Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 20.10.2003, Az.: L 15 AL 23/03 ER
Erfolgsaussichten eines Eilverfahrens bei einem wahrscheinlichen Anordnungsanspruch; Absetzung von mit einer Lebensversicherung im Zusammenhang stehende Darlehen bei Überschreitung der Freibeträge der Arbeitslosenhilfeverordnung (AlhiV); Anforderungen an den Nachweis der anderweitigen Reduzierung des Vermögens im Falle der Einschränkung des Anspruchs auf Arbeitslosenhilfe
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 20.10.2003
- Aktenzeichen
- L 15 AL 23/03 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 32154
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2003:1020.L15AL23.03ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Bremen - 20.06.2003 - AZ: S 13 AL 200/03
Rechtsgrundlage
- § 4 Abs. 2 S. 2 AlhiV
Fundstellen
- SGb 2004, 44 (Volltext)
- info also 2004, 140 (Kurzinformation)
Amtlicher Leitsatz
- 1.)
Ein nach summarischer Prüfung wahrscheinlicher Anordnungsanspruch spricht für den Erfolg eines Eilverfahrens und für Kostenerstattung durch die Antragsgegnerin bei anderweitiger Erledigung; an den Anordnungsgrund (Abwendung wesentlicher Nachteile) sind dann geringere Anforderungen zu stellen.
- 2.)
Bei einer Überschreitung der Freibeträge der AlhiV 2002 (hier nach § 4 Abs. 2 Satz 2 AlhiV 2002) sind mit einer Lebensversicherung im Zusammenhang stehende Darlehen, die mit der Auszahlung der Lebensversicherung fällig werden, auch dann abzusetzen, wenn es sich um private Darlehen ohne förmliche Abtretung eines Teils des Anspruchs aus der Lebensversicherung handelt.
- 3.)
Angesichts der Einschränkungen des Anspruchs auf Alhi durch die AlhiV 2002 dürfen die Anforderungen an den Nachweis der anderweitigen Reduzierung des Vermögens nicht überspannt werden. Unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit verbietet sich angesichts der - noch geltenden - Konzeption des Gesetzes eine Auslegung der Verordnung dahingehend, dass bei geringfügiger Überschreitung der Freibeträge die Alhi ggf. auf Dauer zu versagen ist, ohne dass - zumindest - in diesem Zusammenhang bestehende Belastungen berücksichtigt werden.
Offen bleibt, inwieweit die Regelungen der AlhiV 2002 mit höherrangigem Recht vereinbar sind.
Der 15. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen hat
am 20. Oktober 2003 in Bremen
durch
den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht
beschlossen:
Tenor:
Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des Eilverfahrens zu erstatten.
Gründe
I.
Im Beschwerdeverfahren wegen einer einstweiligen Anordnung war in der Hauptsache die Weitergewährung von Arbeitslosenhilfe (Alhi) streitig. Die Antragsgegnerin hatte dies abgelehnt, weil der Rückkaufswert einer Lebensversicherung des 61-jährigen Antragstellers den Freibetrag der Arbeitslosenhilfe-Verordnung (AlhiV 2002) um 646,98 EUR überschritt. Eine Vereinbarung mit dem Bruder des Antragstellers über ein Darlehen von 11.500,00 EUR, rückzahlbar bei Auszahlung der Lebensversicherung am 1. September 2005, berücksichtigten Antragsgegnerin und Sozialgericht (SG) bei der Feststellung des Vermögens u.a. deshalb nicht, weil das Darlehen noch nicht fällig sei. Nach (weiterer) Reduzierung seines Vermögens und neuem Antrag auf Alhi hat die Antragsgegnerin wieder Alhi gewährt. Der Antragsteller hat daraufhin das Eilverfahren für erledigt erklärt und einen Kostenantrag gestellt.
II.
Nach anderweitiger Beendigung des Verfahrens ist gemäß § 193 Abs. 1 Satz 3 über die Kosten zu entscheiden. Dabei richtet sich die Kostenentscheidung in erster Linie nach der abzuschätzenden Erfolgsaussicht bis zum erledigenden Ereignis, sofern nicht - ausnahmsweise - der Gesichtspunkt der Veranlassung des Rechtsstreits eine andere Kostenverteilung rechtfertigt.
Nach summarischer Prüfung, wie sie sowohl im Rahmen einer isolierten Kostenentscheidung wie auch im Eilverfahren insgesamt vorzunehmen ist, war mit überwiegender Wahrscheinlichkeit von einem Erfolg des Eilverfahrens auszugehen. Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Ein Anspruch auf Weitergewährung von Arbeitslosenhilfe war mit großer Wahrscheinlichkeit gegeben. Offen bleiben kann hier die Frage, ob die Regelungen der AlhiV 2002 mit höherrangigem Recht vereinbar sind, soweit etwa der Gleichheitsrundsatz berührt ist, eine Härteregelung für ältere Arbeitslose mit niedrigen Ansprüchen aus der gesetzlichen Rentenversicherung fehlt (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen B. v. 25.3. 2003 - L 8 B 347/02 AL -; SG Bremen B. v. 11.6. 2003 - S 13 Al 110/03 ER -) oder eine auch nur geringfügige Überschreitung der Freibeträge zur ggf. dauerhaften Versagung der Alhi führt. Insoweit dürfte es sich um schwierige Rechtsfragen handeln, deren Vertiefung im Rahmen der Kostenentscheidung nicht angebracht ist, die aber ggf. zur teilweisen Kostenerstattung führen können (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl., § 193 Rn 13).
Im vorliegenden Fall war schon auf der Grundlage der AlhiV 2002 von einem Anspruch auf Alhi auszugehen. Nach dem zum Zeitpunkt der Erledigung gegebenen Sach- und Streitstand spricht vieles dafür, dass die Antragsgegnerin aufgrund der vom Antragsteller mit seinem Bruder bereits unter dem 10. Mai 2002 getroffenen Vereinbarung das Vermögen des Antragstellers nicht mehr in Höhe des aktuellen Rückkaufswertes der Lebensversicherung berücksichtigen durfte. Denn deren Wert war durch diese Vereinbarung um 11.500,00 EUR (zuzüglich Zinsen) gemindert. Zwar trägt die vom Antragsteller vorgelegte Kopie der Vereinbarung nur seine Unterschrift und (offenbar) die seiner Kinder als potenzielle Erben. Der Antragsteller hat jedoch durch seine eidesstattliche Versicherung vom 8. Mai 2003 eine entsprechende Vereinbarung und Darlehensgewährung durch seinen Bruder glaubhaft gemacht. Dieser hat im Übrigen mit der im Eilverfahren vor dem Sozialgericht (SG) vorgelegten Kündigung der Darlehensvereinbarung (Schreiben vom 25. Mai 2003) für den Fall der vorzeitigen Auszahlung der Lebensversicherung die Darlehensvereinbarung vom 10. Mai 2002 konkludent bestätigt.
Entgegen der Auffassung in dem angefochtenen Beschluss sind die Verbindlichkeiten aus der Darlehensvereinbarung von den Ansprüchen aus der Lebensversicherung auch abzuziehen. Denn insofern besteht ein enger Zusammenhang zwischen den - zukünftigen - Ansprüchen aus der Lebensversicherung und der Verbindlichkeit. Dieser kommt schon darin zum Ausdruck, dass in der Darlehensvereinbarung die Rückgewähr inhaltlich und zeitlich auf die Auszahlung der Lebensversicherung bezogen ist. Darüber hinaus ergibt sich ein enger Zusammenhang auch dadurch, dass das Darlehen bereits nach der Vereinbarung vom 10. Mai 2002 zum Teil auch für die Aufrechterhaltung der Lebensversicherung gewährt worden ist, wobei insofern der Antragsteller im Beschwerdeverfahren erläutert hat, dass ein Teil des Darlehensbetrages in Höhe von 1.932,00 EUR für die Zahlung des Lebensversicherungsbeitrages für ein Jahr verwandt worden ist. Eine Saldierung ist hier - anders als bei noch nicht fälligen Forderungen ohne inneren Zusammenhang (vgl. BSG vom 21.11.02 - B 11 AL 10/02 R = SozR 3-4220, § 6 Nr. 3 bezüglich einer zu erwartenden Steuerforderung) - aufgrund des engen Zusammenhangs gerechtfertigt (vgl. dazu Gagel, SGB III, § 193 Rn 116). Das gilt auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Verbindlichkeit gegenüber dem Bruder noch nicht fällig ist. Denn auch der Anspruch aus der Lebensversicherung ist noch nicht fällig. Insofern stehen sich Anspruch und Verbindlichkeit gleichwertig gegenüber. Erst recht ist von einer zu berücksichtigenden Minderung des Vermögens nach der vorsorglichen Kündigung des Darlehensvertrages für den Fall der vorzeitigen Auszahlung der Lebensversicherung, wie sie unter dem 25. Mai 2003 erfolgt und im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegt worden ist, auszugehen. Aufgrund dieser vorsorglichen Kündigung ist jedenfalls das Vermögen auch für den Fall der von der Antragsgegnerin - als Voraussetzung für die Gewährung von Alhi - verlangten (teilweisen) Verwertung der Lebensversicherung durch vorzeitige Auszahlung/Reduzierung entsprechend gemindert worden. Angesichts des zuvor Gesagten erscheint es jedoch zweifelhaft, ob es dieser Kündigung zum Nachweis der Vermögensminderung noch bedurft hätte.
Besonders strenge Maßstäbe bezüglich der zu fordernden Enge des Zusammenhangs oder auch bezüglich des Nachweises der Reduzierung des Vermögens, etwa dahingehend, dass i. S. der Beklagten nur Policendarlehen der Lebensversicherung oder entsprechende Bankdarlehen unter Abtretung der Lebensversicherung zu akzeptieren sind, erscheinen nicht angebracht. Angesichts der verschärften Bestimmungen über die Vermögensanrechnung durch die AlhiV 2002 mit erheblicher Herabsetzung der Freibeträge und unbegrenzter Versagung des Anspruchs, solange der Freibetrag auch nur geringfügig überschritten ist, und ohne Einrichtung einer einzelfallbezogenen Härteregelung etwa für ältere Arbeitslose mit geringen Rentenansprüchen käme es sonst zu einer einseitigen Lastenverteilung und unverhältnismäßigen Auswirkungen zum Nachteil des Arbeitslosen. Der nach gegenwärtiger Gesetzeskonzeption (noch) bestehende Grundsatz der Lohnbezogenheit des Alhi-Anspruchs und seine Funktion als (eingeschränkte) Lebensstandardsicherung verbieten es, Regelungen des Verordnungsgebers so eng zu fassen oder auszulegen, dass das gesetzliche Konzept für bestimmte Fallgruppen nur noch eingeschränkt zur Geltung kommen kann. Dies würde auch dem Grundsatz des § 2 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch - Allgemeiner Teil - (SGB I) widersprechen, wonach bei der Auslegung der Vorschriften dieses Gesetzbuches die sozialen Rechte zu beachten sind und sicherzustellen ist, dass diese möglichst weitgehend verwirklicht werden. Im konkreten Fall treffen die genannten Gesichtspunkte - mit Ausnahme der hier nicht wirksam werdenden Herabsetzung der Freibeträge - auch auf den Antragsteller zu, der mit 61 Jahren dem Rentenalter nahe ist, nur eingeschränkte Chancen auf dem Arbeitsmarkt und nur eine unterdurchschnittliche Rente zu erwarten hat, während die geringfügige Überschreitung des Freibetrages durch den derzeitigen Rückkaufswert der Lebensversicherung den Zahlbetrag (!) der Alhi von vier Wochen unterschreitet.
Der bei Berücksichtigung von Privatdarlehen gegebenen Gefahr des Missbrauchs ist durch Prüfung der Plausibilität im Einzelfall zu begegnen, wobei allerdings regelmäßig zu berücksichtigen sein wird, dass schon während des Bezugs von Alhi, umso mehr aber bei Wegfall der Alhi-Zahlung, eine zunehmende finanzielle Enge eintritt und eine Hilfeleistung aus dem Familien- oder Freundeskreis nahe liegt. Danach sind im vorliegenden Fall - trotz der relativ hohen Zinsvereinbarung von 10 bzw. 20 % - konkrete Bedenken gegen die Darlehensvereinbarung nicht zu erheben.
Bei überwiegender Wahrscheinlichkeit des Anordnungsanspruchs sind an den Anordnungsgrund geringere Anforderungen zu stellen. Hier konnte der Antragsteller nicht darauf verwiesen werden, die Lebensversicherung zusätzlich - etwa durch Policendarlehen - zu reduzieren, nachdem er sie durch ein Privatdarlehen bereits erheblich reduziert hat. Weitere finanzielle Verluste sind dem kurz vor dem Rentenalter stehenden Kläger angesichts dessen nicht zumutbar.
Danach war von einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit eines für den Antragsteller positiven Ausgangs des Eilverfahrens auszugehen.
Diese Entscheidung kann nicht angefochten werden (§ 177 SGG).