Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 07.04.2008, Az.: L 9 AS 111/08 ER
Voraussetzungen für die Rücknahme einer Leistungskürzung von Arbeitslosengeld II i.R.e. einstweiligen Anordnung nach Stellung eines Überprüfungsantrages; Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes bei einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung i.R.e. sog. Zugunstenverfahrens nach Bestandskraft eines Bescheides
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 07.04.2008
- Aktenzeichen
- L 9 AS 111/08 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2008, 31615
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2008:0407.L9AS111.08ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Lüneburg - 23.01.2008 - AZ: S 24 AS 1862/07 ER
Rechtsgrundlagen
- § 44 SGB X
- § 86b Abs. 2 S. 2, 4 SGG
Tenor:
Die Beschwerde gegen die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes im Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg vom 23. Januar 2008 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Der Beschwerdeführer begehrt die Rücknahme einer Leistungskürzung seiner Arbeitslosengeld II (Alg II)-Zahlungen rückwirkend seit dem 19. Oktober 2006 im Rahmen einer einstweiligen Anordnung nach Stellung eines Überprüfungsantrages gem. § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X).
Mit Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 21. Mai 2007 hat die Beschwerdegegnerin den Bewilligungsbescheid vom 11. Januar 2007 nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) für die Zeit vom 19. Oktober 2006 bis 31. März 2007 teilweise aufgehoben und eine Überzahlung in Höhe von 1.600,66 Euro zurückgefordert. Der hiergegen gerichtete Widerspruch vom 08. Juni 2007 blieb ebenso erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 10. Juli 2007) wie das Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg ( S 24 AS 1172/07).
Am 07. September 2007 hat der Beschwerdeführer einen Überprüfungsantrag gem. § 44 SGB X bei der Beschwerdegegnerin gestellt, ohne diesen näher zu bezeichnen. Mit Schreiben vom 21. November 2007 hat er diesen Antrag dahingehend konkretisiert, dass er sich auf den Widerspruchsbescheid vom 10. Juli 2007 über die Mietzahlungen beziehe. Es habe sich bei ihm vom 01. April 2007 bis 01. November 2007 eine Mietschuld in Höhe von 2.400,- Euro nebst Unterhaltsschulden in Höhe von 3.080,04 Euro aufgebaut.
Mit Bescheid vom 28. November 2007 hat die Beschwerdegegnerin den Überprüfungsantrag als unzulässig zurückgewiesen, weil gegen einen Widerspruchsbescheid nur die Klage als Rechtsmittel zulässig sei. Den anschließenden Widerspruch vom 03. Dezember 2007 hat sie als unzulässig verworfen, weil ihr Schreiben vom 28. November 2007 lediglich der Information gedient und keine Entscheidung über einen Rechtsanspruch getroffen habe. Die Möglichkeit der Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen den Widerspruchsbescheid vom 10. Juli 2007 sei von dem Beschwerdeführer in Anspruch genommen worden. Die Klage gegen den Widerspruchsbescheid vom 10. Juli 2007 habe das Sozialgericht (SG) in dem Verfahren S 24 AS 1172/07 mit Urteil abgewiesen. Eine nochmalige Überprüfung des Widerspruchsbescheides scheide damit aus.
Mit am 28. Dezember 2007 bei dem SG eingegangenen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und Klageeinreichung verfolgt der Beschwerdeführer seinen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X weiter und begehrt Leistungen in vollem Umfang rückwirkend und "auch weiterhin". Die besondere Eilbedürftigkeit ergebe sich aus der konkreten, täglichen Verschlechterung seiner Lebensbedingungen, die sich ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung fortsetzen würde. Insbesondere drohe Verschuldung und Wohnungsverlust. Auf Empfehlung des SG vom 15. August 2007 im Verfahren S 24 AS 1082/07 ER habe er bei der Beschwerdegegnerin einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X gestellt. Gegen die insoweit erfolgte Ablehnung erhebe er Klage. Die Schulden beliefen sich derzeit insgesamt auf 7.637,37 Euro.
Das SG hat den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz als unzulässig abgelehnt, weil der Beschwerdeführer die Überprüfung hinsichtlich eines Leistungszeitraums in der Vergangenheit (19. Oktober 2006 bis 31. März 2007) begehre. Wegen der Vorläufigkeit des Eilverfahrens spreche das Gericht keine Leistungen für die Vergangenheit zu, dies könne nur im Hauptsacheverfahren geltend gemacht werden.
Gegen den am 25. Januar 2008 zugestellten Beschluss richtet sich der Beschwerdeführer mit seiner am 18. Februar 2008 eingereichten Beschwerde unter Aufrechterhaltung seines bisherigen Vorbringens. Es gehe in diesem Verfahren nur um sein Recht auf die Kosten der Unterkunft, sowohl rückwirkend "als auch weiterhin". Er könne von seiner Mutter nicht verlangen, dass sie für ihn alles bezahle. In den Verfahren L 9 AS 599/07 ER und S 24 AS 1172/07 hätten die Richter bereits inhaltliche Bedenken bezüglich der Leistungseinstellung angeführt.
Das SG hat mit Verfügung vom 19. Februar 2008 der Beschwerde nicht abgeholfen und diese dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen zur Entscheidung vorgelegt.
Der Beratung und Entscheidung haben die Verwaltungsakte der Beschwerdegegnerin sowie die Gerichtsakte zugrunde gelegen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Der Beschwerdeführer kann nicht im Wege der einstweiligen Anordnung die Feststellung verlangen, dass ihm im Rahmen des geltend gemachten Überprüfungsantrages nach § 44 SGB X höhere Alg II-Leistungen als bisher zustehen.
Im Ergebnis hat das SG mit dem angefochtenen Beschluss vom 23. Januar 2008 zu Recht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Der Erlass einer solchen einstweiligen Anordnung ist zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis gem. § 86 b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer Regelungsanordnung ist stets, dass sowohl ein Anordnungsgrund (d.h. die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile) als auch ein Anordnungsanspruch (d.h. die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs) glaubhaft gemacht werden (vgl. § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO - ). Grundsätzlich soll wegen des vorläufigen Charakters der einstweiligen Anordnung die endgültige Entscheidung der Hauptsache nicht vorweg genommen werden. Wegen des Gebots, effektiven Rechtsschutz zu gewähren (vgl. Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz - GG -), ist von diesem Grundsatz eine Abweichung nur dann geboten, wenn ohne die begehrte Anordnung schwere und unzumutbare, später nicht wieder gut zu machende Nachteile entstünden, zu deren Beseitigung eine nachfolgende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69, 74 [BVerfG 25.10.1988 - 2 BvR 745/88] m.w.N.). Ein derartiger Fall ist hier jedoch nicht gegeben, weil bereits ein Anordnungsgrund nicht ausreichend dargetan ist. Wird die Eilbedürftigkeit gar nicht erst geltend gemacht bzw. fehlt diese offensichtlich, ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung unzulässig (vgl. Meyer-Ladewig/Keller, SGG 8. Aufl., § 86 b Rdnr. 26 c).
Vorliegend könnte bereits fraglich sein, ob überhaupt ein vorläufiger Rechtszustand im Sinne des § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG besteht, weil der mit dem Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X von dem Beschwerdeführer überzogene Bescheid vom 11. Januar 2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10. Juli 2007 nach dem vom SG entschiedenen Gerichtsverfahren (S 24 AS 1172/07) bereits rechtskräftig im Sinne von § 77 SGG geworden ist. Insoweit stellt sich nämlich die Frage, wieso ein Rechtszustand vorläufig geregelt werden muss, der bereits nach Abschluss des gerichtlichen Verfahrens rechtskräftig geregelt ist. Der Antrag nach § 44 SGB X stellt insoweit lediglich eine Überprüfung dieser anerkannten Regelung dar. Der 7. und 8. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen (LSG) haben hierzu die Auffassung vertreten, dass im Rahmen eines Verfahrens nach § 44 SGB X - dem so genannten Zugunstenverfahren nach Bestandskraft eines Bescheides - bei einem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung besonders strenge Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes zu stellen seien, so dass ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung neben einem Antrag nach § 44 SGB X grundsätzlich als möglich erachtet wird (vgl. Beschluss vom 11. April 2006, Az.: L 7 AS 83/06 ER; Beschluss vom 09. Februar 2006, Az.: L 7 AS 484/05 ER; Beschluss vom 16. Oktober 2005, Az.: L 8 B 96/06 AS). Dem hat sich auch der erkennende Senat angeschlossen (Beschluss vom 21. September 2006, Az.: L 9 AS 461/06 ER). Dennoch ist es anlässlich eines Überprüfungsantrages eines bestandskräftigen Bescheides für die Vergangenheit gem. § 44 SGB X dem Betroffenen im Regelfall zumutbar, die Entscheidung im Verwaltungs- und ggf. in einem anschließenden Hauptsacheverfahren abzuwarten, weil das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 SGG regelmäßig nicht darauf gerichtet ist, Geldleistungen für die Vergangenheit, sondern für die Gegenwart und Zukunft zu gewähren (vgl. Meyer-Ladewig/Keller, SGG, a.a.O., Rdnr. 28).
Nach dem gegen den Widerspruchsbescheid vom 10. Juli 2007 durchgeführten sozialgerichtlichen Klageverfahren zum Aktenzeichen S 24 AS 1172/07 vor dem SG erscheint es für den Senat hinnehmbar, dass der Beschwerdeführer das mit diesem Eilantrag gleichzeitig eingereichte Klageverfahren vor dem SG abwartet. Denn einstweiliger Rechtsschutz ist nur zu gewähren, wenn dem Antragsteller die Änderung des bisherigen Zustandes bzw. dessen Aufrechterhaltung in der Interimszeit, also ein Abwarten bis zur Entscheidung in der Hauptsache, unter Abwägung der allseitigen Interessen nicht zumutbar ist (vgl. Binder in HK-SGG, § 86 b Rdnr. 33). Hierfür ist vorliegend nichts ersichtlich. Tatsächlich wird das SG allerdings im durchzuführenden Klageverfahren entgegen der Beschwerdegegnerin eine Überprüfung nach § 44 SGB X hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen ab 19. Oktober 2006 durchzuführen haben. Eine Überprüfung für die Vergangenheit konnte im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nach den obigen Ausführungen nicht erfolgen.
Darüber hinaus ist für die Zukunft kein Eilbedürfnis ersichtlich, weil der Beschwerdeführer die angeblich bei ihm aufgelaufenen Außenstände weder glaubhaft gemacht noch eine existenziell bedrohliche wirtschaftliche Notlage dargelegt hat. Dies ergibt sich auch aus seiner Angabe, dass offensichtlich seine Mutter derzeit die bei ihm auflaufenden Kosten trägt. Vor diesem Hintergrund war im Rahmen der gebotenen summarischen Überprüfung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes eine weitere Prüfung nicht erforderlich.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von § 193 SGG.
Der Beschluss ist für die Beteiligten nicht anfechtbar, § 177 SGG.