Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 18.12.2018, Az.: L 11 AS 109/16

Arbeitsgelegenheit; Fahrgastbegleitung; Vermögensmehrung; Wertersatz; Zusätzlichkeit

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
18.12.2018
Aktenzeichen
L 11 AS 109/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 74034
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG - 02.11.2015 - AZ: S 43 AS 5372/11

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Ein kostenloser Fahrgastbegleitservice für insbesondere mobilitätseingeschränkte Fahrgäste im öffentlichen Personennahverkehr (hier: ÜSTRA Hannoversche Verkehrsbetriebe AG) ist eine zusätzliche Arbeit im Sinne des § 16d Abs 2 Satz 1 SGB II, soweit er nicht zum eigentlichen Leistungsspektrum (Personentransport) gehört.

2. Der Zusätzlichkeit eines Fahrgastbegleitservice steht dabei nicht entgegen, dass gleichgelagerte reguläre Beschäftigungsverhältnisse aus Wirtschaftlichkeitsgründen nicht geschaffen wurden, dass der Verkehrsbetrieb die Maßnahme bewirbt und dass zeitgleich eine Vielzahl von Fahrgastbegleitern an der Maßnahme teilgenommen hat.

3. Stellt die Gruppe der begleiteten Personen im Verhältnis zu den sonstigen Transportzahlen (hier: mehrere hundert Fahrgastbegleitungen monatlich zu deutlich über hundert Millionen Fahrgästen im Jahr) einen verschwindend geringen Bruchteil dar, ist weder ein ernsthaftes wirtschaftliches Interesse des Verkehrsbetriebes am Ticketverkauf an die begleiteten Fahrgäste noch ernsthaftes Verdrängungspotential anderer Anbieter für Transport- und Begleitservice für mobilitätseingeschränkte Personen anzunehmen.

4. Soweit der Fahrgastbegleitservice wegen seiner Kostenfreiheit weder den Umsatz des Verkehrsbetriebes steigern noch das Kerngeschehen – höhere Einnahmen aus dem Verkauf von Fahrscheinen für den Transport – voranbringen konnte, ist auch keine Vermögensmehrung aus anderem Grund eingetreten

5. Fehlt es an der Vermögensmehrung, kommt es nicht mehr darauf an, ob die Leistung (= Arbeitsgelegenheit) mit Rechtsgrund erbracht wurde.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 2. November 2015 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger macht als Nachlasspfleger des im November 2017 verstorbenen Herrn I. J. für die unbekannten Erben einen Zahlungsanspruch gegen die Beklagte auf Wertersatz für die Teilnahme des Herrn J. an einer Arbeitsgelegenheit mit Mehraufwandsentschädigung für den Zeitraum vom 2. Mai 2006 bis zum 31. März 2014 geltend.

Der 1954 geborene Herr J. stand seit 2005 bis zu seinem Tod im Bezug von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II). Die Beklagte gewährte Herrn J. regelmäßig Leistungen in Höhe des Regelbedarfs, einer Pauschale für die Warmwassererzeugung mit Strom und der Kosten für Unterkunft und Heizung (KdUH) für die ab Juli 2005 bewohnte Wohnung im K. 23, L. (vgl. exemplarisch für den Streitzeitraum zuletzt Änderungsbescheid vom 9. Dezember 2013 für den Zeitraum Januar bis April 2014: Regelbedarf i.H.v. 391,00 Euro, Mehrbedarf Warmwasser i.H.v. 8,99 Euro, KdUH i.H.v. 439,15 Euro, Bl. 585 ff. der Verwaltungsakte – VA).

Am 2. Mai 2006 schloss Herr J. mit der üstra Hannoversche Verkehrsbetriebe AG, (im Folgenden nur: üstra) als Maßnahmeträger eine Vereinbarung „zum berufspraktischen Einsatz in Arbeitsgelegenheiten auf der Grundlage des § 16 Abs 3 Satz 2 SGB II“ für den Zeitraum vom 2. Mai 2006 bis zum 30. April 2009 über eine Tätigkeit als Fahrgastbegleiter. Die wöchentliche Arbeitszeit betrug ausweislich der Vereinbarung durchschnittlich 30 Stunden im Drei-Schicht-Dienst, für die Herr J. eine Mehraufwandsentschädigung i.H.v. 1,00 Euro (bzw. 2,00 Euro nachts) erhalten sollte (vgl. Bl. 164 der Gerichtsakte – GA). Die Hauptaufgaben der Fahrgastbegleiter beschrieb die üstra im Rahmen des Förderantrages bei der Beklagten u.a. mit „Service unseren Kunden bieten“, „Kunden unterstützen, z.B. beim Fahrscheinkauf an unseren Automaten“, „beim Einsteigen älterer Fahrgäste oder bei mobilitätseingeschränkten Fahrgästen (Rollstuhlfahrerinnen, Frauen oder Männer mit Kinderwagen und behinderten Menschen) Hilfe leisten, von zu Hause abholen, zum Arzt begleiten und auch zurück bringen“ (vgl. Bl. 89 der Akte „AGH-Maßnahme 237/1431/08“). Die üstra reichte mit dem entsprechenden Förderantrag bei der Beklagten auch eine Erklärung zur Zusätzlichkeit der Arbeitsgelegenheiten ein (vgl. für das Jahr 2008: Bl. 4 der Akte „AGH-Maßnahme 237/1431/08“). Herr J. übte die Tätigkeit als Fahrgastbegleiter mit nach eigener Angabe Unterbrechungen in den Monaten Juni, Juli und August 2011 fortlaufend bis zum 31. März 2014 aus. Mit dem Beklagten schloss er nach eigenem Vortrag durchgängig entsprechende Eingliederungsvereinbarungen (vgl. exemplarisch etwa Eingliederungsvereinbarung – EGV – vom 2. Januar 2012 für das Jahr 2012, Vorheftung Band II VA).

Mit Schreiben vom 23. Dezember 2011 machte der anwaltlich vertretene Herr J. gegen den Beklagten ab dem 1. Januar 2007 einen Anspruch auf Zahlung der Differenz zwischen den erhaltenen Leistungen nach dem SGB II inklusive der Mehraufwandsentschädigung und der Sozialversicherungsbeiträge einerseits und der nach dem Spartentarifvertrag der Nahverkehrsbetriebe Niedersachsen (TV-N Nds.) für die Entgeltgruppe 3 zu zahlenden Vergütung andererseits geltend. Es fehle an der erforderlichen Zusätzlichkeit der Arbeitsgelegenheit (vgl. Bl. 17 f. GA).

Am 31. Dezember 2011 hat Herr J. Klage beim Sozialgericht (SG) Hannover auf Zahlung von Tariflohn als Wertersatz im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruchs erhoben. Dass es an der Zusätzlichkeit der Arbeitsgelegenheit fehle, zeige sich schon daran, dass über 70 Personen über Jahre hinweg als Fahrgastbegleiter eingesetzt werden und dieser Service von vielen mobilitätseingeschränkten Fahrgästen in Anspruch genommen werde. Diese von der üstra kostenlos angebotene Leistung werde von anderen Anbietern gegen Entgelt angeboten, etwa im Rahmen von Eingliederungshilfe oder im Rahmen rechtlicher Betreuung. Die üstra stehe daher in wettbewerbsverzerrender Konkurrenz zu anderen Leistungsanbietern.

Im Rahmen einer persönlichen Anhörung vor dem SG hat Herr J. erklärt, dass er nach ca. drei Jahren erstmals Zweifel an der Zusätzlichkeit der Maßnahme gehabt habe, als er in einer Arztpraxis in einem Flyer gelesen habe, dass die Begleitung zu Ärzten als Dienstleistung angeboten werde. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Protokoll der öffentlichen Sitzung vom 13. März 2015, Bl. 166 ff. GA, Bezug genommen.

Das SG hat die üstra schriftlich zu dem Anteil mobilitätseingeschränkter Fahrgäste befragt. Wegen der Einzelheiten einer vom Personalleiter, Herrn M. N., vorgelegten Statistik wird auf Bl. 179 ff. GA Bezug genommen.

Mit Urteil vom 2. November 2015 hat das SG die Klage abgewiesen. Die Klage sei als reine Leistungsklage zulässig; sie sei aber unbegründet. Es fehle für einen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch an der notwendigen Vermögensmehrung. Diese sei nur dann anzunehmen, wenn die Zusätzlichkeit der Arbeitsgelegenheit fehle. Die Zusätzlichkeit im Sinne des § 261 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) bzw. gem. § 16d Abs 2 Satz 1 SGB II liege vor. Die Begleitung mobilitätseingeschränkter Fahrgäste gehöre nicht in vollem Umfang zu den ordnungsgemäßen Aufgaben des Maßnahmeträgers. So stelle das Abholen der Kunden von ihrer Wohnung und Begleiten z.B. zum Arzt eine Dienstleistung dar, die über das hinausgehe, was von einem Nahverkehrsträger erwartet werden könne. Dieser habe nach § 2 Abs 4 Nr 3 Satz 2 des Niedersächsischen Nahverkehrsgesetzes allenfalls einen barrierefreien Zugang zu den Verkehrsmitteln zu gewährleisten. Die üstra hätte ohne die Förderung durch die Beklagte den Fahrgastbegleitservice nicht in der vorliegenden Form ausgestaltet.

Gegen das ihm am 7. Januar 2016 zugestellte Urteil hat Herr J. am 5. Februar 2016 Berufung eingelegt. Die üstra habe die Begleitung von mobilitätseingeschränkten Fahrgästen ausdrücklich zu einem Bestandteil ihres Aufgabenspektrums erklärt. Sie bewerbe diese Serviceleistung öffentlich etwa in ihren Fahrplänen, im Internet und in ausliegenden Flyern. Die Leistungen für mobilitätseingeschränkte Fahrgäste seien zudem Bestandteil der vertraglichen Vereinbarung zwischen der üstra und der Region Hannover. In dem öffentlichen Dienstleistungsauftrag (ÖDA) heiße es ausdrücklich, dass „der ÖDA die Möglichkeit (eröffne), zusätzliche Servicequalitäten für die Fahrgastbetreuung in die gemeinwirtschaftlichen Verpflichtungen zu integrieren und die damit verbundenen Kosten (sowie ggf. seitens Dritter hierfür erzielbare Fördermittel) über den ÖDA abzurechnen. Zu Beginn des ÖDA (sei) insoweit der derzeit bestehende Fahrgastbegleitservice als Anforderung definiert.“

Mit Schreiben vom 30. Januar 2018 hat der Kläger mitgeteilt, den Rechtsstreit für die unbekannten Erben fortzusetzen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 2. November 2015 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an ihn für die Zeit vom 1. Januar 2007 bis zum 30. April 2009 einen Stundenlohn von 11,02 Euro brutto, vom 1. Mai 2009 bis zum 29. Februar 2012 einen Stundenlohn von 11,31 Euro brutto, vom 1. März 2012 bis zum 31. Mai 2012 einen Stundenlohn von 11,70 Euro brutto, vom 1. Juni 2012 bis zum 31. Dezember 2012 einen Stundenlohn von 12,00 Euro brutto, vom 1. Januar 2013 bis zum 31. Juli 2013 einen Stundenlohn von 12,17 Euro brutto und vom 1. August 2013 bis zum 31. März 2014 einen Stundenlohn von 12,34 Euro brutto sowie die tarifvertraglich geregelten Zuschläge für Feiertagsarbeit, jeweils abzüglich bereits erbrachter SGB II-Leistungen (Regelbedarfe zzgl. etwaiger Mehrbedarfe, KdUH, Sozialversicherungsbeiträge) und der Mehraufwandsentschädigung, zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des SG für zutreffend. Ergänzend sei darauf hinzuweisen, dass Herr J. von Anfang an freiwillig an der Maßnahme teilgenommen habe. Der durch den Kläger verfolgte Anspruch sei im Übrigen nicht rechtsnachfolgefähig.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte nebst Verwaltungsvorgang des Beklagten und AGH-Maßnahmeakten (7 Bände) Bezug genommen, die vorgelegen haben und Grundlage der Entscheidungsfindung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die nach §§ 143, 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und auch im Übrigen zulässige Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Wertersatz aus einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch.

A.

Die Klage auf Wertersatz ist – wie das SG zutreffend erkannt hat – als allgemeine Leistungsklage nach § 54 Abs 5 SGG zulässig, ohne dass der Beklagte zuvor über das klägerische Begehren einen Verwaltungsakt zu erlassen hatte (vgl. etwa BSG, Urteil vom 22. August 2013 – B 14 AS 75/12 R –, BSGE 114, 129-136, SozR 4-4200 § 16 Nr 13, Rn 12).

B.

Der Kläger ist als Nachlasspfleger aktivlegitimiert. Mit der Anordnung der Nachlasspflegschaft geht die aktive und passive Prozessführungsbefugnis auf ihn über; § 1984 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB (vgl. Horn in: Ermann, BGB, 15. Aufl. 2017, § 1984, Rn 4).

C.

Anspruchsgrundlage für den begehrten Wertersatz ist der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch als gewohnheitsrechtlich anerkanntes und aus allgemeinen Grundsätzen des Verwaltungsrechts abgeleitetes eigenständiges Rechtsinstitut (st. Rspr. des BSG, erstmals mit Urteil vom 13. April 2011 – B 14 AS 98/10 R –, BSGE 108, 116-123, SozR 4-4200 § 16 Nr 7). Bei der Arbeitsgelegenheit nach § 16d SGB II handelt es sich hingegen nicht um ein privatrechtliches Arbeitsverhältnis zwischen Maßnahmeträger und SGB II-Leistungsempfänger, das einen Anspruch auf Arbeitsentgelt auslöst (vgl. zur systematischen Einordnung von Arbeitsgelegenheiten und der Ausgestaltung der Rechtsbeziehungen: BSG, Urteil vom 27. August 2011 – B 4 AS 1/10 R –, BSGE 109, 70-81, SozR 4-4200 § 16 Nr 9, Rn 17 ff.).

I.

Der Anspruch scheitert nicht bereits an der fehlenden Vererbbarkeit des Wertersatzes. Denn es handelt sich bei dem sich aus dem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch ergebenden Wertersatz nicht um eine Geldleistung im Sinne des § 11 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – SGB I – (vgl. BSG, Urteil vom 27. August 2011 – B 4 AS 1/10 R –, BSGE 109, 70-81, SozR 4-4200 § 16 Nr 9, Rn 34), die nach § 58 Satz 2 SGB I jedenfalls nicht vom Fiskus als gesetzlichem Erben geltend gemacht werden könnte (vgl. zur Rechtstellung des Fiskus als Erben: § 1966 BGB).

II.

Die Voraussetzungen für den öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch liegen jedoch nicht vor.

Der Anspruch gleicht eine mit der Rechtslage nicht übereinstimmende Vermögenslage aus und verschafft dem Anspruchsinhaber ein Recht auf Herausgabe des Erlangten, wenn eine Leistung ohne Rechtsgrund erfolgt ist. Seine Anspruchsvoraussetzungen und Rechtsfolgen entsprechen, soweit sie nicht spezialgesetzlich geregelt sind, denen des zivilrechtlichen Bereicherungsanspruchs (vgl. BSG, Urteil vom 13. April 2011 – B 14 AS 98/10 R –, BSGE 108, 116-123, SozR 4-4200 § 16 Nr 7, Rn 14 m.w.N. zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts).

1.

Soweit ein Anspruch auf Wertersatz auch für die Monate Juni, Juli und August 2011 geltend gemacht wird, scheitert er schon daran, dass Herr J. nach eigener Angabe in dieser Zeit die im Streit stehende Tätigkeit als Fahrgastbegleiter nicht ausgeübt hat und dementsprechend keine Leistung erbracht hat.

2.

Im übrigen Streitzeitraum hat Herr J. mit der Ausübung einer Tätigkeit als Fahrgastbegleiter für den Maßnahmeträger, die als Arbeitsgelegenheit nach § 16d SGB II ausgestaltet war, eine für den öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch erforderliche Leistung erbracht, die sich der Beklagte zurechnen lassen muss (vgl. BSG, Urteil vom 27. August 2011 – B 4 AS 1/10 R –, BSGE 109, 70-81, SozR 4-4200 § 16 Nr 9, Rn 25 f.).

3.

Es ist allerdings keine Vermögensmehrung bei dem Beklagten eingetreten.

a)

Eine solche Vermögensmehrung ist nach der Rechtsprechung des BSG jedenfalls dann anzunehmen, wenn die gesetzliche Voraussetzung der Zusätzlichkeit für eine Beschäftigung im Rahmen einer Arbeitsgelegenheit nicht vorgelegen hat (BSG, Urteil vom 13. April 2011 – B 14 AS 98/10 R –, BSGE 108, 116-123, SozR 4-4200 § 16 Nr 7; Rn 18; BSG, Urteil vom 27. August 2011 – B 4 AS 1/10 R –, BSGE 109, 70-81, SozR 4-4200 § 16 Nr 9, Rn 27).

Nach § 16d Abs 1 Satz 1 SGB II (in der ab dem 1. April 2012 gültigen Fassung) können erwerbsfähige Leistungsberechtigte zur Erhaltung oder Wiedererlangung ihrer Beschäftigungsfähigkeit, die für eine Eingliederung in Arbeit erforderlich ist, in Arbeitsgelegenheiten zugewiesen werden, wenn die darin verrichteten Arbeiten zusätzlich sind, im öffentlichen Interesse liegen und wettbewerbsneutral sind. Arbeiten sind nach § 16d Abs 2 Satz 1 SGB II zusätzlich, wenn sie ohne die Förderung nicht, nicht in diesem Umfang oder erst zu einem späteren Zeitpunkt durchgeführt würden. Diese Definition ist an die zum 31. März 2012 außer Kraft getretene Vorschrift des § 261 Abs 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch – Arbeitsförderung – (SGB III) angelehnt, die auch für die Vorgängerregelungen - § 16 Abs 3 SGB II in der bis zum 31. Dezember 2008 gültigen Fassung bzw. § 16d SGB II in der bis zum 31. März 2012 gültigen Fassung – maßgeblich ist (vgl. BSG, Urteil vom 27. August 2011 – B 4 AS 1/10 R –, BSGE 109, 70-81, SozR 4-4200 § 16 Nr 9, Rn 27).

Gemessen an dieser Definition war die von Herrn J. ausgeübte Tätigkeit als Fahrgastbegleiter zusätzlich. Der Senat geht dabei zunächst von der Erklärung der üstra im Rahmen ihres Förderantrages (für das Jahr 2008) aus, wonach sie sicherstellt, dass durch die Arbeitsgelegenheiten keine Arbeiten ausgeführt werden, die bisher an Wirtschaftsunternehmen vergeben worden sind, keine regulären Arbeitsplätze ersetzt werden, die in den letzten 24 Monaten weggefallen sind, keine regulären Arbeitsplätze in den nächsten 24 Monaten wegfallen werden, ausschließlich Arbeiten ausgeführt werden, die sonst nicht, nicht in diesem Umfang oder erst zu einem späteren Zeitpunkt (nicht in den nächsten 24 Monaten) ausgeführt werden, sowie keine Tätigkeiten ausgeübt werden, die nötig sind, um den regulären Dienstbetrieb aufrecht zu erhalten oder möglich zu machen.

Der Senat hat keinen Anlass an der Richtigkeit dieser Erklärung zu zweifeln. Als zutreffend kann unterstellt werden - auch der Kläger trägt nichts Gegenteiliges vor -, dass es reguläre Beschäftigungsverhältnisse als Fahrgastbegleiter bei der üstra nicht gibt und auch in Vergangenheit nicht gegeben hat; die Tätigkeit wird (auch aktuell noch unter Hinweis auf die „Kooperation“ mit dem Beklagten: siehe Hinweis-Flyer: „Gemeinsam mobil – Kostenloser Fahrgast-Begleitservice“ Stand: 01/2018, abzurufen unter www.uestra.de) ausschließlich im Rahmen von Arbeitsgelegenheiten nach § 16d SGB II angeboten. Dass der Betriebsrat der üstra angeregt haben soll, derartige reguläre Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen, die üstra das aber aus Wirtschaftlichkeitsgründen nicht umgesetzt hat (vgl. insoweit die Erklärung des Herrn J. im Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 2. November 2016, Bl. 220 f. GA), steht der Annahme der Zusätzlichkeit nicht entgegen, sondern spricht sogar dafür, dass die Fahrgastbegleitung gerade nicht zum eigentlichen Leistungsspektrum gehört. Dabei muss ein Unternehmen abwägen können und dürfen, ob es „zusätzliche“ Dienstleistungen aus Wirtschaftlichkeitsgründen anbietet. Zutreffend hat das SG dabei herausgearbeitet, dass sich bereits dem Niedersächsischen Nahverkehrsgesetz eine solche Aufgabenzuweisung nicht entnehmen lässt. Insoweit nimmt der Senat Bezug auf die Ausführungen des SG (S. 5 des Urteils). Soweit der Kläger auf die Vereinbarungen im ÖDA hinweist, hat die zitierte Passage den Charakter eines Programmsatzes, der nicht das eigentliche Leistungsspektrum – den Transport im öffentlichen Nahverkehr sicherzustellen – erweitert.

Der Umstand, dass der Fahrgastservice kostenlos angeboten wird, die üstra mithin keine (zusätzlichen) Einnahmen erzielt, spricht ebenfalls dafür, dass der Service ohne die Förderung durch den Beklagten nicht in dieser Form angeboten worden wäre. Vielmehr entstehen der üstra regulär zusätzliche Kosten von 2,00 Euro (früher: 1,00 Euro) pro Stunde als Mehraufwandsentschädigung je Fahrgastbegleiter, sodass auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass mit den begleiteten Personen evtl. zusätzliche Fahrgäste gewonnen werden (bei Kosten eines Einzelfahrscheins im Jahr 2018 i.H.v. 2,70 Euro für das Stadtgebiet Hannover, 3,50 Euro für das Umland und 4,40 Euro für die Region), kein nennenswerter wirtschaftlicher Vorteil ersichtlich ist. Ausweislich der von der üstra vorgelegten Statistiken bewegt sich die Gruppe der begleiteten Personen zudem lediglich in einer Größenordnung von mehreren hundert Personen insgesamt monatlich, was im Verhältnis zu den sonstigen Transportzahlen der üstra ein absolut verschwindend geringer Bruchteil ist (vgl. etwa für das Jahr 2016: 176 Millionen Fahrgäste ausweislich des Geschäftsberichts, abzurufen unter www.uestra.de), sodass kein ernsthaftes wirtschaftliches Interesse über den Ticketverkauf an die Personengruppe der begleiteten Fahrgäste anzunehmen ist. Dies umso weniger als etwa schwerbehinderte Menschen mit ihrem Schwerbehindertenausweis und einer entsprechenden Wertmarke den öffentlichen Personennahverkehr kostenfrei nutzen können (vgl. https://www.uestra.de/kundenservice/barrierefreie-uestra/serviceangebote/ kostenfrei).

Dass die üstra das Angebot offensiv bewirbt, steht der Zusätzlichkeit nicht entgegen. Denn eine Arbeitsgelegenheit hat ihre Daseinsberechtigung nicht nur in einer der Wahrnehmung verborgen bleibenden Beschäftigung. Es ist kein Grund ersichtlich, warum sich ein Unternehmen (zusätzliche) Dienstleistungen, die ausschließlich im Rahmen von Arbeitsgelegenheiten erbracht werden, in der Außendarstellung nicht zunutze machen darf.

Der Senat vermag auch nicht zu erkennen, dass die Fahrgastbegleitung andere Anbieter am Markt verdrängt. Maßnahmen der Eingliederungshilfe nach den §§ 53 ff. Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) etwa, auf die der Kläger verweist, stellen - nach besonderen gesetzlichen Voraussetzungen - eine Individualbetreuung sicher, die auf die besonderen Einschränkungen einer Person zugeschnitten sind. Hingegen stellt sich die Fahrgastbegleitung als die etwas umfassendere Variante einer hilfsbereiten Person in der Öffentlichkeit dar. Der klägerseitigen Vermutung, dass die Fahrgastbegleitung eine marktverdrängende Position einnimmt, widersprechen auch die von der üstra vorgelegten Statistiken, wonach lediglich mehrere hundert Personen insgesamt monatlich begleitet werden. Stellt man die sonstigen Transportzahlen der üstra (mit etwa 176 Millionen Fahrgästen im Jahr 2016) gegenüber, lässt sich weder ein wirtschaftliches Interesse der üstra annehmen noch ernsthaftes Verdrängungspotential anderer Anbieter erkennen. Gelegentliche Überschneidungen des Angebots mit anderen Dienstleistern (etwa mit dem Fahrdienst von proSenis, vgl. insoweit die Erklärung des Herrn J. im Protokoll der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 13. März 2015, Bl. 166 ff. GA) führen dabei nicht zu einer Marktverdrängung, weil eine Verdrängung per Definition voraussetzt, dass ein schwächerer Anbieter sich aus dem Markt zurückzieht, wofür es keinerlei Anhaltspunkte gibt.

Der Umstand, dass etwa 70 Fahrgastbegleiter über Jahre hinweg die Tätigkeit ausüben, steht der Zusätzlichkeit nicht entgegen. Insoweit bedeutet die Ausgestaltung einer Tätigkeit als Arbeitsgelegenheit auch nicht, dass dafür keinerlei Bedürfnis vorhanden ist, sie mithin völliger Selbstzweck ist. Einer solchen Betrachtung steht schon das in § 16d Abs 1 Satz 1 SGB II normierte Erfordernis des öffentlichen Interesses einer Arbeitsgelegenheit entgegen.

b)

Es ist auch nicht ersichtlich, dass (obwohl die Zusätzlichkeit der Arbeitsgelegenheit vorliegt) eine Vermögensmehrung aus anderem Grund eingetreten ist. Der Fahrgastbegleitservice hat wegen seiner Kostenfreiheit den Umsatz des Unternehmens weder steigern noch das Kerngeschehen - höhere Einnahmen aus dem Verkauf von Fahrscheinen für den Transport - voranbringen können (vgl. insoweit schon 3.a).

4.

Da es nach alledem bereits an einer Vermögensmehrung fehlt, kann offen bleiben, ob Herr J. die Leistung mit Rechtsgrund erbracht hat. Zweifel ergeben sich insoweit, weil die Maßnahme insgesamt knapp acht Jahre lief und daher fraglich ist, inwieweit sie aufgrund der langen Laufzeit überhaupt geeignet war, die in § 16d Abs 1 Satz 1 SGB II formulierten Ziele - Erhaltung oder Wiedererlangung der Beschäftigungsfähigkeit - zu erreichen (vgl. insoweit auch die nunmehr seit dem 1. April 2012 geltende zeitliche Befristung für Arbeitsgelegenheiten - § 16 d Abs 6 SGB II auf nicht länger als insgesamt 24 Monate innerhalb von 5 Jahren).

Insoweit kann auch offenbleiben, ob die wiederholten EGVen – unabhängig von ihrer Laufzeit von fast 8 Jahren – einen hinreichenden Rechtsgrund darstellen.

5.

Weil eine Vermögensmehrung bei dem Beklagten nicht eingetreten ist, kann ebenfalls offenbleiben, ob und inwieweit der Beklagte Herrn J. in Anlehnung an § 814 BGB eine Kenntnis von der Nichtschuld entgegenhalten kann, nachdem Herr J. angegeben hatte, dass ihm nach drei Jahren Zweifel an der Zusätzlichkeit der Maßnahme gekommen sind (vgl. zu einer etwaigen Obliegenheitsverletzung, weil der Leistungsberechtigte den Grundsicherungsträger auf mögliche rechtswidrige Umstände hinzuweisen hat: BSG, Urteil vom 22. August 2013 – B 14 AS 75/12 R –, BSGE 114, 129-136, SozR 4-4200 § 16 Nr 13, Rn 21 ff.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 SGG) sind nicht ersichtlich.