Sozialgericht Stade
Urt. v. 17.04.2012, Az.: S 17 AS 555/10

Einkomensmindernde Berücksichtigung eines ein steuerlicher Verlustvortrag aus dem Vorjahr bei der Berechnung des Einkommens

Bibliographie

Gericht
SG Stade
Datum
17.04.2012
Aktenzeichen
S 17 AS 555/10
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 41353
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGSTADE:2012:0417.S17AS555.10.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
LSG Niedersachsen-Bremen - AZ: L 13 AS 132/12

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Frage, inwieweit ein steuerlicher Verlustvortrag aus dem Vorjahr bei der Berechnung des Einkommens gemäß § 11 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) einkommensmindernd zu berücksichtigen ist.

Der Kläger, geboren im Jahr 1951, bezieht seit dem Jahr 2005 in Bedarfsgemeinschaft mit seiner Frau und seiner Tochter aufstockend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II vom Beklagten. Er ist daneben als freiberuflicher Dozent selbständig tätig.

Auf den Fortzahlungsantrag vom 27. Mai 2008 hin bewilligte der Beklagte dem Kläger mit Bewilligungsbescheid vom 19. Juni 2008 vorläufig Leistungen für den Leistungszeitraum 01. Juni bis 30. November 2008 in Höhe von rund 1.025,00 EUR monatlich. Er rechnete dabei zunächst kein Einkommen aus der Selbständigkeit des Klägers an. Anfang November 2008 und weiter im Mai 2009 reichte der Kläger eine Aufstellung der Betriebseinnahmen und der Betriebsausgaben im betroffenen Zeitraum ein und teilte in einem Schreiben vom 04. Juni 2009 begleitend mit, dass er den Verlustvortrag aus dem Vorjahr (2007) einkommensmindernd berücksichtigt haben wolle.

Mit Bescheid vom 09. Juni 2009 setzte der Beklagte die Leistungen für den Leistungszeitraum Juni 2008 bis einschließlich November 2008 endgültig fest und machte eine Erstattungsforderung in Höhe von 4.688,46 EUR geltend. Der Verlustvortrag fand keine Berücksichtigung. Hiergegen legte der Kläger am 25. Juni 2009 Widerspruch ein. Diesen wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18. Juni 2010 unter Hinweis auf Gesetzesänderungen zum 01. Januar 2008 zur Berechnung des Einkommens bei Selbständigen als unbegründet zurück. Der Kläger stellte daraufhin einen Überprüfungsantrag gemäß § 44 SGB X bezüglich der endgültigen Festsetzung vom 09. Juni 2009 und erhob kurz danach, am 16. Juli 2010 Klage.

Auf den Überprüfungsantrag hin erließ der Beklagte am 27. April 2011 einen Änderungsbescheid, der über § 96 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens wurde. Die Raume stehende Erstattungsforderung reduzierte sich auf 1.444,82 EUR. Der Beklagte legte der geänderten endgültigen Leistungsfestsetzung nunmehr ein durchschnittliches bereinigtes Einkommen in Höhe von 383,04 EUR beim Kläger (neben Kindergeldeinkommen der Tochter und einem geringen Erwerbseinkommen der Ehefrau) leistungsmindernd zugrunde.

Zur Begründung seiner Klage trägt der Kläger, der Verlustvortrag aus dem Jahr 2007 in Höhe von 7.749,36 EUR müsse im Rahmen der Leistungsberechnung für Juni bis November 2008 eingerechnet werden. Dies folge aus Gründen des Vertrauensschutzes, denn in der Vergangenheit habe er die Verluste ebenfalls einkommensmindernd eingerechnet, ohne dass dies seitens des Beklagten beanstandet worden sei. Seine ganze Kalkulation habe daher darauf aufgebaut, dass der Verlustvortrag auch weiterhin einkommensmindernd berücksichtigt werde. Hätte er gewusst, dass dies nicht der Fall sei, hätte er seine Finanzangelegenheiten anders geregelt und Kredite aufgenommen.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 09. Juni 2009 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 18. Juni 2010 und des Änderungsbescheides vom 27. April 2011 zu verpflichten, die Leistungen für den hier streitigen Leistungszeitraum Juni 2008 bis November 2008 neu endgültig festzusetzen mit der Maßgabe, dass der Verlustvortrag aus dem Vorjahr einkommensmindernd berücksichtigt wird und keine Erstattungsforderung mehr geltend gemacht wird.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Aus seiner Sicht besteht keine Grundlage für eine einkommensmindernde Berücksichtigung des Verlustvortrags.

Zum Vorbringen der Beteiligten im Übrigen und zu den weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und den Verwaltungsvorgang des Beklagten, der auch Gegenstand der mündlichen Verhandlung am 17. April 2012 war, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässig und als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gemäß § 54 Abs 1 Satz 1 SGG statthafte Klage hat keinen Erfolg.

Der angegriffene Bescheid in der letzten Fassung des Änderungsbescheids vom 27. April 2011 erweist sich als rechtmäßig und beschwert den Kläger daher nicht im Sinne des § 54 Abs 2 Satz 1 SGG. Die Leistungsberechnung des Beklagten, die der geltend gemachten Erstattungsforderung zugrunde liegt, ist aus rechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Zutreffend hat der Beklagte keinen Verlustvortrag bei der Berechnung des Einkommens aus der Selbständigkeit des Klägers berücksichtigt.

Die Berechnungen des Beklagten in Bezug auf die Höhe des anzurechnenden Einkommens des Klägers aus dessen Selbständigkeit im Zeitraum Juni 2008 bis einschließlich November 2008 entsprechen sowohl den gesetzlichen Vorgaben als auch rechnerisch den vorhandenen Angaben zu den Betriebseinnahmen und -ausgaben. Der letzte Punkt, dh die Berechnung als solche, war zwischen den Beteiligten, abgesehen von der Frage des Verlustvortrags, auch nicht streitig.

Gemäß § 11 Abs 1 Satz 1 ist als Einkommen jede Einnahme in Geld oder Geldeswert zu berücksichtigen. In § 11 Abs 3 SGB in der hier einschlägigen Fassung war im Einzelnen geregelt welche Positionen vom Einkommen abzusetzen sind. Zur Berechnung des Einkommens bei Selbständigen enthält die Arbeitslosengeld-II-Verordnung (ALG II-V) nähere Bestimmungen. Gemäß § 3 Abs 1 Satz 1 der ALG II-V in der hier einschlägigen, im Jahr 2008 geltenden Fassung vom 17. Dezember 2007, ist bei der Berechnung des Einkommens aus selbständiger Arbeit von den Betriebseinnahmen auszugehen, wobei nach Satz 2 Betriebseinnahmen aller aus selbständiger Arbeit erzielten Einnahmen zu zählen sein sollten, die im Bewilligungszeitraum (§ 41 Abs 1 Satz 4 SGB II) tatsächlich zuflossen. Gemäß Absatz 2 sollten zur Berechnung des Einkommens von den Betriebseinnahmen die im Bewilligungszeitraum tatsächlich geleisteten notwendigen Ausgaben, mit Ausnahme der nach § 11 Abs 2 des SGB II abzusetzenden Beträge, ohne Rücksicht auf steuerrechtliche Vorschriften abgesetzt werden.

In der Vorgängerfassung der ALG II-V vom 22. August 2005, die vom 01. Oktober 2005 bis zum 31. Dezember 2007 galt, war zur Berechnung des Einkommens aus selbständiger Tätigkeit im damaligen § 2a Abs 1 geregelt, dass bei der Berechnung des Einkommens aus selbständiger Arbeit vom Arbeitseinkommen im Sinne des § 15 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IV) auszugehen sei. Gemäß Abs 2 Satz 1 sollte das Einkommen für das Kalenderjahr zu berechnen sein, in dem der Bedarfszeitraum lag (Berechnungsjahr).

Das Gericht vermag weder in § 11 SGB II der hier einschlägigen, im Jahr 2008 geltenden Fassung, noch aus der geltenden Regelung der ALG II-V (2008) eine Rechtsgrundlage für die einkommensmindernde Berücksichtigung des steuerlichen Verlustvortrags aus dem Jahr 2007 im Rahmen der Leistungsberechnung für das Jahr 2008 zu erkennen. Die Absetzung eines Verlustvortrags, d. h. die Verringerung des Einkommens im Jahr 2008 durch Abzug der Verluste aus dem Jahr 2007, ist gesetzlich nicht vorgesehen. Es handelt sich nicht um eine tatsächliche Betriebsausgabe im Berechnungsjahr 2008. Der Verlustvortrag lässt sich nicht unter die gesetzlichen Vorgaben über die Bereinigung des Einkommens aus der Selbständigkeit subsumieren.

Eine einkommensmindernde Berücksichtigung des Verlustvortrags aus dem Jahr 2007 im Rahmen der hier streitigen Leistungsberechnung für den Zeitraum Juni bis November 2008 kommt auch nicht aus Gründen des Vertrauensschutzes in Betracht. Denn auch nach dem bis zum 31. Dezember 2007 geltenden Recht war die Berücksichtigung des Verlustvortrags nicht möglich. Gemäß § 2 a Abs 1 ALG II-V (2005) bestimmte sich das zu berücksichtigende Einkommen bei der Bedarfsberechnung eines Selbständigen nach den Maßgaben des § 15 Abs 1 Satz 1 SGB IV. Danach war Arbeitseinkommen der nach den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommenssteuerrechts ermittelte Gewinn aus einer selbständigen Tätigkeit, wobei allerdings das Einkommen nach § 15 Abs 2 Satz 1 SGB IV nur für das Kalenderjahr zu berechnen war, in dem der Bedarfszeitraum lag (Berechnungsjahr). Danach war es auch nach altem Recht ausgeschlossen, dass ein abschnittsübergreifender Verlustausgleich bei der Gewinnfeststellung zur Ermittlung des sozialrechtlichen Einkommensbegriffs berücksichtigt werden konnte, denn der Verlustabzug nach § 10 d Einkommenssteuergesetz (EStG) zählt weder als Verlustrücktrag, noch als Verlustvortrag zu den allgemeinen Gewinnermittlungsvorschriften des Einkommenssteuerrechts (vgl VG Hannover, Beschluss vom 19. September 2006 - 6 A 2706/05 -, Randnummer 2 - veröffentlicht bei .de).

Entgegen der Auffassung des Klägers kann sich Vertrauensschutz in die Abziehung des Verlustvortrages für die Zukunft auch nicht darauf stützen, dass der Beklagte möglicherweise in der Vergangenheit, dh vor Juni 2008, die Absetzung des Verlustvortrags bei der Darstellung der Betriebsein- und -ausgaben durch den Kläger hingenommen und insoweit rechtswidrig zu geringes Einkommen akzeptiert hat. Soweit der Beklagte in der Vergangenheit rechtswidrig gehandelt hat, indem der Verlustvortrag einkommensmindernd berücksichtigt wurde, lassen sich hieraus keine Rechte für die Zukunft ableiten. Zwar könnte Vertrauensschutz in Bezug auf den Bestand der Bewilligungen in der Vergangenheit bestehen, soweit der Kläger in die Richtigkeit der Berechnungen des Beklagten Vertrauen durfte. Eine nachträgliche Änderung der Bewilligungslage vor Juni 2008 käme nur unter den strengen Voraussetzungen des § 45 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) in Betracht. Der Kläger kann jedoch nicht verlangen, dass aufgrund der rechtswidrigen Berechnungen in der Vergangenheit der Beklagte auch zukünftig und sehenden Auges den Fehler fortsetzen würde bzw dazu verpflichtet ist. Eine Selbstbindung der Verwaltung ist nicht eingetreten, denn diese kann selbstverständlich nicht in Bezug auf rechtswidriges Handeln angenommen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.