Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 20.02.2002, Az.: 1 A 135/97
Aufenthaltsbefugnis; Härteklausel; N-Liste; Rücknahme; Vietnam
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 20.02.2002
- Aktenzeichen
- 1 A 135/97
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2002, 43454
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 30 Abs 3 AuslG
- § 42 AuslG
- § 55 Abs 2 AuslG
- § 70 AsylVfG
Gründe
2. Da die Klägerin bisher nicht ausgewiesen oder abgeschoben worden ist, die Sperrwirkung des § 8 Abs. 2 AuslG also nicht zum Zuge kommt, kann die Klägerin jedoch eine Aufenthaltsbefugnis nach § 30 Abs. 3 AuslG beanspruchen. Diese Vorschrift kann ebenso wie die anderen Absätze als allgemeine Härteklausel neben § 70 AsylVfG betrachtet werden (Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl., § 30 AuslG Rdn. 2), die u.a. dann eingreift, wenn Abschiebungshindernisse vorliegen und die Abschiebung (aus rechtlichen oder auch nur tatsächlichen Gründen) für einige Zeit - nicht nur vorübergehend - unmöglich ist.
2.1 Die Klägerin ist ohne Frage unanfechtbar ausreisepflichtig: Hierfür reicht es aus, dass sie kraft Gesetzes vollziehbar ausreisepflichtig iSv § 42 AuslG ist (VG Stuttgart, InfAuslR 1996, 423 [VG Stuttgart 07.10.1996 - 5 K 3183/95]). Hier kommt noch hinzu, dass die Klägerin aufgrund des Bescheides v. 7.10. 1991 - nach Rechtskraft des Asylurteils - ausreisepflichtig ist und der Antrag v. 19.2.1998 wg. § 69 Abs. 2 Nr. 2 AuslG (sonstiger Verwaltungsakt) keine Fiktionswirkung mehr entfalten kann. Die Klägerin ist grundsätzlich ausreisepflichtig und nach der eigenen Einschätzung des Beklagten wegen tatsächlicher Unmöglichkeit der Abschiebung nur fortlaufend - über viele Jahre - geduldet worden.
2.2 Für einen Anspruch aus § 30 Abs. 3 AuslG kommt es auf die Voraussetzungen des § 55 Abs. 2 AuslG an, nämlich u.a. auf die Unmöglichkeit der Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen. Insoweit enthält § 30 Abs. 3 AuslG eine Rechtsgrundverweisung (Nds. OVG v. 19.4.1996 - 4 M 625/96 -, NVwZ-Beilage 1996, 87 m.w.N.; Nds. OVG v. 20.1.1997 - 4 M 7062/96 -, NVwZ-Beilage 1997, 28 = AuAS 1997, 154-155; Gemeinschaftskommentar zum Ausländerrecht, Bd. 1, Loseblattsammlung/Std. Juli 2001, § 30 Rdn. 107), deren Voraussetzungen hier gegeben sind, zumal es bei § 55 Abs. 2 AuslG gar nicht darauf ankommt, ob der Ausländer auch - worauf der Beklagte abzustellen versucht - freiwillig ausreisen könnte (BVerwG, NVwZ 1998, 297 [BVerwG 25.09.1997 - BVerwG 1 C 3/97]). Nachdem für die Klägerin trotz jahrelanger Bemühungen über die Grenzschutzdirektion Koblenz - bei Vorlage ihres Passes - bisher keine Ausreisepapiere von den vietnamesischen Behörden zu erhalten waren und das auch während des Klageverfahrens erfolglos war (vgl. Gesprächsvermerk des Bekl. v. 11.12.2000, Bl. 64 GA), liegt es hier inzwischen so, dass aus tatsächlichen Gründen - der Weigerung seitens der vietnamesischen Behörden bzw. dem Fehlen von Ausweispapieren - eine Ausreise wie auch eine Abschiebung faktisch unmöglich sind. Damit liegen die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis vor. Denn diese kommt gem. § 30 Abs. 3 AuslG
"vorrangig dann in Betracht, wenn die Abschiebung ... aus rechtlichen Gründen auf einen längeren Zeitraum gesehen unmöglich erscheint. Denn mit Hilfe einer Duldung kann die Abschiebung nur zeitweise ausgesetzt werden...; auch kommt ihr nicht die Funktion .... eines vorbereitenden oder ersatzweise gewährten Aufenthaltsrechts zu" (OVG Bautzen, InfAuslR 2000, 76/77).
2.2.1 Es fehlt hier an der Aufnahmebereitschaft des vietnamesischen Staates, so dass eine Ausreise der Klägerin insgesamt nicht möglich ist. Nach Auffassung des BMI v. 30.9. 1997 (Az. A 2b - 125 610 VIE / 1) fallen auch vietnamesische Staatsangehörige, die freiwillig nach Vietnam zurückkehren wollen, in den Anwendungsbereich des mit Vietnam geschlossenen Rückübernahmeabkommens, "sofern sie nicht im Besitz von gültigen Heimreisedokumenten (einschließlich Heimreisevisum) sind". In Art. 1 dieses Abkommens ist ein Übernahmeermessen festgelegt, dem sich ein mehrstufiges Verfahren nebst Überprüfung der einschlägigen Unterlagen anschließt (Art. 2 ff. des Protokolls). Von ca. 20.000 an das vietnamesische Innenministerium weitergeleiteten Anträgen auf Rückübernahme sollen so über 5000 zurückgegeben worden sein (Stand 1997, Sitzung der Arbeitsgemeinschaft "Rückführung" am 29./30. Juli 1997 in Düsseldorf). Nach Auskunft der Grenzschutzdirektion Koblenz ist der Rückführungsantrag der Klägerin von der vietnamesischen Seite "ohne Einzelfallbegründung" und lediglich mit nachfolgendem Text abgelehnt worden:
"Es gibt noch Personen, bei deren Überprüfung wir keinen Erfolg wegen unrichtiger Angaben zum Namen, Vornamen und Anschrift erreicht haben." (vgl. Schr. des Bekl. v. 28.9.1998 / Bl. 62 GA).
Nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge stellt jedoch der vietnamesische Staat auch außerhalb des gen. Abkommens die erforderlichen Reisedokumente (u.a. Heimreisevisum) nicht aus, u.zw. vor allem dann nicht, wenn klar wird, dass der Antragsteller früher als Vertragsarbeitnehmer in der CSFR, in Bulgarien, Ungarn usw. tätig war. In diesen Fällen verneint die jeweilige vietnames. Botschaft ihre "Zuständigkeit". Dabei schützt der vietnamesische Staat nach den Informationen der Kammer auch einmal vor, der Name oder das Geburtsdatum des zurückzuführenden vietnamesischen Staatsbürgers seien nicht korrekt angegeben, oder aber er benennt die Gründe seiner Weigerung erst gar nicht im einzelnen (s.o.). Es mag sein, dass die vietnames. Regierung so "den Einfluß westlicher Werte über die RückkehrerInnen unter Kontrolle halten" will (so TAZ v. 22.9. 1998). Auch für eine Rückführung durch die Intern. Organization for Migration - IOM - werden Pässe und Rückreisevisa benötigt, bei deren Beantragung IOM lt. Schreiben vom 21.4.1997 nicht behilflich sein könne. Bei dieser Gesamtlage ist weder eine freiwillige Rückkehr im Rahmen des Rückübernahmeabkommens noch aber eine solche außerhalb dieses Abkommens - mangels Visum bzw. Genehmigung der vietnamesischen Seite - tatsächlich möglich, zumal die Klägerin nicht im Besitz ihres Passes ist (vgl. OVG Berlin, Beschl. v. 7.2.1994, InfAuslR 1994, 236). Die Möglichkeit, über Bestechungsgelder Zutritt zur vietnames. Botschaft und letztlich auch zu Heimreisepapieren zu erlangen, hat hier außer Betracht zu bleiben. Von dieser Unmöglichkeit einer Rückkehr nach Vietnam wird auch im Widerspruchsbescheid (S. 3) ausgegangen:
"Der Staat Vietnam hat sich über mehrere Jahre geweigert, die große Zahl der in Deutschland lebenden ausreisepflichtigen Vietnamesen, d.h. seine eigenen Staatsangehörigen, zurückzunehmen. Diese Weigerung war völkerrechtswidrig."
Das Motiv für diese Weigerung des vietnamesischen Staates und dessen "Völkerrechtswidrigkeit" ist jedoch im Rahmen von § 30 Abs. 3 AuslG ohne Bedeutung: Es geht nur um tatsächliche, objektive Hindernisse, die entgegen stehen; ihre rechtliche Bewertung ist bedeutungslos. Die Weigerung Vietnams ist belegt durch die Bemühungen des Beklagten und auch der Klägerin, die nicht zu einem Erfolg geführt haben. Dabei ist nachweislich der Versuch unternommen worden, eine Rückübernahme der Klägerin zu erreichen (Bl. 109 VerwVorgg.). Der Versuch ist gescheitert (vgl. dazu VG Stuttgart, InfAuslR 1996, 423/24).
Dabei kommt hier, was von erheblichem Gewicht ist, noch hinzu, dass die Klägerin nach der vom LKA Niedersachsen übermittelten sogn. "N-Liste" v. 16.1.2002 zu eben jenem Personenkreis gehört, der seitens des Heimatlandes Vietnam zur Rücknahme ausdrücklich abgelehnt worden ist (lfd. Nr. 2404, Listen-Nr. 41/38). Die im Frühjahr 2002 zu erwartenden Verhandlungen mit einer vietnamesischen Delegation aus Hanoi sind als derzeit völlig offen einzuschätzen und ihr Ausgang keineswegs klar. Damit ist deutlich belegt, dass eine freiwillige Ausreise wie auch eine Abschiebung nach Vietnam an der Haltung dieses Staates gegenüber der Klägerin scheitert und damit im Sinne des Gesetzes tatsächlich unmöglich ist.
Unter diesen Umständen gehört es nicht mehr zu den Obliegenheiten der Klägerin, eine Einreise nach Vietnam tatsächlich zu versuchen. Denn solche Versuche sind dann nicht mehr zumutbar, wenn sie von vorneherein aussichtslos sind (BVerwG, Urt. v. 15.2. 2001 - BVerwG 1 C 23.00 - ). So liegt es jedoch angesichts der Gesamtumstände hier, wie insbesondere die sog. "N-Liste" deutlich aufzeigt.
2.2.2 Diese tatsächlichen wie rechtlichen Hindernisse für eine freiwillige Ausreise bzw. Abschiebung hat die Klägerin auch nicht etwa zu vertreten: Der Beklagte hat über das LKA Niedersachsen bei der Grenzschutzdirektion Koblenz im Juli 1996 für die Klägerin einen Antrag auf Rückübernahme gestellt (Bl. 109 VerwVorgg) und so den Versuch unternommen, ausreisepflichtige Vietnamesen nach Vietnam zurückzuführen, was jedoch misslungen ist. Das dürfte seinen Grund in der oben dargestellten Weigerung des vietnamesischen Staates haben, bestimmte Staatsangehörige zurückzunehmen. Art und Umfang einer - freiwilligen - Mithilfe der Klägerin haben dabei kein Gewicht, da die Grenzschutzdirektion Koblenz die Angaben in allen Rückübernahmeanträgen selbständig noch in die Form des Selbstangabe-Vordrucks umsetzt (so Antwort des Staatssekretärs Schapper auf Frage 13 der Kl. Anfrage gem. Presseinformation des Nds. MI v. 5.8.1997), um eine Bearbeitung durch die vietnamesische Seite sicher zu stellen. Soweit dem Gericht bekannt, werden Heimreisepapiere (Visa) an "Renegaten" aus der ehem. CSFR jedoch nicht ausgegeben, was angesichts der "N-Liste" plausibel ist. Alle diese Hindernisse hat die Klägerin nicht zu vertreten, da sie objektiver Art sind.
Die konkrete Möglichkeit der Rückführung/Abschiebung der Klägerin ist damit z.Z. nicht gegeben - wenngleich es immer noch nicht ausgeschlossen zu sein scheint, dass der Zielstaat Vietnam sich (ohne rechtliche Verpflichtung) zu einer Aufnahme entschließt, was dann ausreichte (Renner, Ausländerrecht, Komm. 7. Aufl. 2000, § 55 Rdn. 8). Derzeit jedenfalls gibt es dafür keinerlei Anzeichen, so dass eine entsprechende Prognose (vgl. Renner, aaO.) negativ ausgeht und damit zu Gunsten der Klägerin ausschlägt.