Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 26.02.2002, Az.: 6 A 120/01
extreme Gefahrenlage; konkrete Gefahrenlage; nicht glaubhaft; politische Verfolgung; Rebellen; RUF-Herrschaft; Sierra Leone; staatliche Gewalt; Susu; Terrorakte; UNAMSIL; Versorgungslage
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 26.02.2002
- Aktenzeichen
- 6 A 120/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2002, 42861
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 53 Abs 6 AuslG
- Art 16a GG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Bei der aktuellen Lage in Sierra Leone besteht keine hinreichend wahrscheinliche Gefahr mehr, durch Rebellen verfolgt zu werden. Vielmehr wird die staatliche Hoheitsgewalt nicht mehr durch die RUF, sondern durch die UNAMSIL-Truppen ausgeübt. Die schlechte Versorgungslage rechtfertigt kein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 AuslG mehr. Bei pauschalem Vortrag ist die Herkunft aus Sierra Leone zweifelhaft.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Verpflichtung der Beklagten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen.
Der Kläger beantragte am 16. Februar 2001 in Hamburg seine Anerkennung als Asylberechtigter.
Bei seiner Anhörung am 12. März 2001 in Braunschweig erklärte er, er sei am 31. Dezember 1984 in Kpalamuya geboren und gehöre zur Volksgruppe der Susu. Er habe auf der elterlichen Farm gearbeitet. Die Rebellen seien gekommen und hätten seine Eltern und seinen kleinen Bruder ermordet. Er sei einige Tage im Busch umhergelaufen und sei schließlich in den Hafen gelangt. Dort habe ihn ein Schiff mit nach Deutschland genommen, wo er am 15. Februar 2001 angekommen sei.
Mit Bescheid vom 28. Juni 2001 lehnte die Beklagte den Asylantrag als offensichtlich unbegründet ab, verneinte die Voraussetzungen der §§ 51, 53 AuslG und forderte den Kläger unter Androhung der Abschiebung nach Sierra Leone zur Ausreise auf.
Am 5. Juli 2001 hat sich der Kläger sowohl mit einer Klage als auch mit einem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes an das Gericht gewandt.
Mit Beschluss vom 9. Juli 2001 (6 B 80/01) hat das Gericht die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt.
Der Kläger trägt vor, derzeit sei in Sierra Leone zumindest wieder eine beachtliche Gefahrenlage nach § 53 Abs. 6 AuslG gegeben. Seit Anfang 2000 habe es erneut Gefecht zwischen den UN-Truppen und den Rebellen gegeben. Es komme pausenlos zu Opfern unter der Zivilbevölkerung.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 28. Juni 2001 zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen sowie festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen, sowie festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 53 AuslG vorliegen und die Abschiebungsandrohung aufzuheben, soweit die Abschiebung nach Sierra Leone angedroht wird.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten sowie der Gerichtsakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Rechtsstreit wird im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden.
Die Klage hat keinen Erfolg.
Der Kläger hat gegen die Beklagte weder einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter noch auf Feststellung von Abschiebungshindernissen. Die Abschiebungsandrohung ist rechtmäßig.
Nach Art. 16 a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Dieses Recht kann derjenige in Anspruch nehmen, dem in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale, nämlich an die politische Überzeugung, an die religiöse Grundentscheidung oder an andere unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt intensive und ihn aus der übergreifenden Friedensordnung des Staates ausgrenzende Rechtsverletzung zugefügt worden sind oder unmittelbar gedroht haben (BVerfG, Beschluss vom 10.7.1998 - 2 BvR 502/86 -, BVerfGE 80, S. 315).
Die vom Kläger vorgetragenen Fluchtgründe begründen keinen Anspruch auf Asylanerkennung, da es sich nicht um eine staatliche Verfolgung handelt.
Bereits den Angaben des Klägers selbst ist nicht eindeutig zu entnehmen, dass er selbst überhaupt verfolgt wurde. So fehlen jegliche Angaben dazu, warum die Rebellen seine Eltern überfallen haben, ob es einen äußeren Anlass gab und wie der Angriff ablief.
Bei einem derartig einschneidenden Ereignis kann aber auch von einem nach eigenen Angaben damals minderjährigen Asylbewerber zumindest erwartete werden, dass er die Abläufe zusammenhängend schildert und seine Darstellung der Ereignisse, bei denen er seine gesamte Familie verloren haben will, nicht nur auf einen Satz beschränkt.
Eine derartige Schilderung kann das Gericht nicht als glaubhaft erachten.
Davon abgesehen ist zweifelhaft, ob der Kläger tatsächlich aus Sierra Leone stammt und das geschilderte Verfolgungsschicksal tatsächlich erlebt hat. Seinen wenigen Angaben über die angeblichen Ereignisse und sein Heimatland lassen nicht den sicheren Schluss zu, dass er wirklich aus Sierra Leone stammt. Die Volksgruppe der Susu, der er angehören will, lebt nur zu einem geringen Teil in Sierra Leone, überwiegend hingegen im benachbarten Guinea. Die Angaben, die der Kläger gemacht hat, sind auch Staatsangehörigen Guineas ohne weiteres
Die vom Kläger geschilderten Ereignisse stellten, wenn sie zutreffen würden, auch keine staatliche Verfolgung dar, da die Rebellen weder zum damaligen Zeitpunkt noch gegenwärtig staatliche Gewalt ausübten. Schon zum Zeitpunkt der Flucht des Klägers beherrschten die Rebellen militärisch nur noch geringe Teile des Landes und übten keine Hoheitsgewalt aus. Ihre Terrorakte verliefen vielmehr ohne erkennbares Muster.
Inzwischen stellt sich die Entwicklung Sierra Leones nach dem im November 2000 in Abuja vereinbarten Waffenstillstandsabkommen so dar, dass die zur Sicherung des Friedensabkommens eingesetzte UN-Truppe UNAMSIL den überwiegenden Teil des ehemals unter RUF-Herrschaft stehenden Territoriums unter Kontrolle hat.
Mittlerweile sind die Waffen von mehr als 40.000 Kämpfern eingesammelt worden (FAZ v. 5.1.2002; NZZ v. 14.1.2002). Die ehemaligen Kämpfer erhalten als Gegenleistung für ihre Entwaffnung über mehrere Wochen wirtschaftliche und infrastrukturelle Starthilfen.
Die RUF ist mit Ministerämtern an der Regierung Sierra Leones beteiligt und strukturiert sich wegen der für Mai geplanten Wahlen derzeit von einem kämpfenden Verband zu einer politischen Partei um. Ihr früherer Führer Sankoh befindet sich seit Mai 2000 in Haft (vgl. OVG Münster, Beschluss v. 21.9.2001 - 11 A 1360/01.A - in Asylmagazin 11/2001, S. 35). Sein weiteres Schicksal ist noch ungeklärt. Derzeit gibt es keine Berichte über weitere Kämpfe. Rückkehrer sind zumindest in der Hauptstadt Freetown und der überwiegenden Zahl der von den UNAMSIL-Truppen beherrschten Distrikte vor Kämpfen sicher.
Der Kläger hätte deshalb gegenwärtig keine Terrorakte seitens der Rebellen mehr zu befürchten.
Auch ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 AuslG besteht derzeit für Sierra Leone nicht mehr. Nach dieser Vorschrift kann von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, ganz allgemein ausgesetzt ist, werden bei Entscheidung nach § 54 AuslG berücksichtigt.
Grundsätzlich begründen allgemeine Gefahrenlagen keinen Abschiebungsschutz nach dieser Vorschrift, wenn keine allgemeine Entscheidung nach § 54 AuslG vorliegt.
Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt jedoch nach der Rechtsprechung des BVerwG (Urt. v. 17.10.1995, BVerwGE 99, 324), wenn eine extreme Gefahrenlage besteht, die jeden einzelnen Ausländer im Fall seiner Abschiebung gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefern würde (vgl. auch Hailbronner, Ausländerrecht, Stand 1997, A 1 § 53 AuslG Rn. 73 ff.).
Die Versorgungslage in Sierra Leone ist zwar als angespannt zu bezeichnen und verschlechtert sich durch die Rückkehr zahlreicher Flüchtlinge aus den Nachbarländern (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 3. April 2001; amnesty international, Auskunft v. 6. 2. 2001 an VG Gelsenkirchen). Angesichts der Betätigung vieler internationaler Hilfsorganisationen, die sich insbesondere um die Versorgung der Flüchtlinge mit Nahrungsmitteln und Frischwasser sowie um deren medizinische Versorgung bemühen, kann aber derzeit eine konkrete Gefahrenlage für Leben oder Gesundheit von Rückkehrern nicht mehr angenommen werden (vgl. OVG Münster, a.a.O.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b Abs. 1 AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.