Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 13.12.2004, Az.: 6 A 1576/03

Politisches Asyl für einen Afghanen tadschikischer Volkszughörigkeit wegen der Absolvierung des Hochschulstudiums in Russland; Beachtung der Änderung der politischen Situation in Afghanistan seit dem 11. September 2001 und der Behandlung der Taliban durch die US-Truppen bei der Entscheidung über politisches Asyl

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
13.12.2004
Aktenzeichen
6 A 1576/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 40546
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGSTADE:2004:1213.6A1576.03.0A

Verfahrensgegenstand

Asyl,
§§ 51 Abs. 1, 53 AuslG,
Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung

In der Verwaltungsrechtssache
...
hat das Verwaltungsgericht Stade - 6. Kammer -
auf die mündliche Verhandlung vom 13. Dezember 2004
durch
die Richterin Reccius als Einzelrichterin
für Recht erkannt:

Tenor:

Das Verfahren wird eingestellt, soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

1

I.

Der Kläger ist nach eigenen Angaben am .......... 1956 in C. /Afghanistan geboren und afghanischer Staatsangehöriger tadschikischer Volkszughörigkeit. Der verheiratete Kläger ist Kinderarzt.

2

Er ist eigenen Angaben zufolge am 6. Mai 2001 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Am 7. Mai 2001 meldete er sich in Dortmund als Asylsuchender. Am 10. Mai 2001 stellte der Kläger in Braunschweig einen Asylantrag. Dort wurde er am 23. Mai 2001 vom Bundesamt zu seinen Asylgründen angehört.

3

Dabei gab er im Wesentlichen an: Er habe von 1983 bis 1990 in D. in Tadschikistan Medizin studiert. 1990 habe er sein Diplom als Mediziner erhalten. Nach seiner Rückkehr nach Kabul habe er dort im Gesundheitsministerium gearbeitet und nebenbei promoviert. Er sei als Facharzt für Pädiatrie und Kinderheilkunde tätig gewesen. Mit dem Sturz der Regierung Nadjibullahs sei das Gesundheitssystem zusammengebrochen. Aus Angst vor den herrschenden Gruppierungen und weil er in Russland studiert habe, sei er nach E. in seinen Heimatort zurückgekehrt. Er habe nicht mehr offiziell gearbeitet, sondern habe in seinem Heimatort und in den umliegenden Dörfer Leute behandelt. Diese - unentgeltliche - Tätigkeit habe er bis zu seiner Ausreise ausgeübt. Er habe sich entschlossen, Afghanistan zu verlassen, weil Fachleute von den Taliban gesucht worden seien. Ihm sei nur die Möglichkeit geblieben zu fliehen. Andernfalls hätte er für die Taliban arbeiten müssen. Am 10. April 2001 habe er seinen Heimatort E. verlassen und sei mit verschiedenen Pkws und Lkws zunächst über den Grenzübergang Dubendi nach Pakistan, dann weiter in den Iran und anschließend nach Deutschland gereist.

4

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Anhörungsniederschrift verwiesen.

5

Mit Bescheid vom 8. September 2003 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Antrag des Klägers auf Anerkennung als Asylberechtigter ab und stellte fest, dass bei ihm weder die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes - AuslG - noch Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen. Zugleich forderte das Bundesamt den Kläger unter Abschiebungsandrohung zur Ausreise binnen Monatsfrist auf.

6

Daraufhin hat der Kläger am 29. September 2003 Klage erhoben, zu deren Begründung er geltend macht: Die Klage sei zulässig. Den angefochtenen Bescheid habe er erst am 25. September 2003 erhalten. Erst an diesem Tag habe er erfahren, dass beim Sozialamt .................. ein Brief für ihn hinterlegt worden sei. Diesen Brief habe er noch am selben Tag abgeholt. Er habe den Umstand, dass ihm der Bescheid erst am 25. September 2003 bekannt gegeben worden sei, nicht zu vertreten. Er beantrage insoweit Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Die Klage sei auch begründet. Durch den Machtwechsel in Afghanistan habe sich die politische Situation nicht wesentlich geändert. Auch bei der jetzigen Regierung handele es sich um ein islamistisches Regime. Das Land werde weiterhin durch die Taliban beherrscht, so dass er bei seiner Rückkehr mit Repressalien rechnen müsse. Es bestünden noch immer Feindschaften zwischen den verschiedenen Volksstämmen im Land. In seinem Beruf als Kinderarzt könne der Kläger nicht arbeiten. Da er in Russland studiert habe, müsse er weiterhin mit Verfolgung durch das Regime rechnen.

7

Soweit der Kläger ursprünglich auch seine Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG begehrt hat, hat er die Klage in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen.

8

Der Kläger beantragt nunmehr noch,

den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 8. September 2003 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht, und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG, hilfsweise Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG, vorliegen.

9

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

10

Sie erwidert: Die Klage sei bereits verfristet. Der angefochtene Bescheid vom 8. September 2003 sei dem Kläger per Postzustellungsurkunde am 11. September 2003 zugestellt worden. Die Postzustellungsurkunde weise die korrekte Adresse des Klägers auf. Der Bescheid sei damit am 26. September 2003 bestandskräftig geworden.

11

Der beteiligte Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten hat sich zur Sache nicht geäußert.

12

Am 13. Dezember 2004 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden. Der Kläger ist informatorisch angehört worden. Wegen des Ergebnisses wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

13

Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten 6 A 1576/03 und auf die beigezogenen Bundesamtsakten sowie die Ausländerakten des Landkreises Stade Bezug genommen.

14

II.

Soweit der Kläger die Klage in der mündlichen Verhandlung zurückgenommen hat, war das Verfahren gemäߧ 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.

15

Mit seinem aufrecht erhaltenen Klagebegehren hat der Kläger keinen Erfolg. Dabei kann offen bleiben, ob der Kläger die Klage fristgerecht erhoben hat. Die Klage ist jedenfalls unbegründet. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 8. September 2003 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung von Abschiebungshindernissen gemäß § 51 Abs.1 AuslG.

16

Die Voraussetzungen für die Gewährung eines Anspruchs auf politisches Asyl gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG und für die Gewährung des Schutzes vor Abschiebung gemäß § 51 Abs. 1 AuslG sind deckungsgleich, soweit es um die Verfolgungshandlung, das geschützte Rechtsgut, den politischen Charakter der Verfolgung sowie den Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und dessen Herabstufung bei bereits vor der Ausreise aus dem Heimatstaat verfolgten Asylsuchenden geht (BVerwG, Urteil vom 18. Januar 1994, NVwZ 1994, 497 [BVerwG 18.01.1994 - 9 C 48/92]; Urteil vom 5. Juli 1994, NVwZ 1995, 391 [BVerwG 05.07.1994 - BVerwG 9 C 1.94]). Hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit unterscheiden sich die Vorschriften lediglich danach, dass Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG auch dann zu gewähren ist, wenn einem Betroffenen aus Gründen, die er erst nach der Ausreise aus dem Heimatstaat geschaffen hat (subjektiver Nachfluchtgrund), politische Verfolgung droht oder ein Asylanspruch nach der sog. Drittstaatenregelung gemäß Art. 16 a Abs. 2 GG i.V.m. § 26 a AsylVfG ausgeschlossen ist.

17

Ausgangspunkt für die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG ist - ebenso wie für die Gewährung politischen Asyls - die in die Zukunft gerichtete Prüfung der Frage, ob der Flüchtling im Fall seiner Rückkehr - erstmals oder erneut - politischer Verfolgung ausgesetzt sein würde, durch die der hiervon Betroffene in eine die Gewährung des Schutzes vor Abschiebung rechtfertigende Notlage geriete.

18

Der Kläger hat im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan keine abschiebungsschutzrelevante politische Verfolgung zu befürchten. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger vorverfolgt ausgereist ist, mithin im Zeitpunkt seiner Ausreise von politischer Verfolgung betroffen war oder diese ihn zumindest unmittelbar drohte oder ob er sein Heimatland unverfolgt verlassen hat. Denn der Kläger ist im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor politischer Verfolgung auf Grund der veränderten politischen und militärischen Verhältnisse hinreichend sicher.

19

Die politische Situation in Afghanistan hat sich seit dem 11. September 2001 grundsätzlich und drastisch verändert. Nach Ablehnung der US-Forderungen nach Auslieferung Osama Bin Ladens durch die Taliban, der für Rädelsführerschaft des internationalen Terrorismus und insbesondere für die Attentate in den USA am 11. September 2001 verantwortlich gemacht wird, haben die USA seit dem 7. Oktober 2001 gezielte Luftschläge gegen militärische und logistische Stützpunkte der Taliban und terroristischer Netzwerke vorgenommen. In der Folgezeit sind die Taliban im November/Dezember 2001 aus ihren Machtpositionen in Kabul und in den sonstigen von ihnen zuvor in Afghanistan kontrollierten Gebieten vertrieben worden. Das Taliban-Regime ist gestürzt (vgl. die Ad hoc-Berichte des Auswärtigen Amtes - a.A. - vom 18. Oktober 2001, 16. November 2001, 10. Januar 2002 und 4. Juni 2002 sowie die Auskunft des a.A. an das VG Schleswig vom 6. Dezember 2001). Zwar hat sich im Laufe des Jahres 2003 das Wiedereinsickern islamis-tischer Kräfte (u.a. Taliban, Al Qaida) aus dem pakistanischen Paschtunengürtel, die während der "heißen Phase" von Enduring Freedom aus Afghanistan im Jahr 2002 geflohen waren, verstärkt (vgl. die Ad hoc-Information des a.A. zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Afghanistan - Landesweite Sicherheitslage - Stand: 5. Mai 2003 und die Berichte des a.A. über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Afghanistan (Stand: Juli 2003) vom 6. August 2003, 22. April 2004 (Stand: März 2004), 3. November 2004 (Stand: Oktober 2004); Dr. Danesch, Gutachten vom 13. November 2003 und Stellungnahmen vom 7. November 2003, 18. November 2003 und 12. Dezember 2003 an das VG Wiesbaden; Fischer-Weltalmanach 2004, Sp. 75 f). Es gibt jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Taliban in den Regionen Afghanistans, in denen sie aktiv sind, quasi-staatliche Gewalt ausüben. Vielmehr bekämpft die Antiterrorkoalition die islamistischen Kräfte vor allem im Osten, Südosten und Süden von Afghanistan. Wegen der Reinfiltration von Taliban/Islamisten ist davon auszugehen, dass Kräfte der Antiterrorkoalition noch für längere Zeit in Afghanistan gebunden sein werden (vgl. die Lageberichte des a.A. vom 6. August 2003, 22. April 2004 und 3. November 2004).

20

Als staatliche oder quasi-staatliche Herrschaftsgewalt im Raum Kabul kommt insoweit nur die durch die internationalen Streitkräfte (ISAF) gestützte Regierung unter dem Präsidenten Karsai in Betracht, in der alle wichtigen Volksgruppen Afghanistans vertreten sind (vgl. Lageberichte des Auswärtigen Amtes vom 6. August 2003, 22. April 2004 und 3. November 2004).

21

Auch wenn man davon ausgeht, dass die Übergangsregierung unter dem gewählten Präsidenten Hamid Karsai gegenwärtig in Afghanistan - jedenfalls im Raum Kabul - staatliche Gewalt ausübt, gibt es keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger politische Verfolgung oder eine unmenschliche Behandlung durch die afghanische Übergangsregierung unter Hamid Karsai ernsthaft zu befürchten hätte.

22

Insbesondere hat der Kläger mit asyl- bzw. abschiebungsschutzerheblichen Repressalien durch die Übergangsregierung nicht wegen seiner Volkszugehörigkeit zu rechnen. Die Tadschiken sind an namhafter Stelle in der Übergangsregierung vertreten (vgl. den Lagebericht des a.A. vom 3. November 2004 und 6. August 2003).

23

Dem Kläger drohen gegenwärtig und in absehbarer Zukunft keine asyl- bzw. abschiebungsschutzerhebliche Repressalien durch die Übergangsregierung wegen seines mehrjährigen Russlandaufenthaltes während seines Studiums.

24

Der Kläger hat weder bei seiner Bundesamtsanhörung noch in der mündlichen Verhandlung angegeben, selbst (ehemaliger) Kommunist zu sein. Im Übrigen ist über eine Verfolgung ehemaliger Kommunisten seit Zusammentritt der Übergangsregierung nichts bekannt geworden (vgl. die Lageberichte des a.A. vom 4. Juni 2002, 2. Dezember 2002, 6. August 2003 und 3. November 2004). Der bloßen Mitgliedschaft in der DVPA wird keine gesteigerte Bedeutung mehr beigemessen, auch wenn eine Abscheu gegenüber Kommunisten nach wie vor auch in der Übergangsregierung besteht (Deutsches Orient Institut an OVG Bautzen vom 23. September 2004). Auch in der neueren Zeit, nach dem Sturz des Talibanregimes, gibt es keine Belege für eine systematische nachwirkende Verfolgung ehemaliger Regime-Anhänger durch die staatliche Gewalt - soweit sie existiert - (Deutsches Orient Institut an OVG Bautzen vom 23. September 2004) oder durch Dritte, die allenfalls für hochrangige frühere Repräsentanten der DVPA (Parcham-wie Khalq-Flügel) bzw. herausragender Militärs und Polizeirepräsentanten sowie des Geheimdienstes Khad eine Gefahr darstellen, zu denen der Kläger aber nicht gehört. Anhaltspunkte dafür, dass bloße Sympathisanten der kommunistischen Partei verfolgt würden, gibt es jedenfalls nicht.

25

Dem Kläger droht in Afghanistan eine abschiebungsschutzrelevante politische Verfolgung auch nicht wegen seiner Asylantragstellung. Es ist nicht bekannt, dass eine Asylantragstellung per se zu Sanktionen seitens der afghanischen Regierung führt (vgl. die Lageberichte des a.A. vom 3. November 2004 und vom 6. August 2003).

26

Auch Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG liegen bei dem Kläger nicht vor.

27

Einer Abschiebung des Klägers nach Afghanistan stehen Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1 AuslG bzw. nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht entgegen. Nach diesen Vorschriften darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für diesen Ausländer die konkrete Gefahr besteht, der Folter (§ 53 Abs. 1 AuslG) bzw. der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung (§ 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK) unterworfen zu werden. Insoweit muss eine konkrete Prognose im Hinblick auf eine individuelle Gefährdung des betroffenen Ausländers angestellt werden. Eine unmenschliche Behandlung muss aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte ernsthaft zu befürchten sein. Im vorliegenden Fall droht dem Kläger eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in diesem Sinne in Afghanistan nicht.

28

Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger bei einem Aufenthalt im Raum Kabul eine unmenschliche Behandlung durch die afghanische Übergangsregierung unter Hamid Karsai ernsthaft zu befürchten hat.

29

Schließlich liegen bei dem Kläger auch die Voraussetzungen für ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nicht vor. Nach dieser Vorschrift kann von einer Abschiebung in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für den Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG setzt - anders als Art. 16 a Abs. 1 GG, § 51 Abs. 1, § 53 Abs. 1 und 4 AuslG - keine staatliche oder staatsähnliche Gewalt des Verfolgers voraus, sondern knüpft allein an eine erhebliche faktische Gefährdung an (BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 1995 - 9 C 9.95 - NVwZ 1996, 199).

30

Dem Kläger drohen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verletzungen der in § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG genannten Rechtsgüter wegen der behaupteten Mitgliedschaft in dem "Verein gegen Drogen und Terrorismus". Abgesehen davon, dass der Kläger bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt die Mitgliedschaft in diesem Verein nicht einmal erwähnt hat, existiert der Verein nach Angaben des Klägers nicht mehr. Selbst zu Zeiten seiner Existenz hatte der Verein den Angaben des Klägers zufolge nur etwa 350 Mitglieder. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung selbst eingeräumt, vor seiner Ausreise aus Afghanistan keine Probleme mit der Drogenmafia infolge der Mitgliedschaft in dem genannten Verein gehabt zu haben, da er "die Mitgliedschaft geheim gehalten" habe. Vor dem Hintergrund, dass es sich um einen relativ kleinen Verein handelt und der Kläger nach eigenen Angaben nicht als Mitglied dieses Vereins in Afghanistan bekannt geworden ist, begründet die behauptete Mitgliedschaft in dem genannten Verein nicht die beachtliche Wahrscheinlichkeit von abschiebungsschutzerheblichen Übergriffen. Es gibt insbesondere keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit Übergriffen seitens der Drogenmafia zu rechnen hätte.

31

Eine etwaige Gefahr des Klägers aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Volk der Tadschiken stellte eine allgemeine Gefahr dar, der die gesamte Bevölkerungsgruppe der Tadschiken (Anteil der Tadschiken an der gesamten afghanischen Bevölkerung: 25%, vgl. Lageberichte des a.A. vom 3. November 2004 und vom 6. August 2003) ausgesetzt wäre. Soweit sich der Kläger auf die aus der allgemeinen Sicherheits- und Versorgungslage resultierende Gefahr beruft, drohte ihm auch diese Gefahr nicht aufgrund individueller Merkmale, sondern stellte eine Gefahr dar, der die gesamte afghanische Bevölkerung ausgesetzt wäre.

32

Gefahren, denen die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, oder die Bevölkerung allgemein ausgesetzt ist, werden gemäß § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG bei Entscheidungen nach § 54 AuslG berücksichtigt.

33

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dürfen das Bundesamt und die Verwaltungsgerichte im Einzelfall Ausländern, die einer gefährdeten Gruppe im Sinne des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG angehören, für welche aber ein Abschiebestopp nach § 54 AuslG nicht besteht, zwar ausnahmsweise Schutz vor der Durchführung der Abschiebung in verfassungskonformer Handhabung des § 53 Abs. 5 AuslG zusprechen, wenn die Abschiebung wegen einer extremen Gefahrenlage im Zielstaat Verfassungsrecht verletzen würde. Das ist der Fall, wenn der Ausländer gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (vgl. BVerwG, Urteile vom 17. Oktober 1995 - BVerwG 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324, vom 27. April 1998 - BVerwG 9 C 13.97 -, NVwZ 1998, 973 = AuAS 1998, 243, und vom 8. Dezember 1998 - BVerwG 9 C 4.98 -, BVerwGE 108, 77, 80 f. = InfAuslR 1999, 266). Davon kann hier aber weder im Hinblick auf die tadschikische Volkszugehörigkeit des Klägers noch im Hinblick auf die Versorgungs- und Sicherheitslage in seinem Heimatland ausgegangen werden.

34

Nach der Auskunftslage für Afghanistan und der Auswertung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel werden zwar immer wieder Fälle von Diskriminierungen regionaler ethnischer Minderheiten bekannt; diese betreffen aber weniger Ausschreitungen gegen Tadschiken als vielmehr gegen Paschtunen und Hazaras (vgl. die Lageberichte des a.A. vom 3. November 2004 und 6. August 2003). Die in lokal unterschiedlicher Intensität fortbestehenden überbrachten Spannungen zwischen den Ethnien stellen zudem jedenfalls keine derart erhebliche Gefährdung dar, dass jeder Tadschike im Fall einer Abschiebung nach Afghanistan mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Schritt und Tritt dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgesetzt wäre, zumal der Kläger etwaigen Übergriffen auch ausweichen kann, indem er sich in einem von Tadschiken dominierten Gebiet aufhält.

35

Auch aus der allgemeinen Versorgungs- und Sicherheitslage in Afghanistan folgt kein Anspruch des Klägers gegenüber der Beklagten auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG in verfassungskonformer Anwendung.

36

Auf dem gesamten Territorium Afghanistans sind Ernährungsprobleme im Moment nicht vorhanden, die Läden sind mit Ware gefüllt, die Hilfslieferungen der westlichen Staaten gelangen ungehindert in die Stadt, auch wenn die Staatlichkeit und ihre Restitution noch sehr stark in den Anfängen steckt. Der Warentransfer wird nicht mehr behindert und ist auch durch Bürgerkrieg im Moment nicht in Frage gestellt. In Kabul wird gebaut, es gibt einen normalen Straßenverkehr, es gibt wiederum Läden und die sind mit Waren gefüllt (Deutsches Orient Institut an OVG Bautzen vom 23. September 2004).

37

Die Versorgungslage hat sich in Kabul und zunehmend auch in den anderen großen Städten grundsätzlich verbessert. Wegen mangelnder Kaufkraft profitieren jedoch nicht alle Bevölkerungsschichten von der verbesserten Lage; die Waren werden zu hohen Preisen verkauft (vgl. den Lagebericht des a.A. vom 6. August 2003). Die VN versorgen noch Millionen von Afghanen mit Nahrungsmitteln und Hilfsgütern. Dabei können die Landwege für Lebensmitteltransporte in die großen Städte (Kabul, Herat, Mazar-i-Sharif) von VN-Transporten weitgehend wieder benutzt werden (AA, wie vor). Angesichts der fortdauernden internationalen Hilfe wird dem Kläger jedenfalls im Kabuler Raum ein Überleben möglich sein.

38

Hinsichtlich der Sicherheitslage gilt für den Kabuler Raum nichts anderes (vgl. OVG Hamburg, Urteil vom 11. April 2003 - 1 Bf 104/01 A -; OVG Münster, Urteile vom 20. März 2003 - 20 A 4270/97.A und 20 A 4329/97.A - und 15. Mai 2003 - 20 A 3328/97.A -). Dies hat das Bundesamt in dem angefochtenen Bescheid (S. 6 und 7 des Bescheides) zutreffend festgestellt. Auf diese Ausführungen wird Bezug genommen.

39

Die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten. Sie finden ihre Rechtsgrundlage in den§§ 34 Abs. 1, 38 Abs. 1 AsylVfG, § 50 AuslG.

40

Soweit das Verfahren aufgrund der Klagerücknahme des Klägers einzustellen war, hat der Kläger die Kosten des Verfahrens gemäß § 155 Abs. 2 VwGO zu tragen. Soweit der Kläger im Übrigen unterlegen ist, beruht die Kostenentscheidung auf§ 154 Abs. 1 VwGO. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

41

Rechtsmittelbelehrung:

42

Gegen dieses Urteil ist die Berufung nur zulässig, wenn sie von dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht zugelassen wird.

43

...

Reccius