Sozialgericht Stade
Urt. v. 03.03.2012, Az.: S 7 U 45/08

Anerkennung und Entschädigung einer asbestbedingten Erkrankung als Folge einer Berufskrankheit oder wie eine Berufskrankheit

Bibliographie

Gericht
SG Stade
Datum
03.03.2012
Aktenzeichen
S 7 U 45/08
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 22169
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGSTADE:2012:0303.S7U45.08.0A

Tenor:

Der Bescheid des Beklagten vom 23. November 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. März 2008 wird aufgehoben und der Beklagte verurteilt, das Bronchialwanddrüsenkarzinom des Versicherten, Herrn C., als Folge der Berufskrankheit Nr 4104 der Anlage zur BKV anzuerkennen und entsprechend der gesetzlichen Vorschriften zu entschädigen. Der Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt die Anerkennung und Entschädigung einer Erkrankung des Versicherten, Herrn C., als Folge einer Berufskrankheit (BK) oder wie eine BK.

2

Die Klägerin ist die Witwe des Versicherten, der am 6. August 2008 verstarb. Bei dem am 20. März 1935 geborenen Versicherten wurde im Dezember 2006 ein Bronchialwanddrüsenkarzinom diagnostiziert. Der Versicherte war als Maler und zuletzt als Schulhausmeister tätig. Im Rahmen der letztgenannten Tätigkeit hatte er Kontakt zu Asbest. Mit Bescheid vom 20. September 2007 erkannte der Beklagte astbestbedingte Veränderungen der Pleura des Versicherten als Folge der BK Nr 4103 der Anlage zur BKV an.

3

In seiner Stellungnahme vom 22. August 2007 führte Prof. Dr. I. aus, dass der Versicherte an nur einem sehr seltenen Tumor einer Bronchialwanddrüse erkrankt sei. Ein primärer Lungentumor läge nicht vor, so dass die Voraussetzungen für die Anerkennung als Folge der BK Nr 4104 der Anlage zur BKV nicht erfüllt seien. Dieser Einschätzung schloss sich die Gewerbeärztin Frau Dr. J. an.

4

Mit Bescheid vom 26. November 2007 lehnte der Beklagte eine Entschädigung des Bronchialwanddrüsenkarzinoms des Versicherten als Folge der BK Nr 4104 der Anlage zur BKV ab und führte zur Begründung aus, dass es keine wissenschaftlichen Studien über eine gehäufte Entwicklung von Tumoren der Bronchialwanddrüsen nach vorausgegangener Astbestexposition gebe. Hiergegen legte der Versicherte Widerspruch ein, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17. März 2008 zurückwies.

5

Am 1. April 2008 hat der Versicherte die vorliegende Klage erhoben, mit der er sein Begehren weiterverfolgt. Nach seinem Tod hat die Klägerin das Verfahren fortgeführt.

6

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 23. November 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. März 2008 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, das Bronchialwanddrüsenkarzinom des Versicherten als Folge der BK Nr. 4104 der Anlage zur BKV anzuerkennen und zu entschädigen.

7

h i l f s w e i s e beantragt die Klägerin,

die Erkrankung wie eine BK zu entschädigen.

8

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

9

Das Gericht hat Beweis erhoben gemäß § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch die Einholung eines Gutachtens von Prof. Dr. K. und durch die Befragung des Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung.

10

Der Beklagte hat eine Stellungnahme von Prof. Dr. I. zur Akte gereicht. Bezüglich der Einzelheiten dieser Stellungnahme wird auf Bl. 83 ff der Gerichtsakte verwiesen.

11

Das Gericht hat die den Versicherten betreffende Verwaltungsakte beigezogen. Diese und die den Versicherten betreffende Gerichtsakte waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Grundlage der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

12

Vorliegend kann das Gericht in der Hauptsache entscheiden, obwohl die Klägerin in der mündlichen Verhandlung nicht anwesend war. Die Klägerin ist ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf die Folgen des § 126 SGG hingewiesen worden.

13

Die Klage ist zulässig und begründet.

14

Der Bescheid des Beklagten vom 23. November 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. März 2008 ist rechtswidrig. Die Klägerin hat Anspruch auf Anerkennung des Bronchialwanddrüsenkarzinoms des Versicherten als Folge der BK Nr 4104 der Anlage zur BKV.

15

Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 26 Abs 1 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch - Gesetzliche Unfallversicherung - SGB VII) sind dann zu gewähren, wenn ein Versicherungsfall eingetreten ist. Nach § 7 Abs 1 SGB VII sind Versicherungsfälle Arbeitsunfälle und BKen. BKen sind Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden (§ 9 Abs 1 Satz 1 SGB VII).

16

Mit der 4. BKVO vom 29. Januar 1943 wurde die Astbeststaublungenerkrankung in Verbindung mit Lungenkrebs eingeführt. Zuletzt wurde sie am 18. Dezember 1993 geändert. Danach ist unter der Nr 4104 der Lungenkrebs oder Kehlkopfkrebs in Verbindung mit Astbeststaublungenerkrankung (Astbestose) oder in Verbindung mit durch Astbeststaub verursachten Erkrankungen der Pleura oder bei Nachweis der Einwirkung einer kumulativen Astbestfaserstaub-Dosis am Arbeitsplatz von mindestens 25 Faserjahren verzeichnet. Nach dem Merkblatt für die Ärztliche Untersuchung (Bekanntmachung des BMA vom 1. Dezember 1997, Bundesarbeitsblatt 1997 H.12 Seite 32) ist Lungenkrebs bedeutungsgleich mit Bronchialkarzinom.

17

Fällige Ansprüche auf laufende Geldleistungen stehen beim Tode des Berechtigten dem Ehegatten zu, wenn dieser mit dem Berechtigten zur Zeit seines Todes in einem gemeinsamen Haushalt gelebt hat (§ 56 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB I).

18

Die Kammer folgt den überzeugenden Ausführungen des Prof. Dr. K., nach denen das bei dem Versicherten diagnostizierte Bronchialwanddrüsenkarzinom als Folge der BK Nr 4104 der Anlage zur BKV anzuerkennen und zu entschädigen ist.

19

Bei dem Versicherten wurde ein Bronchialwanddrüsenkarzinom diagnostiziert, welches nach den Ausführungen des Prof. Dr. K. und dem Merkblatt für die Ärztliche Untersuchung des BMA ein Tumor im Sinne der BK Nr. 4104 der Anlage zur BKV ist. Bei dem Versicherten wurden astbestbedingte Veränderungen der Pleura festgestellt und von dem Beklagten als Folge der BK Nr 4103 der Anlage zur BKV anerkannt. Danach erfüllt der Versicherte die von der BK Nr 4104 der Anlage zur BKV aufgestellten Kriterien. Bei ihm liegt ein Lungenkrebs im Sinne der BK-Nr vor und es wurden durch Astbeststaub verursachte Erkrankungen der Pleura nachgewiesen. Es liegt danach eine Tatsachenvermutung vor, die auf die Verursachung der festgestellten Krebserkrankung im Sinne der Listennummer schließen lässt (vgl. BSG-Urteil vom 7. September 2004 - B 2 U 25/03 R; BSG-Urteil vom 30. Januar 2007 - B 2 U 15/05 R).

20

Die in der BK 4104 angeordnete Tatsachenvermutung für die wesentliche Verursachung der dort genannten Krebserkrankung durch eine versicherte Astbestfasereinwirkung kann widerlegt werden, indem beispielsweise gezeigt wird, dass wegen der Art oder der Lokalisation des Tumors, wegen des zeitlichen Ablaufs der Erkrankung oder aufgrund sonstiger Umstände im konkreten Einzelfall ein ursächlicher Zusammenhang trotz der beruflichen Belastung nicht wahrscheinlich ist (Urteil des BSG vom 30. Januar 2007). Diesen Nachweis ist der Beklagte schuldig geblieben. Zutreffend ist, dass derzeit keine wissenschaftlichen Erkenntnisse darüber vorliegen, dass ein Bronchialwanddrüsenkarzinom durch Astbest verursacht wird (vgl. Mertens/Brandenburg, Die Berufskrankheitenverordnung, M 4104, Seite 12; Neumann et. al.: Erfüllen Karzinoidtumore der Lunge die Legaldefinition für den Begriff "Lungenkrebs?, in: Pneumologie 2008). Dies alleine genügt jedoch nicht. Bei dem Bronchialwanddrüsenkarzinom handelt es sich um einen relativ seltenen Tumor. Es liegen keine gesicherten medizinischen Erkenntnisse darüber vor, dass ein Bronchialwanddrüsenkarzinom nicht durch Asbest verursacht wird. Eines solchen Nachweises bedürfte es aber nach der Auffassung der Kammer. Ansonsten würde man die in der BK Nr 4104 angeordnete Tatsachenvermutung, die zugunsten des Erkrankten gilt, umkehren. Die Kammer folgt der Auffassung des Prof. Dr. K., nach der die Ausgliederung seltener, mit epidemiologischen Methoden kaum fassbarer Tumore nicht gerechtfertigt ist. Zutreffend wurde in der Arbeit von Neumann et. al. darauf hingewiesen, dass der Terminus "Lungenkrebs" in der BKV neu gefasst werden müsste, um bestimmte Tumorarten wie beispielsweise das Bronchialwanddrüsenkarrzinom auszuschließen. Solange dies nicht erfolgt ist, ist das Bronchialwanddrüsenkarzinom als Folge der BK Nr 4104 der Anlage zur BKV anzuerkennen, wenn die in dieser BK-Nr geregelten Voraussetzungen erfüllt sind und die wesentliche Verursachung im Einzelfall nicht widerlegt ist.

21

Die Ausführungen der Frau Dr. J. und des Prof. Dr. I. vermögen die Kammer nicht zu überzeugen. Sie verkehren die in der BK Nr 4104 geregelten Beweisgrundsätze.

22

Die Klägerin ist als, mit dem Versicherten zum Zeitpunkt seines Todes in einem Haushalt lebende, Ehefrau Sonderrechtsnachfolgerin gemäß § 56 Abs. 1 Nr. 1 SGB I. Die Klage ist auch auf die Entschädigung der Erkrankung als Folge einer BK und damit auf die Gewährung von Geldleistungen gerichtet.

23

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.