Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 26.04.2016, Az.: L 7 BK 7/15

Rückforderung von vorläufig bewilligtem Kinderzuschlag; Rückzahlungsvorbehalt; Hinreichende inhaltliche Bestimmtheit; Zulässigkeit der Rückforderung eines vorläufig bewilligten Kinderzuschlags

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
26.04.2016
Aktenzeichen
L 7 BK 7/15
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2016, 16639
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2016:0426.L7BK7.15.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Braunschweig - 28.05.2015 - AZ: S 4 BK 1/15

Fundstelle

  • NZS 2016, 519-520

Amtlicher Leitsatz

Die von der Familienkasse in Umsetzung des BSG-Urteils vom 2.11.2012 - B 4 KG 2/11 R verwendete Formulierung bei vorläufigen Bewilligungsbescheiden unter Rückzahlungsvorbehalt ist hinreichend bestimmt und stellt eine wirksame Nebenabrede dar.

Redaktioneller Leitsatz

1. Nach Auffassung des BSG ist für eine vorläufige Leistungsgewährung unter Rückzahlungsvorbehalt auch im Kinderzuschlagsrecht eine ausdrückliche gesetzliche Regelung erforderlich.

2. Um gleichwohl der besonderen Problemlage bei schwankendem Einkommen gerecht zu werden, und einen Leistungsanspruch - sei es nur vorläufig - zu realisieren, wird bis zu einer gesetzlichen Regelung in Fortführung der Rechtsprechung des BSG zum Schlechtwettergeld die grundsätzliche Ermächtigung für Vorwegzahlungen eines Leistungsanspruchs aus § 32 Abs. 1 SGB X anerkannt.

3. Die Nebenbestimmung (Rückzahlungsvorbehalt) muss aber hinreichend bestimmt im Sinne des § 33 SGB X sein, das heißt sie muss nach ihrem Regelungsgehalt in sich widerspruchsfrei sein und den Betroffenen bei Zugrundelegung der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers in die Lage versetzen, die in ihr getroffene Rechtsfolge vollständig, klar und unzweideutig zu erkennen und sein Verhalten daran auszurichten.

4. Der Senat folgt dieser Rechtsprechung ausdrücklich, weil sonst die Umgehung des Vertrauensschutzes aus §§ 45, 48 SGB X durch die endgültige Bewilligung nicht zu rechtfertigen wäre.

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Braunschweig vom 28. Mai 2015 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Rückforderung von vorläufig bewilligtem Kinderzuschlag (§ 6a Bundeskindergeldgesetz - BKGG -) für die Monate März und April 2014 in Höhe von 1.920,00 EUR.

Die Beklagte bewilligte mit Bescheid vom 4. Dezember 2013 Kinderzuschlag unter dem Vorbehalt der Rückforderung gemäß § 32 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch - SGB X - für die im Haushalt des Klägers und seiner Ehefrau lebenden acht Kinder für den Zeitraum von Dezember 2013 bis April 2014 in Höhe von 960,00 EUR monatlich. Der vorläufigen Bewilligung legte die Beklagte ein voraussichtliches Einkommen von 1.414,41 EUR monatlich zugrunde. Der vorläufige Bewilligungsbescheid vom 4. Dezember 2013 enthielt folgenden Zusatz:

"Da ihre Einkommenssituation für den gesamten Bewilligungsabschnitt noch nicht abschließend beurteilt werden kann, aber das Bedürfnis für eine vorzeitige Leistungsbewilligung vor Abschluss aller notwenigen Ermittlungen besteht, wird der Kinderzuschlag vorläufig gewährt und stellt insoweit eine Vorwegzahlung dar. Sie müssen daher damit rechnen, den gewährten Kinderzuschlag wieder zurückzuzahlen, sofern der Anspruch auf Kinderzuschlag im Nachhinein aufgrund veränderter Tatsachen entfällt oder niedriger ausfällt als bewilligt."

Mit Bescheid vom 5. Juni 2014 forderte die Beklagte die Erstattung von unter Vorbehalt gezahltem Kinderzuschlag für die Zeit Dezember 2013 - April 2014 in Höhe von 1.975,00 EUR. Aus den später eingereichten Verdienstbescheinigungen errechne sich nach abschließender Prüfung für die Monate Dezember 2013 - Februar 2014 ein zu berücksichtigendes durchschnittliches Einkommen von 1.458,63 EUR und für März 2014 - April 2014 in Höhe von 1.642,63 EUR monatlich. Daher habe ein Anspruch auf Kinderzuschlag nur in verminderter Höhe bestanden, nämlich für Dezember 2013 in Höhe von 935,00 EUR, für Januar und Februar 2014 in Höhe von 945,00 EUR und für März bis April 2014 in Höhe von jeweils 0,00 EUR.

Mit Änderungsbescheid vom 16. Oktober 2014 teilte die Beklagte mit, dass nach einer Neuberechnung unter Berücksichtigung der höheren Kfz-Haftpflicht und der geänderten Kosten für Unterkunft und Heizung der Kinderzuschlag für Dezember 2013 zu Recht gezahlt worden sei und für Januar - Februar 2014 wegen der Änderung der Regelsätze ein Anspruch auf Kinderzuschlag von 970,00 EUR monatlich bestanden habe. Mit dem den Widerspruch im Übrigen zurückweisenden Widerspruchsbescheid vom 29. Oktober 2014 bezifferte die Beklagte die Erstattungsforderung auf 1.960,00 EUR, später reduziert auf 1.920,00 EUR.

Am 12. Januar 2015 hat der Kläger beim Sozialgericht (SG) Braunschweig Klage erhoben, die er trotz Aufforderung nicht begründet hat. Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 28. Mai 2015 der Klage stattgegeben und den Bescheid der Beklagten vom 5. Juni 2014 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2014 aufgehoben. In den Gründen hat es ausgeführt, dass es für das Rückforderungsbegehren an einer Rechtsgrundlage mangele. Die getroffene Nebenbestimmung über den Rückforderungsvorbehalt sei nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 2. November 2012 - B 4 KG 2/11 R - nicht hinreichend bestimmt im Sinne des § 33 SGB X. Denn der Bewilligungsbescheid der Beklagten sei mit demjenigen, über den das BSG geurteilt habe, identisch.

Gegen den am 8. Juni 2015 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Beklagte am 1. Juli 2015 Berufung eingelegt. Sie trägt vor, aus der zitierten Entscheidung des BSG gehe lediglich hervor, dass die früher von der Beklagten in den Bewilligungsbescheiden verwendete Formulierung einer Zahlung unter Rückforderungsvorbehalt keine wirksame Vorwegzahlungsanordnung gemäß § 32 SGB X darstelle. Aufgrund der BSG-Entscheidung habe die Beklagte jedoch in ihren neuen Bewilligungsbescheiden eine andere Formulierung verwendet, aus der nunmehr für den Empfänger klar erkennbar sei, dass es sich um eine vorläufige Bewilligung und eine Vorwegzahlung handele.

Die Beklagte beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Braunschweig vom 28. Mai 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Der Kläger trägt vor, der Gerichtsbescheid sei fehlerhaft und die Berufung werde weiterverfolgt. Ein ordentliches Anhörungsverfahren vor der Aufhebung habe nicht stattgefunden. Im Übrigen verkenne die Beklagte, dass der älteste Sohn F. seit dem 15. Februar 2014 verheiratet sei, zwar im Haushalt des Klägers lebe, ihm aber das Kindergeld weitergeleitet worden sei.

Im Laufe des Berufungsverfahrens hat die Beklagte klargestellt, dass die Erstattungsforderung für die Monate März und April 2014 insgesamt 1.920,00 EUR betrage (2 x 960,00); bei dem im Widerspruchsbescheid angegebenem Betrag von 1.960,00 EUR handelte es sich offensichtlich um einen Schreibfehler.

Wegen des vollständigen Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Beklagten ist begründet und führt zur Aufhebung des Gerichtsbescheids sowie zur Klageabweisung. Der Kläger ist zur Erstattung von vorläufig bewilligtem Kinderzuschlag in Höhe von 1.920,00 EUR verpflichtet.

Streitgegenstand des Berufungsverfahrens ist nicht nur der Bescheid der Beklagten vom 5. Juni 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2014, die vom SG aufgehoben worden sind. Zu befinden ist auch über den nicht aufgehobenen Änderungsbescheid vom 16. Oktober 2014, der gemäß § 86 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des laufenden Widerspruchsverfahrens geworden war. Mit diesem Änderungsbescheid hatte die Beklagte die endgültige Feststellung über die Höhe des Kinderzuschlags für die Monate Dezember 2013 - Februar 2014 korrigiert. Daraus ergibt sich die hier nur noch streitige Erstattungssumme für den Leistungszeitraum vom 1. März bis zum 30. April 2014 in Höhe von 1.920,00 EUR.

Die Rückforderung der Beklagten beruht auf einer wirksamen Nebenbestimmung gemäß § 32 SGB X. Diese Nebenbestimmung im Bewilligungsbescheid vom 4. Dezember 2013 ist hinreichend bestimmt (§ 33 SGB X). Auf der Basis dieser Nebenbestimmung hat die Beklagte im Hinblick auf die in der Zukunft liegenden und somit bei Bescheiderteilung nicht feststehenden Einkommensverhältnisse des Klägers vorläufige Leistungen unter dem Vorbehalt einer Neuberechnung, sobald die richtigen Einkommensverhältnisse endgültig feststehen, bewilligt. Nach Vorlage der Verdienstbescheinigungen hat die Beklagte die Leistungen endgültig festgesetzt und soweit sich daraus ein niedrigerer Leistungsbetrag ergibt, die nur vorläufig bewilligten Leistungen zurückgefordert. Einer Anhörung bedurfte es bei dieser Form der Leistungskorrektur nicht (BSG 17.04.1996 - 3 RK 13/95 -, SozR 3-5425 § 10 Nr. 1). Im Übrigen wäre ein Anhörungsmangel durch das Widerspruchsverfahren geheilt worden (§ 41 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 SGB X).

Ein für den Kläger günstigeres Ergebnis ergibt sich nicht aus der vom SG zitierten Entscheidung (BSG vom 02.11.2012 - B 4 KG 2/11 R -, SozR 4-5870 § 6a Nr. 4). Nach Auffassung des BSG ist für eine vorläufige Leistungsgewährung unter Rückzahlungsvorbehalt auch im Kinderzuschlagsrecht eine ausdrückliche gesetzliche Regelung erforderlich. Um gleichwohl der besonderen Problemlage bei schwankendem Einkommen gerecht zu werden, und einen Leistungsanspruch - sei es nur vorläufig - zu realisieren, wird bis zu einer gesetzlichen Regelung in Fortführung der Rechtsprechung des BSG zum Schlechtwettergeld die grundsätzliche Ermächtigung für Vorwegzahlungen eines Leistungsanspruchs aus § 32 Abs. 1 SGB X anerkannt. Die Nebenbestimmung muss aber hinreichend bestimmt im Sinne des § 33 SGB X sein, das heißt sie muss nach ihrem Regelungsgehalt in sich widerspruchsfrei sein und den Betroffenen bei Zugrundelegung der Erkenntnismöglichkeiten eines verständigen Empfängers in die Lage versetzen, die in ihr getroffene Rechtsfolge vollständig, klar und unzweideutig zu erkennen und sein Verhalten daran auszurichten. Der Senat folgt dieser Rechtsprechung ausdrücklich, weil sonst die Umgehung des Vertrauensschutzes aus §§ 45, 48 SGB X durch die endgültige Bewilligung nicht zu rechtfertigen wäre.

Die von der Beklagten im Bewilligungsbescheid vom 4. Dezember 2013 geregelte Nebenbestimmung genügt den vom BSG gestellten Anforderungen. Zwar kann der Senat die Feststellung des SG nicht nachprüfen, dass der Bewilligungsbescheid der Beklagten mit demjenigen identisch sein soll, über den das BSG geurteilt habe, weil dem Urteilstatbestand des BSG keine Wiedergabe der dort geregelten Nebenabrede zu entnehmen ist. Jedenfalls hat das BSG ausweislich der Entscheidungsgründe in erster Linie beanstandet, dass ein bloßer "Rückforderungsvorbehalt" geregelt worden sei, der nicht auch eine vorläufige Leistungsgewährung bzw. eine Regelung über eine "Vorwegzahlung" beinhalte. Anders aber im vorliegenden Fall: Die Beklagte hat im Bewilligungsbescheid vom 4. Dezember 2013 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Einkommenssituation für den gesamten Bewilligungsabschnitt noch nicht abschließend beurteilt werden kann und deshalb der Kinderzuschlag vorläufig als Vorwegzahlung unter dem Vorbehalt der Rückforderung gewährt wird. Sie hat ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Leistungsgewährung nur vorläufig und nicht endgültig erfolgt und infolge dessen der Kläger damit rechnen muss, den gewährten Zuschlag wieder zurückzuzahlen, sofern der Anspruch auf Kinderzuschlag im Nachhinein aufgrund veränderter Tatsachen entfällt oder niedriger ausfällt als bewilligt. Anders als in dem vom BSG entschiedenen Fall (vgl. insbesondere dort Rz. 19) kann dem Wortlaut des Verfügungssatzes ein unmissverständlicher Vorbehalt der Vorwegzahlung entnommen werden, woraus sich ohne weiteres die Vorläufigkeit der Bewilligung erschließt. Für den Kläger war also klar zu erkennen, dass er mit einer Rückzahlung des Kinderzuschlags rechnen muss, sofern die endgültige Berechnung nach Vorlage der entsprechenden Unterlagen einen niedrigeren Leistungsanspruch begründen würde. Aus dem Charakter der vorläufig bewilligten Leistungen als Vorwegzahlung konnte der Kläger schließlich entnehmen, dass diese Bewilligungsform allein die Rechtsgrundlage für eine spätere Rückforderung bieten sollte, ohne dass es einer Aufhebung der Leistungsbewilligung bedurft hätte. Abweichendes hat der Kläger zu keinem Zeitpunkt, insbesondere nicht vor der Entscheidung des SG, vorgetragen.

Nach Vorlage der Verdienstbescheinigungen hat die Beklagte dann den Leistungsanspruch neu und endgültig berechnet. Danach ist für Dezember 2013 der Kinderzuschlag in richtiger Höhe vorläufig festgesetzt worden. Für Januar und Februar 2014 erhöht sich der vorläufig bewilligte Kinderzuschlag wegen der zwischenzeitlichen gesetzlichen Anpassung der Regelbedarfe um jeweils 10,00 EUR auf 970,00 EUR monatlich. Die Differenz von 20,00 EUR ist dem Kläger nachgezahlt worden. Dagegen entfällt ein Anspruch auf Kinderzuschlag für die Monate März und April 2014 insgesamt, weil das anrechnungsfähige Einkommen von 1.632,83 EUR den Bedarf der Bedarfsgemeinschaft nach dem SGB II in Höhe von 1.485,00 EUR übersteigt. Unverständlich ist in diesem Zusammenhang der Einwand des Klägers bezüglich seines Sohnes F., der seit dem 15. Februar 2014 verheiratet ist und für den folglich gemäß § 6a Abs. 1 Satz 1 BKGG kein Kinderzuschlag beansprucht werden kann. Die Beklagte hat auch nur die jüngeren acht Brüder in die Berechnung eingestellt. Das an den Sohn F. weitergeleitete Kindergeld in Höhe von 184,00 EUR monatlich konnte nicht beim Kläger einkommensmindernd berücksichtigt werden, weil dieser nach dem klägerischen Vortrag in den Monaten März und April 2014 in seinem Haushalt gelebt hat (§ 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 Arbeitslosengeld II/Sozialgeld-Verordnung). Weitergehende Einwände gegen die Berechnung der Beklagten und die sich daraus ergebende Erstattungsforderung von 1.920,00 EUR werden vom Kläger nicht vorgetragen.

Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung des § 193 SGG. Da der Kläger unterliegt, muss er für die außergerichtlichen Aufwendungen beider Instanzen selbst aufkommen. Daran kann die geringfügige Änderung der Erstattungsforderung aufgrund des Schreibfehlers im Widerspruchsbescheid nichts ändern.

Gesetzliche Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung, weil die zulässige Vorwegzahlung im Wege einer Nebenbestimmung zum Bewilligungsbescheid seit der Entscheidung des BSG vom 2. November 2012 - B 4 KG 2/11 R - erschöpfend geklärt ist.