Landgericht Aurich
Urt. v. 04.11.2016, Az.: 1 S 139/16

vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten

Bibliographie

Gericht
LG Aurich
Datum
04.11.2016
Aktenzeichen
1 S 139/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2016, 43569
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

nachfolgend
BGH - 06.02.2017 - AZ: VI ZR 538/16

Tenor:

1. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Amtsgerichts Emden vom 23.06.2016 wie folgt abgeändert:

Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin von einer außergerichtlichen Gebührenforderung der Rechtsanwälte B. & B. in Höhe von 78,90 EUR freizustellen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin drei Viertel und die Beklagte ein Viertel.

2. Die Revision wird zugelassen.

3. Der Streitwert für die Berufungsinstanz wird auf bis 500,- EUR festgesetzt.

Gründe

A.

Die Parteien streiten über die Höhe der Erstattungsfähigkeit vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten nach einem Verkehrsunfall.

Die Klägerin war am 09.10.2014 in einen Verkehrsunfall verwickelt. Die Haftung des bei der Beklagten versicherten Unfallgegners war dabei dem Grunde nach unstreitig. Die Klägerin holte in Folge des Unfalls über einen öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen ein Schadensgutachten ein. Dieses kam zu dem Ergebnis, dass der Wiederbeschaffungswert 6.700,- EUR brutto betrug und dass mit Nettoreparaturkosten i.H.v. 3.263,56 EUR zu rechnen sei. Die Wertminderung des klägerischen Fahrzeugs bezifferte der Sachverständige auf 400,- EUR. Auf Basis dieser Werte machte der klägerische Prozessbevollmächtigte mit Schreiben vom 28.10.2015 einen vorläufigen Schadensersatzanspruch i.H.v. 4.338,30 EUR (3.263,56 EUR + 400,- EUR + 649,74 EUR Sachverständigenkosten + 25,- EUR Kostenpauschale) geltend.

Die Beklagte bemängelte mit Schreiben vom 09.11.2015, dass der Sachverständige keinen Restwert ermittelt hatte und übersandte mit einem weiteren Schreiben vom gleichen Tage an die Klägerin ein Restwertangebot eines Autohauses aus Leipzig über einen Betrag in Höhe von 3.100,- EUR.

Nach Beratung durch ihren Prozessbevollmächtigten entschloss sich die Klägerin das Unfallfahrzeug zu veräußern und stattdessen ein Ersatzfahrzeug zu erwerben. Mit Schreiben vom 19.11.2015 machte der klägerische Prozessbevollmächtigte daher einen neuen vorläufigen Schadensersatzanspruch i.H.v. 3.204,99 EUR (5.630,25 EUR Wiederbeschaffungswert netto - 3.100,- EUR Restwert + 649,74 EUR Sachverständigenkosten + 25,- EUR Kostenpauschale) geltend.

Mit Schreiben vom 30.11.2015 übermittelte der Sachverständige drei Restwertangebote des regionalen Marktes. Das höchste lag bei 2.750,- EUR.

Nachdem die Klägerin ein Ersatzfahrzeug erworben hatte, bezifferte der klägerische Prozessbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 30.11.2015 den Schadensersatzanspruch gegenüber der Beklagten auf 5.708,14 EUR (6.700,- EUR Wiederbeschaffungswert brutto - 3.100,- EUR Restwert + 70,40 An- und Abmeldekosten + 649,74 EUR Sachverständigenkosten + 25,- EUR Kostenpauschale + 1.363,- EUR Nutzungsentschädigung für 47 Tage a 29,- EUR).

Die beklagte Haftpflichtversicherung zahlte in der Sache insgesamt 4.954,14 EUR hierauf, da sie lediglich einen Nutzungsausfall von 21 Tagen a 29,- EUR anerkannte (609,- EUR), was die Klägerin nicht mehr weiter angriff. An den klägerischen Prozessbevollmächtigen zahlte die Beklagte auf Basis der 4.954,14 EUR vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren i.H.v. 492,54 EUR.

Die Klägerin ist der Auffassung, dass dieser Betrag zu gering ist, da sich der Gegenstandswert der anwaltlichen Tätigkeit nach dem Wiederbeschaffungswert des verunfallten Pkws und nicht nach dem Wiederbeschaffungsaufwand richten müsse. Mit ihrer Klage verlangt sie auf Basis eines Gegenstandswertes von 8.054,14 EUR (6.700,- EUR Wiederbeschaffungswert brutto + 70,40 An- und Abmeldekosten + 649,74 EUR Sachverständigenkosten + 25,- EUR Kostenpauschale + 609,- EUR Nutzungsentschädigung für 21 Tage a 29,- EUR) daher zusätzliche 315,59 EUR (= 808,13 EUR - 492,54 EUR).

Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen, da es der Auffassung war, dass sich der Geschäftswert nach dem Wiederbeschaffungsaufwand richte. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung. Die Beklagte verteidigt die angefochtene Entscheidung unter Bezugnahme auf ihren erstinstanzlichen Vortrag.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil Bezug genommen, § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO.

B.

Die zulässige, insbesondere form- und fristgerechte Berufung hat in der Sache nur teilweise Erfolg.

I.

Ein Anspruch der Klägerin gegen die Beklagte auf Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten besteht gemäß § 7 Abs. 1 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 VVG noch in Höhe von 78,90 EUR. Ein weitergehender Anspruch ist durch die Zahlung von 492,54 EUR im Wege der Erfüllung i.S.d. § 362 Abs. 1 BGB dagegen untergegangen.

1. Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass bei Verkehrsunfällen auch ohne Eintritt eines Verzuges der Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten bzw. die Freistellung von diesen im Wege des Schadensersatzes nach den §§ 249ff. BGB als erforderliche Rechtsverfolgungskosten verlangt werden kann.

2. Der BGH hat zudem entschieden, dass einem Erstattungsanspruch eines Geschädigten hinsichtlich der ihm entstandenen vorgerichtlichen Anwaltskosten grundsätzlich im Verhältnis zum Schädiger (nur) der Gegenstandswert zu Grunde zu legen ist, der der berechtigten Schadensersatzforderung entspricht (BGH, NJW 2008, 1888). Auf Verkehrsunfälle lässt sich diese Entscheidung allerdings nur insoweit übertragen, als darin der universelle Grundsatz zum Ausdruck kommt, dass ein Geschädigter durch ein schädigendes Ereignis nicht besser oder schlechter gestellt werden darf, als er ohne dieses Ereignis stünde. In dem der zitierten Entscheidung zu Grunde liegenden Fall war die Geltendmachung der Anwaltskosten nämlich vom Eintritt des Verzugs abhängig, sodass - soweit dieser nicht vorlag - kein Anspruch auf die insoweit entstandenen Mehrkosten bestand, während bei einem Verkehrsunfall der dem Geschädigten entstandene Schaden von Beginn des Mandatsverhältnisses an auch in der anwaltlichen Vergütung liegt, die er seinem Rechtsanwalt für dessen außergerichtliche Tätigkeit schuldet.

Dies gilt freilich nur, soweit diese erforderlich war, der Geschädigte den Rechtsanwalt also mit der Wahrnehmung seiner berechtigten Interessen, d.h. einer möglichst umfassenden, legalen Unfallregulierung betraut hat, da Kosten, die allein dadurch entstehen, dass der Rechtsanwalts mit der Eintreibung von vorne herein überzogenen Forderungen beauftragt wird, nach dem obigen Grundsatz nicht auf die Schädigerseite umgelegt werden können. Weil es sich bei dem Schadensersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten um einen materiellen Kostenerstattungsanspruch handelt, kann auch ein Mitverschulden bzw. Verursachungsbeitrag des Geschädigten nicht dazu führen, dass dieser vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten auf Basis eines höheren Gegenstandswertes als dem tatsächlich ersatzfähigen Schaden auf den Unfallgegner abwälzen kann. Innen- und Außenverhältnis können daher je nach Konstellation sowohl gleichlaufen, als auch auseinanderfallen.

3. Vorliegend geht es indessen nicht darum, welche im Innenverhältnis angefallen Positionen die Klägerin der Beklagte in Rechnung stellen kann, sondern darum, in welcher Höhe der Klägerin überhaupt vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten entstanden sind. Dies ist, da Rechtsanwaltsgebühren, wenn das RVG wie hier nichts anderes bestimmt, nach dem Wert berechnet werden, den der Gegenstand der anwaltlichen Tätigkeit hat und der Gegenstand der Tätigkeit das Recht oder das Rechtsverhältnis ist, auf das sich auftragsgemäß die Tätigkeit des Rechtsanwalts bezieht (BeckOK RVG, § 2 RVG, Rn. 9), davon abhängig, in welcher Höhe der Klägerin durch den Unfall in der Sache ein Schaden i.w.S. entstanden war.

Bei außergerichtlichen Unfallregulierungen ist insbesondere umstritten, ob bei der Ermittlung des Gegenstandswertes der reine Wiederbeschaffungswert anzusetzen ist oder ob hiervon erst noch ein Restwert in Abzug zu bringen ist.

a) In der Rechtsprechung wird letzteres zum Teil (vgl. AG Wesel, BeckRS 2011, 22071; AG Ahlen, BeckRS 2013, 12024; LG Aachen, BeckRS 2015, 15535; AG Norderstedt, NJW 2015, 3798), in der Literatur sogar überwiegend verneint (Mayer/Kroiß, RVG, 6. Aufl. 2013, Anhang I, Kap. IX., Rn. 29; Dötsch, ZfR 2013, 490; Poppe, NJW 2015, 3355ff.; Schneider, DAR 2015, 177f.). Die Argumente gegen die Anrechnung des Restwertes sind zum einen, dass der Wiederbeschaffungswert die Schadenshöhe für den Geschädigten im Unfallzeitpunkt widerspiegle und die Verwertung des Pkws nur eine spätere Kompensation darstelle, und zum anderen, dass der Rechtsanwalt auch die Richtigkeit des Restwertes prüfe und sich die anwaltliche Tätigkeit daher auch auf die Prüfung des Vorteilsausgleiches erstrecken müsse.

b) Andere Gerichte haben - wie hier das Amtsgericht Emden - allerdings für die Berechnung des Gegenstandswertes gleichwohl auf den Wiederbeschaffungsaufwand abgestellt (AG Koblenz, BeckRS 2014, 23514; AG Dinslaken BeckRS 2014, 22418;AG Buchen, BeckRS 2015, 14722; AG Bad Hersfeld, BeckRS 2015, 05638).

c) Auch aus Sicht der Kammer führt der Umstand, dass der Geschädigte eines Verkehrsunfalls regelmäßig mit dem Begehren an seinen Rechtsanwalt herantritt, vollen Schadensersatz im Rahmen der ihm zustehenden Beträge zu erzielen, im Innenverhältnis nicht dazu, dass der Wiederbeschaffungswert ungekürzt in den adäquat entstandenen Schadensersatzanspruch „Anwaltskosten“ einfließt. Das heißt allerdings nicht, dass stets nur der Wiederbeschaffungsaufwand als Gegenstandswert herangezogen werden kann. Entscheidend ist vielmehr, worüber der Rechtsanwalt seinen Mandanten jeweils beraten hat.

d) In Verkehrsunfallsachen gehört es generell zur Tätigkeit eines Rechtsanwalts, den Mandanten darüber zu beraten, in welcher Höhe ihm Schadensersatzansprüche zustehen. Im Normalfall - und so auch hier - muss dazu zunächst mit sachverständiger Hilfe ermittelt werden, welche Beträge - unabhängig von der Frage einer ggf. auszuwerfenden Haftungsquote - überhaupt im Raume stehen. Erst wenn dies der Fall ist, kann der Rechtsanwalt das Interesse des Mandanten - und damit den Gegenstandswert seiner Tätigkeit - beziffern.

Vorliegend beliefen sich der Wiederbeschaffungswert und die voraussichtlichen Reparaturkosten nach dem eingeholten Gutachten auf 6.700,- EUR bzw. 3.883,46 EUR brutto (3.263,56 EUR netto). Da durch den Sachverständigen jedoch ursprünglich kein Restwertangebot eingeholt worden war und die Beklagte somit als erstes ein Restwertangebot i.H.v. 3.100,- EUR vorlegte, über das sich die Klägerin mit ihrem Prozessbevollmächtigtem beriet und das sie auch annahm, bevor seitens des Sachverständigen schließlich doch noch drei Restwertangebote übermittelt wurden, ist das von der Beklagten am 09.11.2015 vorgelegte Restwertangebot für die Bestimmung des Interesses der Klägerin maßgeblich. Es kommt dabei nicht darauf an, dass es sich nicht um ein Angebot des regionalen Marktes handelte, weil die Klägerin bereits erklärt hatte, dass sie es gegen sich gelten lassen würde. Die Frage, ob ein durch eine Versicherung später abgegebenes höheres Restwertangebot zu einer Reduzierung des Gegenstandswertes führt, oder ob nur der Restwert in Abzug zu bringen ist, wie ihn der vom Geschädigten beauftragte Sachverständige in seinem Gutachten ermittelt hat (AG Frankfurt a.M., BeckRS 2010, 32061), musste die Kammer somit nicht entscheiden.

e) Daraus folgt, dass ein Fall vorliegt, in dem der Reparaturaufwand zwischen Wiederbeschaffungsaufwand und Wiederbeschaffungswert lag. In dieser Konstellation kann der Geschädigte entweder sein Fahrzeug reparieren lassen (bis maximal zum Wiederbeschaffungswert) oder unter Verwertung des Restwertes eine Ersatzbeschaffung vornehmen, die auf den Wiederbeschaffungsaufwand begrenzt ist (m.w.N. Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 24. Aufl. 2016, § 249 BGB, Rn. 53ff.). Da dies die Frage ist, über die ein Rechtsanwalt einen Mandanten, der ihn mit dem Ziel, vollen Schadensersatz im Rahmen der ihm zustehenden Beträge zu erlangen, aufgesucht hat, berät, bemisst sich der Gegenstandswert der anwaltlichen Vergütung nach dem jeweils höheren Betrag, ggf. zuzüglich weiterer Schadensersatzpositionen. Für den konkreten Fall heißt das, dass ein Gegenstandswert von 3.883,46 EUR (voraussichtliche Reparaturkosten brutto) entstanden war, zu dem noch die weiteren oben aufgeführten Schadenspositionen hinzutreten (70,40 An- und Abmeldekosten + 649,74 EUR Sachverständigenkosten + 25,- EUR Kostenpauschale + 609,- EUR Nutzungsentschädigung für 21 Tage a 29,- EUR). Insgesamt lag der Gegenstandswert daher bei bis 6.000,- EUR.

4. Die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten, die die Klägerin ihrem Prozessbevollmächtigtem schuldet und bezüglich derer sie Freistellung von der Beklagten verlangen kann, belaufen sich daher nicht auf 492,54 EUR (393,90 EUR 1,3 Geschäftsgebühr + 20,- EUR Pauschale + 78,64 EUR MwSt.), sondern auf 571,44 EUR (460,20 EUR 1,3 Geschäftsgebühr + 20,- EUR Pauschale + 91,24 EUR MwSt.). Da dieser Anspruch erst i.H.v. 492,54 EUR erfüllt wurde, steht der Klägerin somit noch ein Anspruch auf Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten i.H.v. 78,90 EUR zu.

Im Übrigen war die Berufung zurück- und die Klage abzuweisen.

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 S. 1 ZPO.

III.

Die Revision war zuzulassen, da die Sachegrundsätzliche Bedeutung hat. Sie betrifft eine Vielzahl von Fällen und ist bislang nicht höchstrichterlich entschieden worden. Auch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert eine Entscheidung des Revisionsgerichts, da es bereits eine Vielzahl divergierender Gerichtsentscheidungen über die streitgegenständliche Frage gibt. Die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO für eine Zulassung der Revision liegen damit vor.