG, Urt. v. 18.3.1999, a.a.O.; Urt. v. 31.8.1995 - 5 C 11.94 -, BVerwGE 99, 158, 162). Nach § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I hat jemand den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Ein dauerhafter oder längerer Aufenthalt ist nicht erforderlich, es genügt vielmehr, dass der Betreffende sich an dem Ort oder in dem Gebiet „bis auf weiteres“ im Sinne eines zukunftsoffenen Verbleibs aufhält und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat (BVerwG, Beschl. v. 3.7.2003 - 5 B 211/02 -, juris; Urt. v. 23.10.2001 - 5 C 3.00 -, FEVS 53, 200 ff.; Urt. v. 18.3.1999, a.a.O.; Urt. v. 18.5.2000 - 5 C 27.99 -, BVerwGE 111, 213, 215 ff).
Hier ist nach Würdigung aller Umstände davon auszugehen, dass sich Herr D. nach Abschluss seiner Ausbildung in diesem Sinne zukunftsoffen in E. en aufgehalten hat und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hatte.
Dafür spricht zunächst die Dauer des weiteren Aufenthalts von Herrn D. nach Beendigung seiner Ausbildung am 20. Januar 2000 bis zum 12. April 2000 von annähernd drei Monaten, die die für einen bloßen unbeachtlichen „Anschlussaufenthalt“ vor Auszug aus der Einrichtung anzunehmende Dauer deutlich überschreitet. Während dieser Zeit hat Herr D. in der Einrichtung auch keine Betreuungsleistungen mehr erhalten. Das ergibt sich aus dem Schreiben des Geistlichen Rüstzentrums vom 24. Januar 2004, in dem dieses auf die vom Kläger am 22. Januar 2004 gestellten Fragen, u.a. ob Herr D. während dieses Zeitraumes weiter betreut worden sei, erwidert hat, dass dieser „... als Gast in unserer Einrichtung (gewohnt hat), die ihm lediglich als Unterkunft diente.“ Für Einrichtungsbewohner, die (etwa durch Arbeitsaufnahme) aus der Betreuung der Einrichtung ausscheiden, ist § 109 BSHG jedoch nicht mehr einschlägig, so dass der in der Einrichtung begründete tatsächliche Aufenthalt rechtlich relevant wird (vgl. Mergler/Zink, BSHG, Kommentar, Loseblatt, § 109 Rdnr. 11). Für einen gewöhnlichen Aufenthalt spricht im Übrigen auch die Übernahme der Leistungsgewährung durch das Arbeitsamt H. und die Ummeldung des Hauptwohnsitzes durch Herrn D. nach E. en.
Der weitere Aufenthalt des Herrn D. in der Einrichtung ist auch in dem o.g. Sinne als zukunftsoffener Verbleib „bis auf weiteres“ anzusehen. So war nach Abschluss der Ausbildungsmaßnahme offenbar nicht klar, wo Herr D. künftig leben würde. Aus dem Schreiben der Einrichtung an das Arbeitsamt F. vom 18. Februar 2000 ergibt sich, dass eine Möglichkeit für seine weitere Unterbringung und Eingliederung erst noch gesucht wurde. So heißt es dort: „Unter dem Aspekt, einen langfristig geeigneten Rahmen von Förderung, Begleitung und Unterstützung zu finden, wurde es Herrn D. ermöglicht, zunächst noch im E. er Reha-Zentrum zu bleiben.“ Auch nach seinem Auszug Mitte April ist er zunächst in die Wohnung J. 16 in G. gezogen und hielt sich offenbar tagsüber maßgeblich bei seinen Eltern auf, bevor er im Dezember 2000 in die Einrichtung „Betreutes Wohnen“ im K. 10 wechselte.
Soweit der Beklagte dem entgegen hält, dass es sich bei dem weiteren Aufenthalt in der Einrichtung von vornherein nur um eine Übergangslösung habe handeln können, weil das Reha-Zentrum auf Dauer nicht in der Lage gewesen sei, einen Heimplatz auf diese Weise praktisch ohne Entgelt lediglich für einen symbolischen Betrag von 100 DM monatlich für Unterkunft und Verpflegung mit Herrn D. zu belegen, spricht dies zwar gegen die Dauerhaftigkeit seines weiteren Aufenthalts in der Einrichtung. Die Dauerhaftigkeit der Wohnsitznahme ist aber im Rahmen von § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I nicht das maßgebliche Kriterium (vgl. zum gewöhnlichen Aufenthalt Fichtner, BSHG, 2. Auflage 2003, § 97 Rn. 15 ff, 23 ff; Schellhorn, a.a.O., § 97 Rn. 28 ff). Vielmehr kann auch ein von vornherein nur als vorübergehend anzusehender Aufenthalt die Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllen, wenn er in dem o.g. Sinne „zukunftsoffen“ ist. Davon ist vorliegend jedoch - wie oben dargelegt - auszugehen.
Der Anspruch auf Zahlung von Prozesszinsen ab Rechtshängigkeit hat seine Grundlage in §§ 288, 291 BGB (BVerwG, Urt. v. 22.1.2001 - 5 C 34.01 - u.v. 18.5.2000 - 5 C 27.99 -, juris).
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2, 2. Halbs. VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.