Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 26.02.2002, Az.: 6 B 18/02

Dyskalkulie; Eingliederungshilfe; Lerntherapie; Schulphobie; seelische Behinderung; Vereinzelung

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
26.02.2002
Aktenzeichen
6 B 18/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2002, 41639
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Gründe

1

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, mit dem der Antragsteller begehrt, die Antragsgegnerin im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm wegen einer bestehenden Dyskalkulie Eingliederungshilfe gemäß § 35 a SGB VIII zu gewähren, hat Erfolg.

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Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn das zur Abwendung von wesentlichen Nachteilen oder drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Die Anwendung dieser Vorschrift setzt neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund) voraus, dass der Hilfesuchende mit Wahrscheinlichkeit einen Anspruch auf die begehrte Regelung hat (Anordnungsanspruch). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§§ 123 Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2 ZPO). Diese Voraussetzungen sind hier gegeben.

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1. Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Nach der im vorliegenden Verfahren allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung hat er gegen die Antragsgegnerin aller Voraussicht nach einen Anspruch auf Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII in Form der Kostenübernahme für die beantragte und beabsichtigte Lerntherapie.

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Nach § 35 a SGB VIII haben Kinder und Jugendliche, die seelisch behindert oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Anspruch auf Eingliederungshilfe. Seelisch behindert sind Kinder und Jugendliche, bei denen in Folge seelischer Störungen die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt ist (§ 35 a Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII i. V. m. § 3 Satz 1 Eingliederungshilfeverordnung). Seelische Störungen können eine seelische Behinderung zur Folge haben, müssen es aber nicht. Seelische Störungen genügen also noch nicht für die Annahme einer seelischen Behinderung; hinzukommen muss noch die Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft. Deshalb kommt es für die Frage, ob ein Kind oder Jugendlicher seelisch behindert ist, auf das Ausmaß, den Grad der seelischen Störung an. Entscheidend ist, ob die seelischen Störungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sind, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen. Bei bloßen Schulproblemen und auch bei Schulängsten, die andere Kinder teilen, ist eine seelische Behinderung zu verneinen. Eine behinderungsrelevante seelische Störung ist hingegen die auf Versagensängsten beruhende Schulphobie, die totale Schul- und Lernverweigerung, der Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und die Vereinzelung in der Schule. Von einer seelischen Behinderung bedroht sind Kinder und Jugendliche, bei denen eine seelische Behinderung als Folge seelischer Störungen noch nicht vorliegt, der Eintritt der seelischen Behinderung aber nach allgemeiner ärztlicher oder sonstiger fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. Zu der bereits geschilderten Beurteilung, unter welchen Voraussetzungen seelische Störungen eine seelische Behinderung bewirken, tritt im Falle einer bisher noch nicht eingetretenen Behinderung die Prognosebeurteilung hinzu, ob und gegebenenfalls wann bzw. mit welcher Wahrscheinlichkeit der Eintritt einer Behinderung zu erwarten ist. Da § 5 Eingliederungshilfeverordnung eine hohe Wahrscheinlichkeit voraussetzt, ist eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 50 % zu verlangen. Dabei ist insbesondere bedeutsam, auf welche Zeit bezogen die Wahrscheinlichkeit eines Eintritts einer Behinderung beurteilt werden soll. Hierfür kommt kein starrer Zeitrahmen in Betracht, sondern eine nach Sinn und Zweck der Eingliederungshilfe bemessene Zeit. Es ist nämlich Ziel der Eingliederungshilfe für von einer seelischen Behinderung bedrohte Kinder und Jugendliche, den Eintritt einer solchen Behinderung zu verhüten. Deshalb ist der Beginn der Bedrohung so früh, aber auch nicht früher anzusehen, dass noch erfolgversprechende Eingliederungsmaßnahmen gegen den Eintritt der Behinderung eingesetzt werden können (BVerwG, Urt. v. 26.11.1998 - 5 C 38/97 -, FEVS 49, 487).

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Nach diesen Maßstäben ist beim Antragsteller aller Voraussicht nach von einer drohenden seelischen Behinderung auszugehen, die die Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII erfordert. Diese Eingliederungshilfe ist unabhängig davon zu gewähren, dass der Antragsteller wegen der feinmotorischen Probleme und der Konzentrationsproblematik bereits seit der 2. Klasse durchgehend Ergotherapie, z. Zt. in Kleingruppenform, erhält und Unterstützung durch die werktägige Betreuung in der Hausaufgabenhilfe des G.-Hauses durch dort ehrenamtlich tätige ehrenamtlich tätige Schulpädagogen erfährt.

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a) Auszugehen ist dabei von der sowohl vom Gesundheitsamt des Landkreises Lüneburg als auch vom von den Eltern des Antragstellers eingeschalteten Facharzt für Kinderheilkunde, Dr. med. B., übereinstimmend diagnostizierten Rechenschwäche (Dyskalkulie). Nach der ärztlichen Bescheinigung von Dr. med. B. vom 18. Juni 2001, der den Antragsteller seit Mai 1999 kennt und der ihm im Oktober 2002 wegen erheblicher Schul- und Prüfungsängste vorgestellt wurde, leidet der Antragsteller unter einer Rechenschwäche (ICD 10 F81.2). Die Rechenleistungen des Antragstellers lägen aufgrund einer Funktionsschwäche des zentralen Nervensystems z. Zt. erheblich unter den allgemeinen Lern- und Leistungsmöglichkeiten. Es habe sich eine ganz erhebliche Diskrepanz zwischen normalem Verbal-Teil (IQ 101) und erheblich schwächerem Handlungsteil von nur 66 (Gesamt-IQ dennoch 83) ergeben, so dass der Antragsteller ganz offenbar erhebliche Probleme im abstrakten Vorstellungsvermögen aufweise. Um so mehr sei eine heilpädagogische Begleitung erforderlich. Im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte sei festgestellt worden, dass zur Behebung dieser Schwäche eine spezielle ambulante Einzelbehandlung bei einer entsprechend ausgebildeten Fachkraft unbedingt erforderlich sei. Eine Förderung innerhalb der Schule reiche wegen des Ausmaßes und der Besonderheit der zugrunde liegenden Funktionsschwäche sowie der bereits eingetretenen sekundären Beeinträchtigungen nicht aus. Auch das Gesundheitsamt des Landkreises Lüneburg spricht in seiner Stellungnahme vom 12. September 2001 von einer Rechenschwäche bei insgesamt leicht unterdurchschnittlichem Gesamt-IQ und seit Jahren ergotherapeutisch therapierter Aufmerksamkeitsdefizienzsymptomatik mit Hyperkines, sehr kindlichem Verhalten, Zeichen ausgeprägter feinmotorischer Schwächen, feinkoordinativer Problematik und Konzentrationsproblematik, leichten auditiven Wahrnehmungsstörungen sowie leichter visueller Differenzierungsschwächen speziell im Bereich der Figurengrunddifferenzierung. Zusammenfassend handelt es sich nach Aussage des Gesundheitsamtes nicht um eine klassische Dyskalkulie, sondern um eine Kombinationsproblematik aus Überforderung im Rahmen der schulischen Anforderungen bei leicht unterdurchschnittlicher Gesamtintelligenz in Verbindung mit ausgeprägter Konzentrationsproblematik sowie erheblicher feinmotorischer Problematik.

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Diese ärztlichen Beschreibungen des Antragstellers werden gestützt durch das Schulauskunftsersuchen über den Antragsteller und seine Schulzeugnisse. Hiernach bestehen Probleme im mathematisch-logischen Denken einerseits und Konzentrationsschwächen andererseits. Sämtliche schriftlichen Arbeiten liegen im mangelhaften bis ungenügenden Bereich, das Schriftbild und die Zahlenschreibweise sind katastrophal, das Arbeitsverhalten ist sehr unzulänglich. Der Antragsteller bedarf hiernach oftmals zusätzlicher Erklärungen und Aufforderungen, er kann Aufgaben ohne Unterstützung des Lehrers in der Regel nicht lösen. Es mangelt ihm an Konzentration und Ausdauer, die Hausaufgabenerledigung macht Schwierigkeiten. Die Zeugnisse der Klasse 5 weisen in den Fächern Mathematik und Englisch ein mangelhaft, in Physik/Chemie, Biologie, Deutsch sowie weiteren Fächern ein ausreichend und nur in drei Fächern (Sport, Religion und Welt- und Umweltkunde) ein befriedigend aus. Im ersten Halbjahr der 6. Klasse hat sich der Antragsteller demgegenüber im Fach Mathematik auf ein ungenügend sowie in Physik/Chemie auf ein mangelhaft verschlechtert und lediglich in Englisch auf ein befriedigend verbessert.

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b) Diese schulischen und sonstigen Schwächen, insbesondere die beschriebene Dyskalkulie, gehen entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin bereits zum jetzigen Zeitpunkt einher mit einer im Ansatz angelegten auf Versagungsängsten beruhenden Schulphobie, einer Schul- und Lernverweigerung und einer Vereinzelung in der Schule. Nach den Feststellungen von Dr. B. in seiner Bescheinigung vom 18. Juni 2001 haben die emotionalen und sozialen Auswirkungen der Störung bereits dazu geführt, dass eine nicht nur vorübergehende, wesentliche seelische Behinderung durch die Manifestation von Allgemeinängsten droht. Das Schulauskunftsersuchen spricht davon, dass der Antragsteller sich im Klassenverband abgrenzt und z. T. ausgegrenzt wird, er findet wenig Anschluss. Die Grundstimmung des Antragstellers wird hiernach als "verträumt" und "abwesend unkonzentriert" beschrieben. Auch das Gesundheitsamt konstatiert in seiner Stellungnahme vom 12. September 2001, dass der Antragsteller nur mühvoll Kontakte in der Orientierungsstufe bekommt und in Pausenaktivitäten noch nicht integriert ist. Auch wenn Zeichen einer depressiven Symptomatik oder psychosomatische Beschwerden noch nicht vorliegen, so finden sich auch nach Ansicht des Gesundheitsamtes seit einiger Zeit Unregelmäßigkeiten beim Schulweg im Sinne einer möglicherweise beginnenden passiven Schulunlust, wenn auch das ausgeprägte ADS hier mit hineinspielt. Aufgrund dieser Feststellungen hat der Antragsteller hinreichend dargelegt und glaubhaft gemacht, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, durch seine beschriebenen Schwierigkeiten werde seine Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und insbesondere in der Schulgemeinschaft in einem derartigen Umfang beeinträchtigt, dass bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Gewährung von Eingliederungshilfe notwendig ist.

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2. Ein weiteres Abwarten, ob die bereits angelaufene Hausaufgabenbetreuung und ggf. weitere unterstützende Maßnahmen wie heilpädagogische Begleitung greifen - wie es die Antragsgegnerin und das Gesundheitsamt anraten -, ist dem Antragsteller demnach nicht zuzumuten. Deshalb liegt auch der erforderliche Anordnungsgrund vor. Soweit die Antragsgegnerin statt der Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII eine Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII als den richtigeren Therapieweg für den Antragsteller zur Diskussion stellt, ist ihr entgegen zu halten, dass sich bereits nach der gesetzlichen Konzeption des § 35 a Abs. 3 SGB VIII diese beiden Hilfeformen nicht gegenseitig ausschließen sondern ergänzen. Deshalb kann die Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII unabhängig davon in Anspruch genommen werden, ob und ggf. in welchem Umfang daneben Hilfe zur Erziehung zu gewähren ist.

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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2  VwGO.