Sozialgericht Osnabrück
Urt. v. 19.02.2020, Az.: S 23 AS 69/18
Berücksichtigung der tatsächlichen Unterkunftskosten bei fehlendem Nachweis des Zugangs der Kostensenkungsaufforderung wegen Unangemessenheit im Rahmen der zu bewilligenden Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II
Bibliographie
- Gericht
- SG Osnabrück
- Datum
- 19.02.2020
- Aktenzeichen
- S 23 AS 69/18
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2020, 12295
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlage
- § 41a Abs. 5 SGB II
Tenor:
Der als endgültige Festsetzung geltende Bescheid des Beklagten vom 8. Dezember 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Januar 2018 und in der Fassung des Änderungsbescheids vom 23. März 2018 wird abgeändert und der Beklagte wird verurteilt, wird abgeändert und der Beklagte wird verurteilt, für die Zeit vom 1. Februar 2018 bis zum 30. Juni 2018 der Klägerin zu 1) insgesamt 197,58 EUR, dem Kläger zu 2) insgesamt 197,54 EUR und dem Kläger zu 3) insgesamt 129,88 EUR als weitere Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu bewilligen. Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Höhe der den Klägern zu bewilligenden Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II für die Zeit vom 1. Februar bis zum 30. Juni 2018. Die 1995 geborene Klägerin zu 1) und der 1993 geborene Kläger zu 2) sind verheiratet; der 2017 geborene Kläger zu 3) ist das gemeinsame Kind der Kläger zu 1) und 2). Die Bedarfsgemeinschaft bewohnt seit dem 1. Dezember 2016 eine 114 m² große Dreizimmerwohnung in Z, für die sie eine Kaltmiete von 530 EUR zzgl. 65 EUR Nebenkosten und 30 EUR Garagenmiete monatlich aufzuwenden haben. Eine Zusicherung ist unstreitig nicht erfolgt. Für die Zeit vom 1. Februar 2017 bis zum 30. Juni 2017 bewilligte der Beklagte den Klägern Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II unter Berücksichtigung angemessener Unterkunftskosten von 490 EUR monatlich zuzüglich Heizkosten. Bereits mit der Bewilligung vom 24. Februar 2017 forderte der Beklagte die Kläger zur Senkung der Heizkosten auf. Das entsprechende Schreiben ist der Klägerin zu eins persönlich übergeben worden. Nachdem der Beklagte den Klägern mit Bescheid vom 30. Juni 2017 für den Folgezeitraum vom 1. Juli 2017 bis zum 31 Dezember 2017 vorläufig zunächst Unterkunftskosten in gleicher Höhe weiter bewilligt hatte, änderte er mit Bescheiden vom 10. Juli 2017 für Juni 2017 und vom 11. Juli 2017 für Juli 2017 bis Dezember 2017 die Leistungsbewilligung ab und bewilligte die Unterkunftskosten in tatsächlicher Höhe. Der dem Prozessbevollmächtigten der Kläger übermittelte Bescheid vom 10. Juli 2017 enthielt folgenden Zusatz: "Zwar wurde ihre Mandantschaft in verschiedenen Gesprächen darauf hingewiesen, dass die zum 1. Dezember 2016 angemietete Wohnung für drei Personen hinsichtlich Kosten und Größe nicht angemessen im Sinne der einschlägigen Höchstgrenzen ist. Allerdings wurde ihre Mandantschaft nicht schriftlich hinsichtlich der Höchstgrenzen belehrt, sodass die tatsächlichen Kosten in Höhe von 715 EUR berücksichtigt werden. Eine entsprechende Belehrung wird in nächster Zeit erfolgen." Mit zwei Schreiben vom 11. Juli 2017 gerichtet an die Kläger persönlich wies der Beklagte auf die angemessene Höhe der Unterkunftskosten und der Heizkosten hin. In der Folgezeit ergingen weitere Änderungsbescheide. In den Bescheiden vom 25. Juli 2017 und vom 12. Oktober 2017 wird auf den Änderungsbescheid vom 11. Juli 2017 hingewiesen. Wegen eines laufenden Widerspruchsverfahrens nahm der Bevollmächtigte der Kläger offenbar am 14. August 2017 Akteneinsicht. Auf den Weiterbewilligung Antrag der Kläger vom 8. Dezember 2017 bewilligte der Beklagte ihnen mit Bescheid vom 8. Dezember 2017 vorläufig Leistungen für Januar 2018 in Höhe von 392,41 EUR und für Februar bis Juni 2018 in Höhe von 506,86 EUR. Ab Februar berücksichtigte der Beklagte nur noch 520 EUR statt der tatsächlich gezahlten 595 EUR für die Bruttokaltmiete der Kläger. Die Kosten für die Anmietung der Garage berücksichtigte er nicht mehr. Dies entspreche dem Konzept zur Ermittlung der Angemessenheitsgrenzen im SGB II-Bezug. Auf Nachfrage des klägerischen Prozessbevollmächtigten änderte der Beklagte die Leistungsbewilligung für Januar 2018 ab und bewilligte der Bedarfsgemeinschaft nunmehr 611,86 EUR. Gegen den Bescheid vom 8. Dezember 2017 erhoben die Kläger wegen der Kürzung der Unterkunftskosten ab Februar 2018 Widerspruch. Diesen Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 2018 als unbegründet zurück. Die Kläger haben am 29 Januar 2018 Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren weiter verfolgen. Die Kostensenkungsaufforderungen vom 11. Juli 2017 sei ihnen nicht zugegangen. Im Übrigen genüge das Konzept des Beklagten nicht den Anforderungen des Bundessozialgerichts (BSG), insbesondere im Hinblick auf die Heranziehung von Bestandsmieten und die Erhebung des Mindeststandards. Die Kläger beantragen,
den Bescheid des Beklagten vom 08. Dezember 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Januar 2018 und in der Fassung des Änderungsbescheids vom 23. März 2018 abzuändern und den Klägern Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende für die Monate Februar bis Juni 2018 unter Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten der Unterkunft zu bewilligen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Kostensenkungsaufforderungen seien am 11. Juli 2017 zur Post gegeben worden und nicht zurückgekommen. Im Übrigen habe das Konzept nach wie vor Bestand. Im laufenden Verfahren hat der Beklagte die Aktualisierung 2018 zur Herleitung von Mietobergrenzen für angemessene Kosten der Unterkunft im Landkreis B-Stadt vorgelegt und ausgeführt, für drei Personen im Vergleichsraum Süd belaufe sich die angemessene Bruttokaltmiete nunmehr auf 530 EUR (410 EUR Kaltmiete und 120 EUR Nichtprüfungsgrenze Nebenkosten). Diese werde bei der endgültigen Leistungsfestsetzung berücksichtigt. Eine endgültige Festsetzung ist nicht erfolgt. Allerdings hat der Beklagte für den gesamten Bewilligungszeitraum eine Überzahlung von ca. 1.500 EUR aufgrund des endgültig anzurechnenden Einkommens ermittelt. Die Kläger bestreiten die Richtigkeit der zugrunde gelegten Beträge. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegten Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen. Letztere sind erst unmittelbar vor der mündlichen Verhandlung vorgelegt worden. Der Klägervertreter hat einer Entscheidung der Kammer zugestimmt, aber für ein eventuell durchzuführendes Berufungsverfahren schon jetzt Akteneinsicht beantragt.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 8. Dezember 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Januar 2018 und in der Fassung des Änderungsbescheids vom 23. März 2018 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten. Die Kläger haben für den streitgegenständlichen Zeitraum Anspruch auf weitere Leistungen in dem ausgeurteilten Umfang. Streitgegenständlich ist nach dem vom Klägervertreter in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag allein die Zeit vom 1. Februar 2018 bis zum 30. Juni 2018. Der Monat Januar 2018 ist nicht Gegenstand des Widerspruchs- und Klageverfahrens, so dass es dementsprechend auch der Änderungsbescheid vom 21. Dezember 2017, der sich allein auf diesen Monat bezieht, nicht streitgegenständlich ist. Die Kläger zu 1) und 2) haben ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland und sind im Rahmen der Altersgrenzen erwerbsfähig und hilfebedürftig nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II; Leistungsausschlüsse liegen nicht vor. Der Kläger zu 3) ist als Teil der Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 2, 3 Nr. 4 SGB II leistungsberechtigt. Für den Bedarf der Antragsteller sind jeweils der Regelbedarf in Höhe von 374 EUR für die Kläger zu 1) und 2) und in Höhe von 240 EUR für den Kläger zu 3) zu berücksichtigen. Die Unterkunftskosten sind kopfanteilig ausgehend von den tatsächlichen Unterkunftskosten zu berücksichtigen, da der Zugang der Kostensenkungsaufforderung vom 11. Juli 2017 nicht nachgewiesen werden kann. Der Beklagte hat diese nicht mit Postzustellungsurkunde versandt, sondern lediglich mit einfachem Brief. Die Kläger bestreiten den Zugang. Eine Kenntnis von der Kostensenkungsobliegenheit lässt sich auch nicht dadurch konstruieren, dass den Klägern im ersten Halbjahr 2017 bereits abgesenkte Unterkunftskosten bewilligt worden waren. Denn dem Handeln des Beklagten fehlt die gebotene Eindeutigkeit (vgl. dazu (BSG, Urteil vom 22. November 2011 - B 4 AS 219/10 R -, juris, Rn. 21). Der entsprechende Änderungsbescheid vom 10. Juli 2017 enthielt zwar einen Hinweis auf eine fehlende Angemessenheit der Unterkunftskosten; ab wann diese indes wieder zu berücksichtigen sein sollten, lässt sich ihm ohne die Kostensenkungsaufforderung vom 11. Juli 2017 nicht entnehmen. Auch zur Höhe der angemessenen Unterkunftskosten enthält der Hinweis vom 10. Juli 2017 keine ausreichenden Angaben. Daran ändert sich auch dadurch nichts, dass eine Kostensenkungsaufforderung angekündigt war. Schließlich führt auch die vom klägerischen Prozessbevollmächtigten am 14. August 2017 genommene Akteneinsicht nicht dazu, dass die Kostensenkungsaufforderung als bekannt gegeben gewertet werden muss. Da es an einer Kostensenkungsaufforderung fehlt, sind die Unterkunftskosten weiterhin in tatsächlicher Höhe zu übernehmen, ohne dass es auf ihre Angemessenheit ankommt. Dementsprechend kann offen bleiben, ob das diesbezügliche Konzept des Beklagten den Anforderungen des Bundessozialgerichts (vgl. die Darstellung bei Piepenstock, in: Schlegel/Voelzke [Hrsg.], jurisPK-SGB II, 4. Aufl., § 22 [Stand: 23.10.2019], Rn. 84 ff.) genügt. Dem so ermittelten Bedarf der Kläger von monatlich 612,32 EUR für die Klägerin zu 1), 612,34 EUR für den Kläger zu 2) und 478,34 EUR für den Kläger zu 3) ist das monatliche Einkommen gegenüber zu stellen, wie aus sich aus dem vorläufigen Bewilligungsbescheid vom 8. Dezember 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 15. Januar 2018 und in der Fassung des Änderungsbescheids vom 23. März 2018 ergeben hat. Denn diese Bescheide gelten nach der Fiktion des § 41 a Abs. 5 Satz 1 SGB II mit Ablauf eines Jahres nach dem Ende des Bewilligungszeitraums als endgültig. Die Ausnahmen dazu nach § 41 a Abs. 5 Satz 2 Nr. 1 und 2 SGB II greifen vorliegend nicht ein. Die Kläger haben eine endgültige Festsetzung nicht beantragt (Nr. 1), und es besteht insofern auch kein anderer Grund für einen nicht oder nur in geringerem Umfang bestehenden Leistungsanspruch (Nr. 2), abgesehen von der Höhe des anzurechnenden Einkommens, dass der Grund für die Vorläufigkeit gegeben ist. Für eine weitergehende Korrektur der nunmehr als endgültig geltenden Bescheide fehlt dem Beklagten die Rechtsgrundlage (vgl. O. Loose, in Hohm [Hrsg.], Gemeinschaftskommentar zum SGB II, Loseblatt, Stand: November 2017, § 41 a Rn. 114), da § 41 a Abs. 5 SGB II im Verhältnis zu § 40 SGB II i.V.m. §§ 45, 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) eine abschließende Spezialregelung darstellt. Für § 45 SGB X kommt hinzu, dass es an einer anfänglichen Rechtswidrigkeit der fingierten endgültigen Leistungsfestsetzung fehlt. Die Situation ist insoweit derjenigen bei § 13 Abs. 3 a Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) vergleichbar, bei der für die Rechtswidrigkeit des Eintritts der Genehmigungsfiktion nur auf die Voraussetzungen der Fiktion abzustellen ist (so ausdrücklich Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 07. November 2017 - B 1 KR 15/17 R -, juris, Rn. 39 ff; anders wohl BSG, Urteil vom 11. Mai 2017 - B 3 KR 30/15 R -, juris, Rn. 50). Die Voraussetzungen der Fiktionswirkung nach § 41 a Abs. 5 SGB II haben vorgelegen, und daran ist auch keine Änderung eingetreten, mit der Folge, dass auch eine Aufhebung nach § 45 SGB X nicht in Betracht kommen kann. Dies entspricht den Motiven des Gesetzgebers. In der Begründung des Gesetzentwurfes ist ausgeführt (BT-Drs. 18/8041, S. 54): "Im Übrigen gilt diese Frist auch gegenüber der leistungsberechtigten Person, die einerseits nach Fristende keine Nachzahlung mehr geltend machen kann, andererseits aber nach Ablauf der Frist auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertrauen kann." Ein solcher Vertrauensschutz steht im Rahmen der nach § 45 Abs. 1, 2 SGB X regelmäßig vorzunehmenden Interessenabwägung einer Rücknahme entgegen, wenn nicht die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X nachweisbar vorliegen. Der Beklagte kann insofern auch nicht mit dem Argument gehört werden, dass die streitgegenständlichen Bescheide insgesamt angefochten seien und daher auch insgesamt nicht bindend geworden seien. Das trifft nicht zu; vielmehr ist das Begehren der Kläger allein auf höhere Leistungen gerichtet; für eine - hypothetische - Klage auf niedrigere Leistungen fehlte es bereits an einem Rechtsschutzbedürfnis. Ebenso fehlt für eine Neubescheidung durch den Beklagten das Rechtsschutzbedürfnis, da vorliegend ein ermessensunabhängiger Leistungsanspruch gegeben ist. Dem Beklagten ist zuzugeben, dass die Kläger damit höhere Leistungen erhalten, als sie bei ordnungsgemäßer Leistungsberechnung unter Einbeziehung des korrekten Einkommens hätten beanspruchen können; eine rechtzeitige endgültige Festsetzung zur Verhinderung des Eintritts der Fiktionswirkung wäre indes Sache des Beklagten gewesen. Auch für eine Begrenzung des Auszahlungsanspruchs dergestalt, dass die im Klageverfahren zuzusprechenden insgesamt Leistungen nicht über das hinausgehen dürfen, was den Klägern bei korrekter Einkommensanrechnung zugestanden hätte, besteht vorliegend keine Rechtsgrundlage. Insbesondere ermöglicht § 41 a Abs. 6 SGB II eine Saldierung nur dann, wenn eine endgültige Festsetzung erfolgt ist; bei bloßem Eintritt der Fiktionswirkung greift die Vorschrift nicht ein. Eine unmittelbare Anwendung des § 48 Abs. 3 SGB X kommt ebenfalls nicht in Betracht, da es - wie bereits ausgeführt - an einer Änderung der Verhältnisse in Bezug auf die Voraussetzungen der Fiktionswirkung fehlt. Eine planwidrige Regelungslücke, die eine analoge Anwendung des § 48 Abs. 3 SGB X rechtfertigen könnte, sieht die Kammer ebenfalls nicht. Dem steht - wie bereits ausgeführt - der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Die Berufung ist zuzulassen, damit jedenfalls mit dem ausgeurteilten Betrag der Berufungsstreitwert von mehr als 750 EUR gemäß § 144 SGG nicht erreicht wird, die Sache aber durchaus grundsätzliche Bedeutung aufweist.