Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 13.04.2016, Az.: L 3 KA 2/13

Gewährung einer Ausnahmeregelung vom Regelleistungsvolumen; Pauschalierte Vorab-Berücksichtigung von Sicherstellungspunkten und Härtefallgesichtspunkten; Besonderer Versorgungsbedarf; Rückwirkende Betrachtung; Rechtmäßigkeit der Honorarverteilung der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen durch die Bildung arztgruppenspezifischer Grenzwerte; Erfüllung der Voraussetzungen eines besonderen Versorgungsbedarfs durch einen Vertragsarzt

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
13.04.2016
Aktenzeichen
L 3 KA 2/13
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2016, 21052
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2016:0413.L3KA2.13.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 13.11.2012 - AZ: S 78 KA 14/09

Redaktioneller Leitsatz

1. Eine insoweit pauschalierte Vorab-Berücksichtigung von Sicherstellungs- und Härtefallgesichtspunkten im HVV (hier: durch die Untergliederung einzelner Arztgruppen in fallwertbezogene Untergruppen) hat zwangsläufig zur Folge, dass regelmäßig kein Raum mehr für eine Anpassung des RLV unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls verbleibt.

2. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung setzt die Gewährung einer Ausnahmeregelung vom RLV als Tatbestandsvoraussetzung einen "besonderen Versorgungsbedarf" des antragstellenden Arztes voraus.

3. Dieser Bedarf muss in Form einer im Leistungsangebot der Praxis zum Ausdruck kommenden Spezialisierung und einer von der Typik der Arztgruppe abweichenden Praxisausrichtung vorliegen, die messbaren Einfluss auf den Anteil der im Spezialisierungsbereich abgerechneten Punktmenge im Verhältnis zur Gesamtpunktzahl hat.

4. Dabei ist aus Sicht des Senats bei der Prüfung, ob ein Arzt einen besonderen Versorgungsbedarf aufweist, aus Gründen der Rechtsklarheit und der Verwaltungspraktikabilität auf eine rückwirkende Betrachtung abzustellen.

Tenor:

Auf die Berufung der Beklagten und unter Abweisung der Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 14. November 2012 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten beider Rechtszüge.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 16.772 Euro festgesetzt.

Tatbestand

Streitig ist die Gewährung einer Ausnahmeregelung vom Regelleistungsvolumen (RLV).

Der Kläger war bis Ende 2014 als Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin mit der Zusatzbezeichnung Psychotherapie zur vertragsärztlichen Versorgung in E. zugelassen.

In den Quartalen I/2008 bis IV/2008 vergütete die beklagte Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) die Honoraranforderungen des Klägers nach den Maßgaben ihres Honorarverteilungsvertrags (HVV) und berücksichtigte dabei, dass er in jedem der vier Abrechnungsquartale sein praxisbezogenes RLV zwischen 391.620 und 421.925 Punkte überschritten hatte. Gegen die einzelnen Honorarbescheide legte der Kläger jeweils Widerspruch ein und beantragte sinngemäß, die von ihm im Jahr 2008 erbrachten psychotherapeutischen Leistungen nach den Nrn 35100, 35110, 35130, 35131, 35140, 35150, 35301, 35302 und 23220 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für vertragsärztliche Leistungen ((EBM), in der ab dem 1. Januar 2008 gültigen Fassung) ohne Begrenzung durch das RLV zu vergüten.

Die Beklagte wies die eingelegten Widersprüche zurück. Ein Großteil der psychotherapeutischen Leistungen werde bereits extrabudgetär vergütet. Daher könne sich die vom Kläger begehrte (Ausnahme-)Regelung nur auf die innerhalb des RLV zu vergütenden probatorischen Sitzungen beziehen. Eine derartige Ausnahme werde nach einem Vorstandsbeschluss der KÄV aber nur Leistungserbringern gewährt, die - anders als der Kläger - ausschließlich psychotherapeutische Leistungen erbrächten (Widerspruchsbescheide vom 15. Dezember 2008, 23. Juni 2009 sowie 11. August 2009).

Hiergegen hat der Kläger in getrennten Verfahren am 29. Januar 2009, 22. Juli 2009 sowie 10. September 2009 Klagen vor dem Sozialgericht (SG) Hannover erhoben und dort geltend gemacht, seine Vergütungssituation habe sich durch die Ende 2007 erworbene Zusatzbezeichnung Psychotherapie mit steigender Tendenz verschlechtert. Da in den Landkreisen F. und G. kein Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie niedergelassen sei und bei den dort tätigen Psychotherapeuten Wartezeiten von bis zu einem Jahr bestünden, habe er zunehmend kinderärztlich-psychotherapeutische Leistungen erbringen und sein RLV in noch größerem Umfang als vor dem Erwerb der Zusatzbezeichnung überschreiten müssen. Für die innerhalb des RLV vergüteten psychotherapeutischen Leistungen erhalte er daher kein angemessenes Honorar, was den Grundsatz der Honorarverteilungsgerechtigkeit verletze.

Das SG hat die Klageverfahren durch Beschluss vom 14. November 2012 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und am selben Tag die Beklagte unter Änderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, den Honoraranspruch des Klägers in den Quartalen I/2008 bis IV/2008 unter Beachtung der Rechtsauffassung der Kammer neu zu bescheiden. Zwar habe der Kläger keinen Anspruch auf die Gewährung einer extrabudgetären Vergütung für die von ihm im Jahr 2008 erbrachten psychotherapeutischen Leistungen; insbesondere lägen hier die vom Bundessozialgericht (BSG) entwickelten Kriterien für eine aus Sicherstellungsgründen erforderliche Erweiterung des RLV nicht vor. Allerdings sei die im HVV der Beklagten für die Honorarverteilung vorgegebene Unterteilung der Arztgruppen in Untergruppen nicht mit höherrangigem Recht zu vereinbaren und es sei nicht auszuschließen, dass dem Kläger bei der deswegen zu erfolgenden Neuordnung der Honorarverteilung im Bereich der Beklagten ein höheres RLV zuzuweisen sei.

Gegen dieses Urteil (dem Kläger am 13. Dezember 2012, der Beklagten am 14. Dezember 2012 zugestellt) wenden sich die Beteiligten mit ihren Berufungen (der Kläger am 10. Januar 2013, die Beklagte am 11. Januar 2013). Der Kläger macht geltend, dass das SG die Rechtsprechung des BSG nicht richtig interpretiert habe. Danach sei maßgeblich, ob vertragsärztliche Leistungen zur Sicherstellung eines regionalen Versorgungsbedarfs ausnahmsweise extrabudgetär zu vergüten seien. Die Beklagte habe in den angefochtenen Bescheiden aber nicht geprüft, ob ein solcher Sicherstellungsbedarf bestanden habe. Bereits aus diesem Grund - und nicht wegen der im HVV vorgegebenen Unterteilung der Arztgruppen in Untergruppen - seien die Bescheide rechtswidrig.

Der Kläger beantragt,

1. das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 14. November 2012 und die Honorarbescheide für die Quartale I/2008 bis IV/2008 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 23. Juni 2008, 15. Dezember 2008 und 11. August 2009 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, über seinen Honoraranspruch in den genannten Quartalen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu entscheiden,

2. die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

1. das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 14. November 2012 zu ändern und die Klage abzuweisen,

2. die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung im Wesentlichen für zutreffend. Ergänzend weist sie darauf hin, dass die im HVV vorgegebene Unterteilung der Arztgruppen in Untergruppen nach der mittlerweile ergangenen Rechtsprechung des BSG mit höherrangigem Recht vereinbar sei. Auch insoweit seien die Honorarbescheide des Klägers für die Quartale I/2008 bis IV/2008 rechtmäßig.

Hinsichtlich dieses weiteren Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten verwiesen. Die Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers ist zulässig, aber unbegründet; die ebenfalls zulässige Berufung der Beklagten ist hingegen begründet.

Zu Unrecht hat das SG die angefochtenen Bescheide geändert und die Beklagte zu einer Neubescheidung über die Honoraransprüche des Klägers in den Quartalen I/2008 bis IV/2008 verpflichtet. Ein solcher (Neubescheidungs-)Anspruch steht dem Kläger unter keinem denkbaren Gesichtspunkt zu. Auf die Berufung der Beklagten hat der Senat daher das Urteil des SG aufgehoben und die Klage (insgesamt) abgewiesen.

1. Gegenstand des Berufungsverfahrens ist das Begehren des Klägers, dass die von ihm im Jahr 2008 erbrachten psychotherapeutischen Leistungen nach den Nrn 35100, 35110, 35130, 35131, 35140, 35150, 35301, 35302 und 23220 des EBM aus Sicherstellungsgründen extrabudgetär vergütet werden. Das SG hat mit Urteil vom 14. November 2012 den dazu vom Kläger geltend gemachten (Neubescheidungs-)Anspruch aber im Wesentlichen abgewiesen und nur insoweit stattgegeben, als der HVV der Beklagten als Grundlage für die Honorarverteilung nicht mit höherrangigem Recht vereinbar sein soll. Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Berufung und will damit erreichen, dass die Beklagte zu einer Neubescheidung seines Honoraranspruchs in den Quartalen I/2008 bis IV/2008 für erbrachte psychotherapeutische Leistungen ohne Begrenzung durch Budgets wie das RLV verurteilt wird. Demgegenüber zielt die von der Beklagten eingelegte Berufung darauf ab, dass das auf die Gewährung einer extrabudgetären Vergütung gerichtete (Neubescheidungs-)Begehren des Klägers in vollem Umfang abgewiesen wird.

2. Die so verstandene und insgesamt zulässige Anfechtungs- und Neubescheidungsklage (§ 54 Abs 1 SGG iVm § 131 Abs 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) analog) des Klägers kann in der Sache aber keinen Erfolg haben. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Gewährung einer extrabudgetären Vergütung für die von ihm im Jahr 2008 erbrachten (und teilweise innerhalb der RLV-Systematik honorierten) psychotherapeutischen Leistungen.

3. Rechtsgrundlage für die Gewährung der vom Kläger begehrten extrabudgetären Vergütung psychotherapeutischer Leistungen ist § 85 Abs 4 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch ((SGB V); hier anzuwenden in der Fassung des GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetzes (GKV-WSG) vom 26. März 2007, BGBl I 2007, 378). Danach steht jedem Vertragsarzt ein Teilhabeanspruch an den von den Krankenkassen (KK) entrichteten Gesamtvergütungen entsprechend Art und Umfang der von ihm erbrachten abrechnungsfähigen Leistungen nach Maßgabe der Verteilungsregelungen im Honorarverteilungsmaßstab (hier: HVV) zu. Zwar sind im Verteilungsmaßstab auch Regelungen zur Verhinderung einer übermäßigen Ausdehnung der Tätigkeit des Vertragsarztes vorzusehen; insbesondere sind arztgruppenspezifische Grenzwerte festzulegen, bis zu denen die von einer Arztpraxis erbrachten Leistungen mit festen Punktwerten zu vergüten sind (Regelleistungsvolumina). Nach § 85 Abs 4a S 1 letzter Halbs SGB V obliegt es allerdings dem Bewertungsausschuss (BewA), den Inhalt der dazu im Verteilungsmaßstab zu treffenden Vorgaben festzulegen.

a) Aufgrund dieser Befugnis hat der BewA am 29. Oktober 2004 mit Wirkung zum 1. Januar 2005 (DÄ 2004, A 3129) beschlossen, dass die KÄVen in ihren jeweiligen Verteilungsmaßstab RLV in der Weise festzulegen haben, dass arztgruppeneinheitliche Fallpunktzahlen durch Multiplikation mit individuellen Behandlungszahlen praxisindividuelle Budgets ergeben, innerhalb derer die Vergütung vertragsärztlicher Leistungen mit einem festen Punktwert erfolgt. Die darüber hinausgehenden Leistungen können nur mit abgestaffelten Punktwerten (Restpunktwerten) vergütet werden. Ergänzend hierzu hat der BewA in Ziffer 3.1 seines Beschlusses vorgegeben, dass im HVV "zur Sicherstellung einer ausreichenden medizinischen Versorgung (...) Anpassungen des Regelleistungsvolumens vorgenommen werden" können. Die Vertragspartner des HVV sind daher auch berechtigt, aus Sicherstellungsgründen in dem Verteilungsmaßstab Abweichungen von den RLV festzulegen.

b) Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sind die im hier streitbefangenen Zeitraum auch für die Vertragspartner des HVV in Niedersachsen bindenden Vorgaben im Bereich der beklagten KÄV in der Form zutreffend umgesetzt worden, als dort die RLV nicht einheitlich für die einzelnen Arztgruppen, sondern unterteilt in drei Untergruppen jeweils gesondert berechnet werden (§ 3 Abs 2 Nr 2 der Anl 2 zum HVV). Die für die Berechnung des RLV maßgeblichen Faktoren (hier: die Fallpunktzahl) werden dementsprechend "unterarztgruppenspezifisch" ermittelt, wobei sich die Einstufung in eine der drei Untergruppen nach dem durchschnittlichen Fallwert der Arztpraxis in Punkten im Zeitraum vom zweiten Halbjahr 2003 bis zum ersten Halbjahr 2004 für RLV-relevante Leistungen richtet. Dabei werden die Arztpraxen, deren Fallwert in etwa dem Durchschnitt der jeweiligen Arztgruppe (bei einer Bandbreite von 15 vH unter bzw über dem Durchschnittswert) entspricht, in die Untergruppe 2 eingestuft; die Praxen mit einem höheren Fallwert werden der Untergruppe 3 und die mit einem niedrigeren Fallwert der Untergruppe 1 zugeordnet.

Mit der dargelegten Untergliederung einzelner Arztgruppen in drei "fallwertbezogene" Untergruppen haben die Vertragspartner des HVV nach Auffassung des BSG den Beschluss des BewA vom 29. Oktober 2004 um eine zulässige Steuerungsmaßnahme ergänzt. Diese Maßnahme findet ihre sachliche Rechtfertigung darin, dass die mit der Einführung arztgruppenspezifischer Grenzwerte einhergehende Pauschalierung den unterschiedlichen Praxisstrukturen in der vertragsärztlichen Versorgung nur unzureichend Rechnung trägt und daher im Rahmen der Honorarverteilung zwangsläufig abweichende Festsetzungen zu den RLV in Form von Sicherstellungs- oder Härtefallregelungen zu treffen sind. Dies muss nicht nachträglich (über Sonderregelungen zum RLV für bestimmte Leistungsbereiche oder über Härtefallregelungen) erfolgen, sondern kann -wie vorliegend im HVV festgelegt - bereits vorab bei der Ausgestaltung ergänzender Vorgaben zur Bemessung der RLV als Ausdruck einer typisierten Anpassung an die in den Arztpraxen unterschiedliche Versorgungssituation berücksichtigt werden (vgl zu alledem BSGE 113, 298 mwN).

c) Eine insoweit pauschalierte Vorab-Berücksichtigung von Sicherstellungs- und Härtefallgesichtspunkten im HVV (hier: durch die Untergliederung einzelner Arztgruppen in fallwertbezogene Untergruppen) hat zwangsläufig zur Folge, dass regelmäßig kein Raum mehr für eine Anpassung des RLV unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Einzelfalls verbleibt. Daher scheidet im Bereich der Beklagten schon aus diesem Grund für Ärzte, die nach dem HVV in eine der drei Untergruppen einer Facharztgruppe einzustufen sind, im Regelfall die Gewährung einer extrabudgetären Vergütung für die von ihnen erbrachten vertragsärztlichen Leistungen aus. Für den Kläger bedeutet das, dass seine für das Jahr 2008 erfolgte Einstufung in die Untergruppe 2 der Arztgruppe 23 (Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin ohne Schwerpunkt, die dem hausärztlichen Versorgungsbereich angehören) eine Anpassung seines RLV aus Sicherstellungsgründen grundsätzlich ausschließt.

d) An dieser Einschätzung vermag im Ergebnis auch der Umstand, dass im Jahr 2008 die Festlegung der altersbezogenen Fallpunktzahl für die Arztgruppe des Klägers in allen drei Untergruppen einheitlich (auf jeweils 1000/900/1020 Fallpunkte) erfolgt ist, nichts zu ändern. Zwar kommt bei einer solchen Fallgestaltung die pauschalierte Vorab-Berücksichtigung von Sicherstellungs- und Härtefallgesichtspunkten nicht mehr erkennbar zum Ausdruck, was dem betroffenen Arzt grundsätzlich wieder ein subjektives Recht auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die von ihm beantragte RLV-Anpassung eröffnet. Im Fall des Klägers liegen allerdings die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine solche Anpassung nicht vor.

aa) Da - wie der hier zu entscheidende Sachverhalt zeigt - auch bei einer (durch Untergruppen pauschalierten) Vorab-Berücksichtigung von Sicherstellungs- und Härtefallgesichtspunkten im HVV nicht abschließend alle Fälle erfasst werden können, die uU eine Anpassung des RLV erfordern, ist es nicht zu beanstanden, dass die KÄV auf Antrag bei besonders gelagerten Fallkonstellationen, in denen ein besonderer medizinischer Versorgungsbedarf sichergestellt werden muss, davon betroffene Vertragsärzte von der RLV-Systematik freistellt. Entgegen der Auffassung der Beklagten kann als Rechtsgrundlage für eine solche Freistellung aber nicht auf die Regelung in der (erkennbar nicht einschlägigen) Vereinbarung zur Reform des EBM zum 1. April 2005 (dort Ziffer 3, wonach die KÄVen auf Antrag eines Vertragsarztes eine Erweiterung des "abrechnungsfähigen Leistungsspektrums" genehmigen können) abgestellt werden. Stattdessen sind die Vorgaben aus Ziffer 3.1 im Beschluss des BewA vom 29. Oktober 2004 wie eine fehlende Härtefallregelung im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung in den HVV in Form einer im Einzelfall aus Sicherstellungsgründen erforderlichen (allgemeinen) Anpassungsregelung hineinzulesen (dazu grundlegend BSG, Urteil vom 9. Dezember 2004 - B 6 KA 84/03 R - juris Rn 48, 67 und insbesondere 141 mwN). Dies folgt auch aus der Rechtsprechung des BSG, dass der HVV zurücktreten muss, soweit ein Widerspruch zwischen ihm und den Vorgaben des BewA vorliegt (BSG SozR 4-2500 § 85 Nr 53).

Allerdings kann eine nach diesen Maßgaben in den HVV der Beklagten hineinzulesende Anpassungsregelung keinen allgemeinen (Auffang-)Tatbestand für alle denkbaren Ausnahmekonstellationen enthalten. Auszugehen ist allenfalls von einer im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung anzunehmenden Ermächtigung der KÄV zur Anpassung des RLV, um auch im Einzelfall eine ausreichende medizinische Versorgung der Versicherten gewährleisten zu können. Das ergibt sich bereits hinreichend deutlich aus dem Wortlaut in Ziffer 3.1 im Beschluss des BewA vom 29. Oktober 2004, wonach eine derartige Anpassungsberechtigung ausdrücklich damit verknüpft wird, dass sie "zur Sicherstellung einer ausreichenden medizinischen Versorgung" erforderlich ist.

bb) Vor diesem Hintergrund ist die Entscheidung der Beklagten, die vom Kläger beantragte Gewährung einer extrabudgetären Vergütung für seine im Jahr 2008 erbrachten (und innerhalb des RLV honorierten) psychotherapeutischen Leistungen abzulehnen, zumindest im Ergebnis nicht zu beanstanden. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dafür, den Kläger aus Sicherstellungsgründen von der RLV-Systematik freizustellen, haben in dem hier streitbefangenen Zeitraum (noch) nicht vorgelegen.

Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung - auf die bereits das SG in der hier angefochtenen Entscheidung zutreffend hingewiesen hat - setzt die Gewährung einer Ausnahmeregelung vom RLV als Tatbestandsvoraussetzung einen "besonderen Versorgungsbedarf" des antragstellenden Arztes voraus. Dieser Bedarf muss in Form einer im Leistungsangebot der Praxis zum Ausdruck kommenden Spezialisierung und einer von der Typik der Arztgruppe abweichenden Praxisausrichtung vorliegen, die messbaren Einfluss auf den Anteil der im Spezialisierungsbereich abgerechneten Punktmenge im Verhältnis zur Gesamtpunktzahl hat. Dabei kann sich eine vom Durchschnitt abweichende Praxisausrichtung, die einen Rückschluss auf das Vorliegen eines besonderen Versorgungsbedarfs erlaubt, aus einem entsprechend hohen Anteil des im Spezialisierungsbereich im Verhältnis zur Gesamtpunktzahl abgerechneten Punktzahlvolumens ergeben. Außerdem muss die Überschreitung des jeweiligen RLV darauf beruhen, dass im besonderen Umfang spezielle Leistungen erbracht werden, die typischerweise eine gesonderte (Zusatz-)Qualifikation und Praxisausstattung erfordern. Hiervon ist regelmäßig auszugehen, wenn der Versorgungsschwerpunkt eines Arztes den jeweiligen Fachgruppendurchschnitt um mindestens 20 vH überschreitet bzw der Anteil der Spezialleistungen am Gesamtpunktzahlvolumen des Arztes über einen Zeitraum von vier Abrechnungsquartalen im Durchschnitt mindestens 20 vH beträgt. Diese Einschränkung ist erforderlich, um einerseits von einem dauerhaften Versorgungsbedarf ausgehen zu können und andererseits Schwankungen zwischen den einzelnen Abrechnungsquartalen aufzufangen (vgl hierzu BSG SozR 4-2500 § 85 Nr 66 Rn 21 ff mwN).

Dabei ist aus Sicht des Senats bei der Prüfung, ob ein Arzt einen besonderen Versorgungsbedarf aufweist, aus Gründen der Rechtsklarheit und der Verwaltungspraktikabilität auf eine rückwirkende Betrachtung abzustellen (so bereits das BSG zur Erweiterung qualifikationsabhängiger Praxisbudgets, Urteil vom 16. Mai 2001 - B 6 KA 53/00 R - juris Rn 25). Im Ergebnis heißt das, dass eine entsprechende Spezialisierung nur dann angenommen werden kann, wenn der Anteil der Spezialleistungen am Gesamtpunktzahlvolumen des beantragenden Arzt in der Vergangenheit - also in den letzten vier Abrechnungsquartalen vor Antragstellung - im Durchschnitt mindestens 20 vH betragen hat. Denn nur bei einer rückwirkenden Betrachtung der Vorquartale ist es den KÄVen überhaupt möglich, den Umfang und die Dauerhaftigkeit des vom Arzt geltend gemachten besonderen Versorgungsbedarfs sachgerecht einzuschätzen und im Rahmen der Honorarverteilung durch eine Anpassung des oder eine Freistellung vom RLV angemessen sicherzustellen. Dem steht auch nicht entgegen, dass nach dieser Maßgabe ein besonderer Versorgungsschwerpunkt frühestens erst ein Jahr nach Aufnahme der Spezialisierung geltend gemacht werden kann. Soweit das im Einzelfall zu einer existenzbedrohenden Honorarminderung für den Arzt führt, kann (und muss) dies im Rahmen einer in den HVV hineinzulesenden allgemeinen Härtefallregelung aufgefangen werden.

Bei Berücksichtigung dessen kann unter keinem denkbaren Gesichtspunkt davon ausgegangen werden, dass der Kläger schon in dem hier streitbefangenen Zeitraum die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Annahme eines besonderen Versorgungsbedarfs erfüllt hat. Tatsächlich hat er erst Ende 2007 die Zusatzbezeichnung Psychotherapie erworben und sich ab dem Quartal I/2008 in diesem Bereich spezialisiert. Dementsprechend kann er frühestens ab dem Quartal I/2009 mit Erfolg geltend machen, dass er sich in den zurückliegenden vier Abrechnungsquartalen auf einen besonderen Versorgungsschwerpunkt spezialisiert hat und sein RLV aus Sicherstellungsgründen an die damit einhergehende Entwicklung anzupassen ist.

e) Schließlich bestehen vorliegend auch keine Anhaltspunkte für die Annahme eines Härtefalls. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass die wirtschaftliche Existenz des Klägers wegen der Aufnahme eines psychotherapeutischen Versorgungsschwerpunkts gefährdet gewesen wäre. Bei dieser Einschätzung hat der Senat berücksichtigt, dass im streitbefangenen Zeitraum nur bestimmte psychotherapeutische Leistungen (im Wesentlichen: die probatorischen Sitzungen) innerhalb der RLV-Systematik vergütet worden sind und die Höhe der dem Kläger im Jahr 2008 trotz der Überschreitungen seines RLV ausgezahlten Honoraranteile eine Existenzgefährdung nahezu ausgeschlossen erscheinen lassen.

4. Anders als das Rechtsmittel des Klägers hat die von der Beklagten gegen das Urteil des SG eingelegte Berufung auch in der Sache Erfolg. Zwar ist der Senat (mit dem SG) ursprünglich davon ausgegangen, dass die im HVV der Beklagten vorgenommene Unterteilung der Arztgruppen in weitere Untergruppen gegen höherrangiges Recht verstößt (vgl hierzu das Senatsurteil vom 21. Dezember 2011 - L 3 KA 111/10). Das BSG sieht diese Unterteilung aber - wie dargelegt - als eine nach § 85 Abs 4 S 7 SGB V zulässige ergänzende Steuerungsmaßnahme an (vgl hierzu BSGE 113, 298 mwN) und hat alle entgegenstehenden Entscheidungen des Senats dazu aufgehoben. Daher kann das Urteil des SG insgesamt keinen Bestand haben.

5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a Abs 1 S 1 SGG iVm §§ 154 Abs 1 und 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Gründe, die Revision zuzulassen (§ 160 Abs 2 SGG), liegen nicht vor.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf der Anwendung von § 197a Abs 1 S 1 SGG iVm den §§ 47 Abs 1, 52 Abs 3 Gerichtskostengesetz (GKG). Rechtsmittelbelehrung und Erläuterungen zur Prozesskostenhilfe