Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 16.10.2003, Az.: L 5 V 6/03
Versorgungsansprüche nach dem Bundesversorgungsgesetz; Heranziehung eines Kindes oder Jugendlichen zur Mithilfe bei der Feld- und Erntearbeit; Schädigung infolge eines militärischen Dienstes; Voraussetzungen einer Internierung
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 16.10.2003
- Aktenzeichen
- L 5 V 6/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 19977
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:1016.L5V6.03.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Osnabrück - 21.01.2003 - AZ: S 2 V 5/00
Rechtsgrundlage
- § 1 Abs. 2c BVG
Redaktioneller Leitsatz
Voraussetzungen einer Entschädigung auf Grund des Bundesversorgungsgesetz (BVG) ist, im Falle einer Internierung, die Verwirklichung einer Gefahr durch die Besonderheiten der Internierung.
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Der Rechtsstreit betrifft Ansprüche des Klägers nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Der am E. geborene Kläger wurde als Volksdeutscher mit seinen Eltern im Jahre 1941 auf Grund des Erlasses des Obersten Sowjets vom 28. August 1941 aus der damaligen Republik der Wolgadeutschen in einen Ort im Gebiet F. zwangsumgesiedelt und stand in diesem Gebiet bis Ende 1956 unter Kommandanturaufsicht. Während seine Eltern sich an einem anderen Ort aufhielten, lebte der Kläger unter der Aufsicht seiner Großeltern im Dorf G ... Dort stürzte er beim Transport von Heu von einem Ochsen und zog sich eine Augenverletzung zu. 1953 wurde ihm in F. das rechte Auge entfernt. Am 13. Januar 1996 kam er als Spätaussiedler nach Deutschland.
Mit Bescheid vom 17. März 2000 wurde er als Schwerbehinderter anerkannt, zuletzt mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 60. Grundlage sind die Funktionseinschränkungen:
Fehlen des rechtes Auges, Sehbehinderung des linken Auges mit Gesichtsfeldeinschränkung.
Der Kläger erhält durch die Landesversicherungsanstalt (LVA) H. seit Juni 1997 Altersrente. Der Rentenbescheid vom 4. Juni 1997 weist Beitragszeiten ab 12. November 1949 (= Vollendung des 14. Lebensjahres des Klägers) aus, nach dem am 5. Januar 1949 ausgestellten Arbeitsbuch ist der Kläger an jenem Tage in einer Sowchose als Arbeiter eingestellt worden.
Am 9. Februar 2000 beantragte der Kläger wegen Verlustes des rechten Auges Versorgung nach dem BVG. Er habe im Juli 1949 während der Verrichtung von Feldarbeiten einen Unfall erlitten. Eingesammeltes Heu habe von einem Ochsengespann eingebracht werden sollen. Der Ochse sei durchgegangen und der auf ihm sitzende Kläger herabgestürzt und auf den Kopf gefallen. Im eigenen Dorf habe es keinen Arzt gegeben, deshalb sei er zunächst von Ärzten im Nachbardorf und dann im Kreiskrankenhaus behandelt worden. Das Augenlicht habe jedoch nicht wieder hergestellt werden können.
Das Versorgungsamt (VA) zog die Rentenakten des Klägers bei. Mit Bescheid vom 11. April 2000 lehnte es den Antrag ab. Zwar sei der Kläger nach F. umgesiedelt worden, sodass eine Internierung vorgelegen habe. Indes sei eine ärztliche Behandlung möglich gewesen, der Kläger habe sich insoweit nicht wesentlich von der sonstigen Bevölkerung unterschieden. Hinsichtlich der behaupteten Schädigung lägen unterschiedliche Jahresangaben und verschiedene Sachverhaltsdarstellungen vor. Eine besondere Gefährdung auf Grund der Internierung sei unter den dort genannten Umständen nicht gegeben gewesen. In seinem Widerspruch wies der Kläger darauf hin, er habe schon im Kindesalter mitarbeiten müssen, um den Lebensunterhalt für sich und seine Angehörigen zu sichern. Diese Arbeiten seien von den Verhältnissen des zivilen Lebens abweichend und nur unter den Verhältnissen des militärähnlichen Dienstes zu Stande gekommen. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 15. Juni 2000).
Hiergegen hat der Kläger am 27. Juni 2000 bei dem Sozialgericht (SG) Osnabrück Klage erhoben. Er hat darauf hingewiesen, seine Großeltern hätten ihn beaufsichtigt, da seine Eltern in einem entfernten Arbeitslager interniert gewesen seien. Ein Arzt habe nicht zur Verfügung gestanden, vielmehr habe er (der Kläger) in das Nachbardorf gelangen müssen, von wo er sich in das Gebietskrankenhaus F. habe begeben müssen. Dort habe das Auge nicht gerettet werden können. Zu dem Unfall wäre es ohne die besonderen Bedingungen und Gefahren der Internierung nicht gekommen. Jede Person über 16 Jahre habe sich regelmäßig gegenüber dem Verwalter verpflichten müssen, das Dorf nicht zu verlassen. Für den damals 13 Jahre alten Kläger hätten seine Großeltern gehaftet. Die ausgeführte Arbeit sei für Kinder in diesem Alter ungeeignet gewesen. Die Abgeschiedenheit des Internierungsgebiets habe die Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe erschwert. Bis zu einer kompetenten Behandlung seien mehrere Tage vergangen.
Das SG hat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 21. Januar 2003 die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen, auf deren Einzelheiten Bezug genommen wird, hat es auf die Gründe des Widerspruchsbescheides abgestellt und ausgeführt, es könne dahinstehen, ob die tatsächlichen Voraussetzungen einer Internierung vorgelegen hätten. Auch seien die unterschiedlichen Angaben des Klägers über Zeitpunkt und Umstände des Unfalles nicht über zu bewerten. Jedenfalls sei er im Alter von 13, 14 oder höchstens 15 Jahren beim Einbringen der Heuernte durch Sturz von einem Ochsen oder auch einem Pferd mit den nachgewiesenen Folgen geschädigt worden. Es fehle jedoch ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Gewahrsam und dessen Umständen einerseits und dem Unfall und seinen Folgen andererseits. Denn die Heranziehung eines Kindes oder Jugendlichen im Alter von 13 bis 15 Jahren zur Mithilfe bei der Feld- und Erntearbeit sei keine Besonderheit, die sich nur aus Verhältnissen einer Internierung erklären lasse. Auch hafte den Geschehnissen, die zum Unfall geführt hätten, keine Typik an, die sich außerhalb von Internierungsverhältnissen so nicht vorstellen lasse. Insbesondere lasse sich nicht feststellen, dass schwerere Unfallfolgen zurückgeblieben seien als dies zum selben Zeitpunkt in einer westlichen Besatzungszone beziehungsweise im alten Bundesgebiet der Fall gewesen wäre. Der Kläger sei ärztlich behandelt worden. Ob die Behandlung gewahrsamsbedingt unzureichend gewesen und deshalb Schäden eingetreten seien, die bei genügender ärztlicher Betreuung nicht zu erwarten gewesen wären, lasse sich nicht feststellen.
Gegen das am 28. Januar 2003 zugestellte Urteil wendet sich der Kläger mit der am 7. Februar 2003 eingegangenen Berufung. Er weist darauf hin, unterschiedliche Angaben zu dem Zeitpunkt des Unfalls seien einerseits auf sprachliche Probleme nach der Übersiedlung in die Bundesrepublik und andererseits darauf zurückzuführen, dass er alles für richtig und wichtig gehalten habe, was ihm von Ärzten oder Beamten gesagt worden sei. Bei der ersten Befragung habe er die Antwort gegeben, der Unfall müsse sich "zwischen 1948, 1950" zugetragen haben; die aufnehmende Ärztin habe ihn aber nicht ausreden lassen. Im Ort habe er sich frei bewegen können, jedoch seien die Internierten von den Aufsehern misshandelt worden, falls sie krank gewesen oder zu Einheimischen gegangen seien, um Essen zu erbetteln oder Asche zur Läusebehandlung zu holen. Diesen Gefährdungen sei er nur wegen der Zugehörigkeit zum deutschen Volk ausgesetzt gewesen. Hinsichtlich der medizinischen Versorgung hätten wesentliche Unterschiede zu der übrigen Bevölkerung bestanden. Auf den Feldern hätten nur Internierte gearbeitet. Nach seinem Sturz vom Ochsen hätten die wenigen anwesenden Erwachsenen sich nicht dafür einsetzen können, dass er von der Arbeit befreit würde. An diesem Tag habe er eine medizinische Versorgung nicht bekommen und noch den Rest des Tages auf dem Feld gearbeitet trotz höllischer Kopfschmerzen. Erst am nächsten Tag habe man ihm erlaubt, nicht zu arbeiten und sogar ein Pferd gegeben, um in das Nachbardorf zu fahren, weil man befürchtet habe, dass sonst eine Arbeitskraft wegsterbe. Im Nachbardorf habe die Hebamme ihm gesagt, er müsse in das Kreiskrankenhaus zum Augenarzt fahren. Das habe er nicht können, weil er zum Tagesende wieder habe zurück sein müssen. Behandelt worden sei er erst Tage später, als sich eine Fahrmöglichkeit ergeben habe. Ein Einheimischer dagegen habe sich frei von der Arbeit entfernen und zum Arzt gehen können.
Der Kläger beantragt schriftsätzlich dem Sinne nach,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 21. Januar 2003 und den Bescheid vom 11. April 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Juni 2000 aufzuheben,
- 2.
"Verlust des rechten Auges" als Schädigungsfolge festzustellen,
- 3.
den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger ab 1. Februar 2000 Beschädigtenrente nach einer MdE um mindestens 30 v.H. zu zahlen.
Der Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Beklagte hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Neben den Gerichtsakten beider Rechtszüge habe die den Kläger betreffenden Beschädigtenakten des VA Oldenburg - Außenstelle Osnabrück - (Lager-Nr. I.) sowie die Schwerbehinderten-Akten (Az: J.) vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.
II.
Der Senat entscheidet nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 153 Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Beschluss, weil er einstimmig die Berufung für nicht begründet und eine mündliche Verhandlung für nicht erforderlich hält.
Die nach § 143 SGG zulässige Berufung ist nicht begründet. Die Voraussetzungen, unter denen Versorgungsansprüche nach dem BVG begründet sind, hat bereits der Beklagte im Widerspruchsbescheid dem Kläger nicht ergänzungsbedürftig dargestellt. Zur Vermeidung überflüssiger Wiederholungen nimmt der Senat hierauf Bezug.
Zutreffend haben der Beklagte und das SG Ansprüche des Klägers verneint. Gemäß § 1 Abs. 2c BVG steht einer Schädigung infolge des militärischen Dienstes eine Schädigung gleich, die durch eine Internierung wegen deutscher Volkszugehörigkeit herbeigeführt worden ist. Es spricht zwar nach dem Akteninhalt und den Angaben des Klägers viel dafür, dass die Voraussetzungen einer Internierung (vgl. dazu BSGE 73, 37 ff; BSG MeSo B 330/66) zu bejahen sind. Jedoch fehlt es an einer Schädigung durch die Internierung. Weder ist der Umstand, dass der Kläger bei der Feldarbeit und hier konkret bei dem Transport von geerntetem Heu im Alter zwischen 13 und 15 Jahren eingesetzt war, eine von den sonstigen Lebensverhältnissen durch die Internierung bedingte besondere Gefährdungssituation gewesen noch hat der Kläger durch seine Internierungssituation gegenüber der sonstigen Bevölkerung Einbußen an ärztlicher Versorgung hinnehmen müssen.
Soweit es um die Tätigkeit des Heueinbringens selbst geht, nimmt der Senat auf die zutreffenden Ausführungen des SG Bezug, § 153 Abs. 2 SGG. Es ist in ländlichen Gegenden keineswegs ungewöhnlich, dass auch Kinder und Jugendliche bei Erntearbeiten zur Unterstützung herangezogen werden oder mithelfen.
Auch bezüglich der ärztlichen Versorgung hat der Kläger gegenüber der sonstigen Bevölkerung internierungsbedingt wesentliche Einschränkungen nicht erfahren, die zu der geltend gemachten Schädigung geführt hätten. Selbst wenn man als richtig unterstellt, dass er sich nicht am Unfalltage gleich in ärztliche Behandlung begeben konnte, ist ihm die ärztliche Behandlung indes ermöglicht worden, und zwar zunächst im Nachbardorf durch die Verweisung auf den Augenarzt. Die augenärztliche Behandlung ist dem Kläger dann auch tatsächlich zuteil geworden. Der Umstand, dass die ärztliche Behandlung dort sein Augenlicht nicht hat retten können, ist nicht internierungsbedingt. Der Kläger hat selbst nicht vorgetragen, dass etwa die einheimische Bevölkerung von anderen Ärzten behandelt worden wäre als er selbst, oder dass internierungsbedingt die ihm zuteil gewordene Behandlung nicht der ärztlichen Kunst entsprochen habe. Angesichts der - erst - 1953 erfolgten Entfernung des Auges gibt es auch keine Grundlage dafür zu ermitteln, welche Verletzungen der Kläger bei dem Unfall davongetragen hat und ob bei sofortiger Behandlung in dem Krankenhaus F. das Augenlicht langfristig hätte gerettet werden können, oder der Verlust des Augenlichts gerade dadurch hervorgerufen worden ist, dass nach entsprechenden Angaben des Klägers nicht die sofortige Behandlung eingeleitet wurde.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Ein gesetzlicher Grund, die Revision zuzulassen, besteht nicht, § 160 Abs. 2 SGG.