Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 12.12.2018, Az.: L 13 AS 162/17

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
12.12.2018
Aktenzeichen
L 13 AS 162/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 74541
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG - 23.02.2017 - AZ: S 17 AS 185/16

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bei der Prüfung der Sozialwidrigkeit einer Arbeitsaufgabe im Rahmen des § 34 SGB II sind die in § 10 Abs. 1 Nr. 4 SGB II niedergelegten Zumutbarkeitskriterien zu berücksichtigen.

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 23. Februar 2017 sowie der Bescheid des Beklagten vom 3. Dezember 2015 in der Fassung des Teilabhilfebescheids vom 8. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. März 2016 aufgehoben.

Der Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Verpflichtung der Klägerin zum Ersatz erbrachter Geldleistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Die 1980 geborene, ledige Klägerin ist libanesische Staatsbürgerin und lebt seit 1989 in Deutschland. Sie bezog seit dem 1. Januar 2005 Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Sie war zunächst Inhaberin einer Aufenthaltsgenehmigung nach § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) und erhielt zum 1. Oktober 2013 eine unbefristete Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 4 AufenthG. Sie bewohnte seit dem 1. Juli 2007 gemeinsam mit ihrer 1952 geborenen schwerbehinderten (Grad der Behinderung 70, Merkzeichen G) und pflegebedürftigen Mutter, Frau K., eine 80 qm große Wohnung in L.. Die Bruttokaltmiete betrug 420 € monatlich, die Nebenkostenvorauszahlung 90 € monatlich und der Heizkostenabschlag bis einschließlich Januar 2014 140 € monatlich, ab Februar 2014 142 € monatlich, ab August 2014 145 € monatlich und ab Juli 2015 123 € monatlich.

Am 20. August 2013 nahm die Klägerin eine bis zum 19. August 2014 befristete Vollzeitbeschäftigung als Hallenaufsicht bei der M. in N. mit einer Höchstarbeitszeit von 169 Stunden monatlich auf. Laut Arbeitsvertrag vom 19. August 2013 verteilte sich die variable Arbeitszeit auf Abruf auf die ganze Woche (einschließlich Samstag und Sonntag), betrug mindestens vier Stunden pro Tag und fand im Schichtsystem (einschließlich Nachtschicht) statt. Der Arbeitgeber verpflichtete sich, die Lage der Arbeitszeit mindestens vier Tage im Voraus durch Aushang eines Dienstplans mitzuteilen. Das Arbeitsverhältnis endete aufgrund eines am 13. November 2013 geschlossenen Aufhebungsvertrags vorzeitig zum 30. November 2013. Die Mutter der Klägerin bezog im streitgegenständlichen Zeitraum Leistungen nach dem Vierten Kapitel SGB XII und erhielt Pflegegeld i. H. v. 400 € monatlich. Sie leidet an einer ausgeprägten Osteopenie und an einer Osteoporose. Nach einem Gutachten des Gesundheitsamts des Beklagten vom 13. Mai 2013 besteht bei ihr ein Grundpflegebedarf von 120 Minuten täglich, die Pflegestufe II ist anerkannt.

Die für den Beklagten handelnde Gemeinde L. (folgend Beklagter) bewilligte der Klägerin auf ihren Antrag vom 9. Dezember 2013 mit Bescheid vom 14. Januar 2013 Leistungen nach dem SGB II i. H. v. 715,79 € für Dezember 2013, i. H. v. 724,99 € für Januar 2014, i. H. v. 537,69 € monatlich für Februar bis April 2014 und i. H. v. 654,99 € für Mai 2014. Mit dem Bescheid vom 14. Januar 2013 minderte der Beklagte darüber hinaus das Arbeitslosengeld II der Klägerin für die Monate Februar bis April 2014 i. H. v. 30 % des nach § 20 maßgebenden Regelbedarfs. Zur Begründung führte er aus, dass die Klägerin per Aufhebungsvertrag vom 30. November 2013 auf eigenen Wunsch das Arbeitsverhältnis bei der M. aufgelöst habe und somit die Voraussetzungen für eine Sperrzeit nach dem SGB III erfüllt seien, weshalb das Arbeitslosengeld nach § 31 Abs. 2 Nr. 4 SGB II i. V. m. § 31a Abs. 1 SGB II abzusenken sei. Nach Vorlage der aktuellen Jahresrechnung des Energieversorgers gewährte der Beklagte der Klägerin mit Änderungsbescheid vom 27. Januar 2014 Leistungen nach dem SGB II i. H. v. 608,69 € monatlich für Februar bis April 2014 und i. H. v. 725,99 € für Mai 2014.

Im Januar 2014 und März 2014 sprach die Klägerin bei der O. (Beschäftigungsförderung des Beklagten) vor und äußerte jeweils den Wunsch, eine Ausbildung zur Flugbegleiterin zu absolvieren. Dabei wurde ihr aufgegeben, zunächst zu prüfen, ob sich die Ausbildung mit der Pflege ihrer Mutter verbinden lasse. In diesem Zusammenhang erklärte die Klägerin, dass sie sich für die Pflege der Mutter allein verantwortlich fühle, was auch kulturelle Gründe habe, und sie sich vorstellen könne, die Verantwortung an eine arabischsprachige außenstehende Person abzugeben. Dazu müsse sie allerdings genug Geld verdienen, denn das Pflegegeld reiche dafür nicht aus. Im März 2014 bot die O. der Klägerin die Teilnahme an einer Informationsveranstaltung „Betriebliche Ausbildung in Teilzeit“ an, die sich u. a. an Menschen richtete, die Angehörige pflegen.

Mit Schreiben vom 3. April 2014 hörte der Beklagte die Klägerin zu einem möglichen Ersatzanspruch nach § 34 SGB II ab dem 1. Dezember 2013 an und führte unter Wiederholung des Gesetzeswortlauts aus, dass die Klägerin das Arbeitsverhältnis bei der M. per Aufhebungsvertrag vom 13. November 2013 auf eigenen Wunsch gelöst habe und dieses Verhalten die Voraussetzungen für den Ersatz der gezahlten Leistungen nach dem SGB II erfüllen könnte. Daraufhin teilte die Klägerin in einer nicht datierten Stellungnahme mit, dass sie aufgrund der Erkrankung ihrer Mutter ihre Schule/Ausbildung abgebrochen und stattdessen ihre Mutter gepflegt habe. Im August 2013 habe sie trotzdem eine Arbeitsstelle aufgenommen um zu sehen, ob es möglich sei, zu arbeiten und gleichzeitig ihre Mutter zu pflegen, die kein Deutsch spreche. Da sie im Schichtsystem habe arbeiten müssen und keinen Führerschein besitze, habe ihre Schwester sie zunächst zu den Frühschichten um 4 Uhr gefahren, obgleich diese selbst berufstätig gewesen sei. Ein Umzug nach N. sei aufgrund einer Wohnsitzauflage zunächst nicht möglich gewesen. Nach Erhalt des unbefristeten Aufenthaltstitels habe sie sich sofort auf die Suche nach einer Wohnung in N. begeben. In dieser Zeit habe sich allerdings der Gesundheitszustand der Mutter erneut verschlechtert. Diese habe sich eine Rippe gebrochen. Sie habe dann bei ihrem Vorgesetzten vorgesprochen und darum gebeten, weniger oder wenn möglich nur in den Spätschichten eingesetzt zu werden, um sich wenigstens morgens um ihre Mutter kümmern zu können. Da eine derartige Vereinbarung nicht möglich gewesen und in Aussicht gestellt worden sei, dass vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt die Möglichkeit der Wiederaufnahme der Stelle bestehe, habe sie den Aufhebungsvertrag geschlossen. Im Übrigen bestehe ihr Ziel darin, im Familienbetrieb –P. in L. – auf Dauer zu arbeiten.

Auf den Folgeantrag vom 7. Mai 2014 gewährte der Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 8. Mai 2014 in Gestalt des Änderungsbescheids vom 12. November 2014 Leistungen nach dem SGB II für Juni 2014 bis November 2014 i. H. v. 666,09 € monatlich. Dabei berücksichtigte er lediglich die aus seiner Sicht angemessenen Kosten der Unterkunft für einen Zwei-Personen-Haushalt i. H. v. 442,20 € (kopfteilig 176,10 €) und Heizkosten i. H. v. 90 € (kopfteilig 45 €).

Mit Bescheid vom 9. Mai 2014 stellte der Beklagte fest, dass die Klägerin die ihr ab dem 1. Dezember 2013 erbrachten Leistungen nach dem SGB II zu ersetzen habe. Sie habe ihr Arbeitsverhältnis bei der M. per Aufhebungsvertrag vom 13. November 2013 auf eigenen Wunsch zum 30. November 2013 gelöst und damit die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts durch ihr sozialwidriges Verhalten ab dem 1. Dezember 2013 herbeigeführt. Dieses Verhalten erfülle die Voraussetzungen für den Ersatz der gezahlten Leistungen nach dem SGB II. Die von ihr in der Anhörung vorgetragenen Gründe rechtfertigten keine andere Bewertung der Sachlage, weil ihr bekannt gewesen sei, dass sie nach der Auflösung des Arbeitsvertrages ihren Lebensunterhalt nicht allein würde bestreiten können. Dass sie im Schichtdienst eingesetzt werden würde mit Tag-/Nachtschichten und dass eine Wohnsitzauflage bestanden habe, habe sie bereits bei Abschluss des Arbeitsvertrages gewusst. Nach der Verschlechterung des Gesundheitszustands ihrer Mutter hätte sie gem. § 2 Pflegezeitgesetz (PflegeZG) bis zu zehn Tage von Ihrem Arbeitsplatz fernbleiben können, um eine bedarfsgerechte Pflege zu organisieren. Darüber hinaus besitze ihre Mutter die Pflegestufe II, weshalb die Pflege nicht ausschließlich durch die Klägerin geleistet werden müsse. Die Pflege könne beispielsweise durch einen Pflegedienst/eine Pflegekraft durchgeführt werden, ohne dass Mehrkosten entstünden. Eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses sei nicht notwendig. Die Abgabe der Pflege sei im Übrigen auch dann erforderlich, wenn sie die gewünschte Ausbildung zur Flugbegleiterin absolviere. Ihr Verhalten sei zumindest grob fahrlässig. Ein wichtiger Grund liege nicht vor. Über die Höhe des Erstattungsanspruchs erhalte sie zu gegebener Zeit weitere Nachricht.

Den dagegen eingelegten Widerspruch begründete die Klägerin damit, dass es abwegig sei, ihr sozialwidriges Verhalten zu unterstellen. Es sei befremdlich, die aufopferungsvolle Pflege der Mutter, die letztlich auch öffentliche Mittel spare, als sozialwidrig zu bezeichnen. Mit Widerspruchsbescheid vom 29. Juli 2014 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Die dagegen vor dem Sozialgericht (SG) Stade erhobene Klage (Aktenzeichen S 8 AS 394/17) nahm die Klägerin am 29. Mai 2015 zurück.

Bereits am 30. Mai 2014 schloss die Klägerin einen befristeten Arbeitsvertrag über ein Arbeitsverhältnis vom 1. Juni 2014 bis 30. November 2014 mit der Firma Q. R.. Die Arbeitszeit im Restaurant in N. umfasste 30 Stunden wöchentlich bei einem Stundenlohn i. H. v. 7,71 € brutto. Schon am 4. Juni 2014 kündigte die Klägerin das Arbeitsverhältnis und erschien nicht mehr zur Arbeit. Der Beklagte hörte sie daraufhin am 13. Oktober 2014 zu einer erneuten Absenkung des Arbeitslosengeld II ab dem 1. Dezember 2014 für die Dauer von drei Monaten i. H. v. 60 % des maßgebenden Regelbedarfs an. Im Rahmen der Anhörung teilte die Klägerin mit, dass ihr nicht klar gewesen sei, dass es sich um einen „rechtskräftigen“ Arbeitsvertrag gehandelt habe. Sie sei der Auffassung gewesen, dass sie einen Tag zur Probe gearbeitet habe. Im Übrigen sei sie der Arbeit nicht gewachsen gewesen. Ihre Mutter sei erneut nach einem Wirbelbruch erkrankt.

Mit weiterem Bescheid vom 12. November 2014 gewährte der Beklagte der Klägerin für Dezember 2014 Leistungen nach dem SGB II i. H. v. 666,09 €, für Januar 2015 i. H. v. 674,28 € und für Februar bis Mai 2015 i. H. v. 629,28 € monatlich. Mit Minderungsbescheid vom 12. November 2014 hob der Beklagte den Änderungsbescheid vom selben Tag teilweise auf und senkte den ALG II-Anspruch der Klägerin für die Monate Dezember 2014 bis Februar 2015 i. H. v. 60 % des Regelbedarfs ab. Zur Begründung führte er aus, dass die Klägerin das sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis bei der Firma Q. ohne wichtigen Grund selbst gekündigt habe. Mit Veränderungsmitteilung vom 1. Dezember 2014 teilte die Klägerin mit, dass sie zum 1. Dezember 2014 eine „Ausbildung“ bei der S. N. aufgenommen habe und die erste Vergütung i. H. v. 468 € brutto zum 1. Januar 2015 ausgezahlt werde. Nach dem Inhalt des Arbeitsvertrages vom 24. November 2014 handelte es sich um eine Beschäftigung als Bürokraft mit einer monatlichen Arbeitszeit von 55 Stunden.

Mit Änderungsbescheid vom 11. Dezember 2014 gewährte der Beklagte der Klägerin für Januar 2015 Leistungen nach dem SGB II i. H. v. 188,48 €, für Februar 2015 i. H. v. 143,48 € und für März bis Mai 2015 i. H. v. 382,88 € monatlich. Dabei berücksichtigte er in den Monaten Januar und Februar 2015 die mit Sanktionsbescheid vom 12. November 2014 verfügte Minderung des ALG II-Anspruchs i. H. v. 60 % des Regelbedarfs (239,40 € monatlich). Nach Vorlage der ersten Gehaltsabrechnung, aus der sich ein Gehalt i. H. v. 467,50 brutto/412,92 € netto ergab, berechnete der Beklagte die Leistungen nach dem SGB II mit dem Änderungsbescheid vom 14. Januar 2015 neu und gewährte der Klägerin für Januar 2015 einen Betrag i. H. v. 195,46 €, für Februar 2015 i. H. v. 150,46 € und für März bis Mai 2015 i. H. v. 389,86 € monatlich.

Auf den Folgeantrag vom 27. April 2015 bewilligte der Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 20. Mai 2015 Leistungen nach dem SGB II i. H. v. 435,01 € für Juni 2015 und i. H. v. 389,26 € für die Monate Juli bis November 2015.

Gestützt auf § 44 SGB X nahm der Beklagte mit zwei weiteren Bescheiden vom 20. Mai 2015 die Bewilligungsbescheide vom 8. Mai 2014, 12. November 2014, 11. Dezember 2014 und 14. Januar 2015 zurück und gewährte der Klägerin – aufgrund einer Fehlberechnung des Höchstbetrags für Heizkosten –  für die Monate Juni bis November 2014 Leistungen nach dem SGB II i. H. v. 666,84 € monatlich, für Dezember 2014 i. H. v. 432,24 €,  für Januar 2015 i. H. v. 196,21 €, für Februar 2015 i. H. v. 195,61 € und für März bis Mai 2015 i. H. v. 435,01 € monatlich.

Mit Veränderungsmitteilung vom 23. Juni 2015 gab die Klägerin bekannt, dass ihr Arbeitsverhältnis zum 15. Juli 2015 durch Kündigung der Arbeitgeberin beendet worden sei. Diese benötige keine Bürokraft mehr. Die Arbeitgeberin erklärte auf Nachfrage des Beklagten, dass betriebsbedingte Kündigungen notwendig gewesen seien und sie bei einer Verbesserung der wirtschaftlichen Situation die Klägerin sofort und vorbehaltslos kontaktieren würde. Mit Änderungsbescheid vom 17. August 2015 gewährte der Beklagte der Klägerin daraufhin Leistungen nach dem SGB II ohne Berücksichtigung eines Einkommens, was einen Anspruch i. H. v. 549,28 € für August 2015 und i. H. v. 629,28 € monatlich für September bis November 2015 ergab.

Auf den weiteren Folgeantrag vom 27. Oktober 2015 gewährte der Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 2. November 2015 Leistungen nach dem SGB II i. H. v. 629,28 € für Dezember 2015 und i. H. v. 658,29 € monatlich für Januar bis Mai 2016. Nach Vorlage der Jahresabrechnung des Energieversorgers nahm der Beklagte mit zwei weiteren Änderungsbescheiden vom 19. November 2015 für die Monate Juli 2015 bis Mai 2016 Nachberechnungen vor und gewährte der Klägerin Leistungen nach dem SGB II i. H. v. 435,01 € für Juli 2015, i. H. v. 595,03 € für August 2015, i. H. v. 675,03 € monatlich für September bis November 2015, i. H. v. 675,03 € für Dezember 2015 und i. H. v. 700,79 € monatlich für Januar bis Mai 2016.

Mit Schreiben vom 19. November 2015 hörte der Beklagte die Klägerin zur Geltendmachung des am 9. Mai 2014 festgestellten und durch bestandskräftigen Widerspruchsbescheid vom 1. August 2015 bestätigten Ersatzanspruchs für die Zeit vom 1. Dezember 2013 bis 30. November 2015 i. H. v. 17.110,47 € an. In einer nicht datierten Stellungnahme brachte die Klägerin ihre Sprachlosigkeit hinsichtlich des Ersatzanspruchs zum Ausdruck und erklärte erneut, dass ihre Mutter die Pflegestufe II habe und sie sich habe kümmern müssen, zumal diese der deutschen Sprache nicht mächtig sei. Eine hilflose und kranke Frau alleine zu lassen sei unmenschlich und sie werde ihre Mutter auch zukünftig nicht alleine lassen. Sie habe sich bereits als junges Mädchen mit ihrem beruflichen, privaten und familiären Werdegang aufgeopfert, um an der Seite ihrer kranken und pflegebedürftigen Mutter zu bleiben. Nach Jahren habe sie es gewagt, eine Arbeitsstelle aufzunehmen, weil sie geglaubt habe, die Pflege daneben abdecken zu können. Allerdings habe sich der Zustand ihrer Mutter nachweisbar verschlechtert, so dass sie gezwungen gewesen sei, das Arbeitsverhältnis „zu kündigen“. Sie habe kein Geld, um etwaige Ansprüche zu zahlen. Im Übrigen habe sie durch ihre Pflegetätigkeit Mittel gespart, da ein Pflegedienst deutlich teurer gewesen wäre.

Mit Bescheid vom 3. Dezember 2015 machte der Beklagte den dem Grunde nach bestandskräftig festgestellten Ersatzanspruch, den er mit einem Betrag i. H. v. 17.110,47 € bezifferte, für die Zeit vom 1. Dezember 2013 bis 30. November 2015 gegenüber der Klägerin geltend. Darüber hinaus verfügte er die Aufrechnung des Ersatzanspruchs mit den Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts i. H. v. monatlich 30 % des Regelbedarfs (zurzeit 121,20 €) längstens bis zum 31. Januar 2019. Zur Begründung wiederholte er den Gesetzeswortlaut des § 34 SGB II. Härtegründe habe die Klägerin nicht vorgetragen. Nach Abwägung aller entscheidungserheblichen Umstände mache der Beklagte gem. § 43 SGB II, beschränkt auf drei Jahre, von seiner Aufrechnungsmöglichkeit Gebrauch.

Den dagegen eingelegten Widerspruch begründete die Klägerin damit, dass die Unterstellungen unzutreffend seien. Mit weiterem Bescheid vom 8. März 2016 nahm der Beklagte den Bescheid vom 3. Dezember 2015 mit Wirkung zum 1. Dezember 2013 zurück und machte den am 9. Mai 2014 festgestellten bestandskräftigen Ersatzanspruch nur noch für die Zeit vom 1. Dezember 2013 bis 19. August 2014 i. H. v. 7.147,05 € geltend, da das Arbeitsverhältnis bei der Bremen Airport Service GmbH bis zum 19. August 2014 befristet gewesen sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 7. März 2016, zugestellt am 12. März 2016, wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Der Bescheid vom 8. März 2016 sei Gegenstand des Widerspruchsverfahrens gegen den Bescheid vom 3. Dezember 2015 geworden. Die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II erfolge seit Dezember 2013 nur deshalb, da die Klägerin aufgrund der Beschäftigungsaufgabe nicht mehr über Einnahmen verfüge. Im Zeitpunkt der Aufgabe der Tätigkeit sei ihr auch bewusst gewesen, dass sie anschließend ihren Lebensunterhalt nicht ohne Inanspruchnahme von Sozialleistungen würde bestreiten können. Gründe, die generell gegen die Durchsetzung des bereits festgestellten Ersatzanspruchs sprächen, lägen nicht vor. Das Argument der pflegebedürftigen Mutter sei bereits ausreichend im vorangegangenen Widerspruchsverfahren gewürdigt worden.

Mit der am 12. April 2016 vor dem SG Stade erhobenen Klage macht die Klägerin geltend, dass ihr Verhalten objektiv nicht sozialwidrig gewesen sei. Ihr sei das Schichtsystem mit dem Arbeitsweg von L. zum T. und einem Arbeitsbeginn dreimal wöchentlich um 4 Uhr nicht mehr zuzumuten gewesen. Sie habe selbst keinen Führerschein und öffentliche Verkehrsmittel hätten um diese Uhrzeit nicht zur Verfügung gestanden, so dass Familienmitglieder sie gefahren hätten. Erschwerend sei hinzugekommen, dass die Klägerin sich um ihre pflegebedürftige Mutter habe kümmern müssen, die einen Pflegedienst abgelehnt habe.

Der Beklagte ist dem entgegengetreten und hat ausgeführt, dass der Ersatzanspruch dem Grunde nach mit dem Bescheid vom 9. Mai 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. Juli 2014 bestandskräftig festgestellt sei. Diesen Bescheid müsse sie gegen sich gelten lassen. Gegenstand dieser Klage sei nur noch die Höhe des Ersatzanspruchs, die zutreffend festgestellt worden sei.

Mit Urteil vom 23. Februar 2017 hat das SG die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass die Klägerin aufgrund der Bestandskraft des Bescheides vom 9. Mai 2014 dem Grunde nach zum Ersatz der ab Dezember 2013 ausgezahlten Leistungen verpflichtet sei. Sie habe die Klage gegen den zuvor genannten Bescheid zurückgenommen. Aufgrund des § 77 SGG sei deshalb der Verfügungssatz des Bescheides, nach dem die Klägerin die ab dem 1. Dezember 2013 erbrachten Leistungen zu erstatten habe, bindend. Ein zweistufiges Vorgehen sei auch zulässig.

Gegen das den Prozessbevollmächtigten am 8. März 2017 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 6. April 2017 Berufung eingelegt, die sie damit begründet, dass eine Bestandskraft nicht eingetreten sei. Die Bestandskraft sei durch den Änderungsbescheid des Beklagten vom 8. März 2016 aufgehoben worden. Das SG habe die Frage der Sozialwidrigkeit rechtswidrig nicht geprüft. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) handele es sich bei dem Begriff der Sozialwidrigkeit um einen eng auszulegenden Ausnahmetatbestand, der im Falle der Klägerin nicht erfüllt sei. Die Klägerin habe in einer für sie bestehenden Härtefallsituation eine menschliche Entscheidung treffen müssen. Im Übrigen wiederholt sie die Argumente aus dem Widerspruchs- und Klageverfahren.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stade vom 23. Februar 2017 sowie den Bescheid des Beklagten vom 3. Dezember 2015 in der Fassung des Teilabhilfebescheids vom 8. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 7. März 2016 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er wiederholt sein bisheriges Vorbringen.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Verwaltungs- und Prozessakte verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist begründet.

Sowohl der Grundlagenbescheid vom 9. Mai 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. Juli 2014 als auch der Zweitbescheid vom 3. Dezember 2015 in der Fassung des Teilabhilfebescheids vom 8. März 2016 und Widerspruchsbescheids vom 7. März 2016 sind rechtswidrig, da weder eine Befugnis zum Erlass des Feststellungsbescheids (dazu unter 2a) noch ein sozialwidriges Verhalten vorgelegen haben (dazu unter 2b).

1) Der Teilabhilfebescheid vom 8. März 2016 ist gemäß § 86 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des Widerspruchsverfahrens geworden, denn damit ist der mit Bescheid vom 3. Dezember 2015 bezifferte Ersatzanspruch reduziert und damit abgeändert worden. Der Bescheid vom 8. März 2016 ist vor dem Widerspruchsbescheid vom 7. März 2016 wirksam geworden, denn dieser wurde laut Absendevermerk am 8. März 2016 zur Post aufgegeben und gilt damit als am 11. März 2016 zugegangen (§ 37 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch [SGBX]). Der Widerspruchsbescheid ist der Klägerin hingegen ausweislich der Postzustellungsurkunde (Bl. 175 Verwaltungsakte) erst am 12. März 2016 zugestellt worden.

2) Entgegen der Auffassung des Beklagten ist vorliegend zu prüfen, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 34 SGB X erfüllt sind, insbesondere ist festzustellen, ob der Abschluss des Aufhebungsvertrags vom 13. November 2013 sozialwidrig gewesen ist. Der Überprüfung der Sozialwidrigkeit steht zunächst nicht die materielle Bestandskraft, d. h. die Bindungswirkung des Bescheides vom 9. Mai 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. Mai 2014 entgegen. Nach der Rechtsprechung des BSG liegt es im freien Ermessen der Behörde, trotz Verfristung eine Sachentscheidung zu treffen, weil die Sachherrschaft bei der Behörde verbleibe (vgl. BSG, Urteil vom 12. Oktober 1979 - 12 RK 19/78 - juris Rn. 19 ff.). Der Beklagte hat sich nach Einlegung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 3. Dezember 2015 nicht auf die Bindungswirkung des Grundlagenbescheids vom 9. Mai 2014 berufen, sondern ist nach der maßgeblichen Sicht eines verständigen Beteiligten mit dem Widerspruchsbescheid vom 7. März 2016 erneut in eine vollständige Überprüfung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 34 SGB X und damit in eine erneute Sachprüfung eingetreten. Damit hat er den Anspruch auf umfassende Rechtsverfolgung neu eröffnet und kann sich nicht bei der Überprüfung des Höhenbescheides auf die Bindungswirkung des Grundlagenbescheides berufen (vgl. zum Zweitbescheid BSG, Urteil vom 12. September 2018 – B 4 AS 33/17 R – juris Rn. 10).

a) Die formelle Rechtswidrigkeit des Grundlagenbescheids folgt aus der fehlenden Befugnis des Beklagten zum Erlass eines solchen Bescheids. § 34 SGB II bietet nach Auffassung des Senats keine hinreichende Ermächtigungsgrundlage für den Erlass eines derartigen Feststellungsbescheides. Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) für den damaligen Kostenersatzanspruch nach § 92a Bundessozialhilfegesetz (BSHG) entschieden, dass eine eigenständige Feststellung über die Verpflichtung zum Kostenersatz, bei der die Heranziehung zum Kostenersatz einer gesonderten Regelung vorbehalten bleibt, durch das Gesetz nicht ausgeschlossen sei (Urteil vom 5. Mai 1983 – 5 C 112/81 – juris Rn. 9). Dieser Auffassung vermag sich der Senat aber für den in § 34 SGB II geregelten Ersatzanspruch nicht anzuschließen. In dieser Vorschrift kommt lediglich die Befugnis zum Erlass eines Verwaltungsakts zur Durchsetzung des Ersatzanspruchs (sog. Leistungsbescheid, vgl. BSG, Urteil vom 16. April 2013 – B 14 AS 55/12 R -  juris Rn. 12) zum Ausdruck. Eine Befugnis des Grundsicherungsträgers, über bloße Elemente oder Vorfragen des Ersatzanspruchs, die nicht unmittelbar selbst schon Rechte und Pflichten begründen, zu entscheiden, ist ihr demgegenüber nicht zu entnehmen (vgl. dazu grundlegend Urteil des Senats vom 12. Dezember 2018 – L 13 AS 111/17).

b) Die materielle Rechtswidrigkeit des Grundlagen- und Zweitbescheids folgt aus der fehlenden Sozialwidrigkeit des von der Klägerin geschlossenen Aufhebungsvertrags. Der Klägerin war die am 20. August 2013 aufgenommene Vollzeitbeschäftigung als Hallenaufsicht im Hinblick auf die übernommene Pflege ihrer Mutter nicht zumutbar. Nach § 34 Abs. 1 S. 1 SGB II a. F. ist, wer nach Vollendung des 18. Lebensjahres vorsätzlich oder grob fahrlässig die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen nach diesem Buch an sich oder an Personen, die mit ihr oder ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben, ohne wichtigen Grund herbeigeführt hat, zum Ersatz der deswegen gezahlten Leistungen verpflichtet. Nach der Rechtsprechung des BSG (Urteile vom 2. November 2012 - B 4 AS 39/12 R – juris Rn. 16 ff. und vom 16. April 2013 - B 14 AS 55/12 R - juris Rn. 18 ff.) setzt § 34 Abs. 1 SGB II als objektives Tatbestandsmerkmal ein sozialwidriges Verhalten des Erstattungspflichtigen voraus. Diese ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung ist erforderlich, weil es sich bei § 34 SGB II um eine Ausnahme von dem Grundsatz handelt, dass existenzsichernde und bedarfsabhängige Leistungen regelmäßig unabhängig von der Ursache der entstandenen Notlage und einem vorwerfbaren Verhalten in der Vergangenheit zu leisten sind. Verschuldensgesichtspunkte spielen bei der Feststellung eines Hilfebedarfs keine Rolle. Dieser Grundsatz einer verschuldensunabhängigen Deckung des Existenzminimums würde durch eine weitreichende - und nicht nur auf begründete und eng zu fassende Ausnahmefälle begrenzte Ersatzpflicht - konterkariert. Diesem Verständnis entspricht die Entstehungsgeschichte der Norm und die Rechtsprechung des BVerwG zu den Vorgängervorschriften im Sozialhilferecht (z. B. Urteil vom 24. Juni 1976 - V C 41.74 - BVerwGE 51, 61/63: "Der Nachrang-Grundsatz gebietet die Heranziehung zum Kostenersatz auch in Fällen, in denen die Hilfeleistung zugunsten von unterhaltsberechtigten Angehörigen etwa wegen Arbeitsscheu oder Verschwendungssucht des Unterhaltspflichtigen notwendig wird.").

Entgegen den Grundsätzen des SGB II und damit "sozialwidrig" verhält sich der Betroffene demnach, wenn es ihm aus eigener Kraft möglich (gewesen) wäre, die Hilfebedürftigkeit abzuwenden und sein Verhalten diesen Möglichkeiten zuwiderläuft. Ob ein Verhalten als sozialwidrig einzustufen ist oder nicht, ist eine Frage der Umstände des Einzelfalles. Entscheidend kommt es dabei darauf an, dass ein Verhalten im Hinblick auf die im SGB II verankerten Wertungsmaßstäbe als missbilligenswert erscheint. Unter systematischen Gesichtspunkten drücken die im SGB II kodifizierten Wertmaßstäbe (§ 2 Nachranggrundsatz, § 31 Minderungstatbestände) aus, welches Verhalten als dem Grundsatz der Eigenverantwortung vor der Inanspruchnahme der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zuwiderlaufend angesehen wird (BSG, Urteil vom 2. November 2012 - B 4 AS 38/12 R -, juris Rn 20 m. w. N.). Welche Anstrengungen von den erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in Erfüllung ihrer Obliegenheiten aus § 2 SGB II gefordert werden können, wird u. a. durch § 10 SGB II konkretisiert (vgl. u.a. Böttiger in Eicher/Luik, SGB II, 4. Auflage 2017, § 10 Rn. 1c). Welche Arbeit unzumutbar ist, ist eine rechtliche Wertung und wird durch das SGB II nicht definiert. Im allgemeinen Sprachgebrauch meint zumutbar eine hinnehmbare, erträgliche Belastung und unterliegt einer Einzelfallbetrachtung. Wann nach den Wertungsmaßstäben des SGB II das Tragen der Last, eine bestimmte nicht selbst gewählte Arbeit zu verrichten, erträglich ist, entscheiden die Tatbestände des § 10 Abs. 1 und Abs. 2 SGB II. Dabei ist die Unzumutbarkeitswertung – entgegen der Auffassung des Beklagten – unabhängig vom Wissen und Wollen der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person. Verkennt diese, dass eine Arbeit unzumutbar ist, so ändert dies nichts an der Zumutbarkeitsbewertung, die nach dem gesetzlichen Regelungsplan eine strikte Wertung darstellt, die weder heilbar ist noch obsolet wird, wenn die erwerbsfähige leistungsberechtigte Person die unzumutbare Arbeit zunächst ausübt (vgl. Böttiger in Eicher/Luik a. a. O. § 10 Rn. 8 f.).

Nach § 10 Abs. 1 Nr. 4 SGB II ist einer erwerbsfähigen Person jede Arbeit zumutbar, es sei denn, dass die Ausübung der Arbeit mit der Pflege einer oder eines Angehörigen nicht vereinbar wäre und die Pflege nicht auf andere Weise sichergestellt werden kann. Danach gehört die Pflege von Angehörigen zu den familiären Pflichten, die eine Arbeitsaufnahme unzumutbar machen können. Pflege meint jede Art der aufgrund körperlicher, seelischer oder geistiger Krankheit oder Behinderung erforderlich werdenden Hilfe bei der Alltagsgestaltung (vgl. Bender in Gagel, SGB II/III, § 10 Rn. 28 a). Es ist nicht vorgeschrieben, dass ein bestimmter Grad der Pflegebedürftigkeit vorliegen muss. Denkbar wäre auch, dass eine Arbeit mit der Pflege unvereinbar erscheint, wenn ein Angehöriger ohne Pflegestufe (jetzt Pflegegrad) gepflegt wird, wobei die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit allerdings im Grundsatz zumutbar ist, wenn der pflegerische Aufwand so gering ist, dass kein Anspruch auf Leistungen der Pflegekasse besteht (vgl. Hackethal in juris-PK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 10 Rn. 24, Bender in Gagel, a. a. O. § 10 Rn. 28a; Böttiger in Eicher/Luik a. a. O. § 10 Rn. 67). Die Bundesagentur für Arbeit hat für das bis zum 31. Dezember 2016 geltende Pflegeversicherungsrecht in ihren Durchführungsanweisungen (10.14) Richtwerte in Anlehnung an § 15 Abs. 1 und 3 SGB XI definiert, die nach Auffassung des Senats als Orientierungshilfe herangezogen werden können. Danach ist bei der Pflege eines Angehörigen der Pflegestufe II mit einem Zeitaufwand für die Grundpflege von mindestens zwei Stunden täglich eine Arbeit bis zu sechs Stunden pro Tag zumutbar. Diese Vorgabe ist keinesfalls schematisch anzuwenden und entbindet die Behörde nicht von ihrer Amtsermittlungspflicht. Stets sind die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Gerade bei der Pflege von Angehörigen der ehemaligen Pflegestufe II dürfte eine Arbeit im Umfang von sechs Stunden täglich problematisch sein, da bei dieser Pflegestufe der Pflegebedarf definitionsgemäß mindestens dreimal täglich angefallen ist (vgl. § 15 Abs. 1 Nr. 2 SGB XI a. F.).

Entgegen der Auffassung des Beklagten konnte die Pflege der Mutter jedenfalls nicht kurzfristig auf andere Weise sichergestellt werden. In Betracht kommt grundsätzlich die Pflege durch Verwandte, Freunde oder Pflegedienste. Bei der erforderlichen Einzelfallbeurteilung der Sicherstellung einer Pflege durch Dritte ist ebenfalls die Überlegung mit einzubeziehen, ob die Pflegeperson dem zustimmt, denn der zu Pflegende bleibt ein eigenständiges Individuum mit Selbstbestimmungsrecht (vgl. Sander in GK-SGB II, Stand Dezember 2012, § 10 Rn. 50; Bender in Gagel a. a. O, § 10 Rn. 29 mit Verweis auf BSG, Urteil vom 30. März 2000 - B 3 KR 23/99 R -, juris Rn. 17). Vorliegend ist bereits zweifelhaft, ob die Mutter der Klägerin mit einer Pflege durch einen Dritten einverstanden gewesen wäre. Nachvollziehbar ist in der mündlichen Verhandlung nochmals ihre anspruchsvolle Erwartungshaltung und Eigenwilligkeit dargelegt worden. Die Klägerin ist auch deshalb in den vergangenen Jahren ausschließlich für ihre Mutter da gewesen. Beide wohnen bis heute in einem gemeinsamen Haushalt. Für die restlichen Familienmitglieder, die in eigenen Haushalten leben, ist es selbstverständlich, dass die Klägerin ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellt und sich um die Mutter kümmert. Die Geschwister der Klägerin sind darüber hinaus selbst berufstätig und auch deshalb nicht ohne weiteres in der Lage gewesen, die Pflegetätigkeiten der Klägerin zu ersetzen. Selbst wenn die Klägerin ihre Mutter vom Einsatz einer externen Pflegekraft hätte überzeugen können, wären jedenfalls die bestehenden Verständigungsschwierigkeiten nicht ohne weiteres zu überwinden gewesen. Die Mutter der Kläger spricht ausschließlich Arabisch. Der Senat ist nicht überzeugt, dass eine bezahlbare Pflegeperson mit entsprechender Sprachqualifikation kurzfristig hätte gefunden werden können.

Unter Berücksichtigung dieser Umstände war der Klägerin die im August 2013 aufgenommene Vollzeitbeschäftigung als Hallenaufsicht mit maximal 40 Stunden wöchentlich bei variabler Dauer, Lage und Verteilung der Arbeitszeit objektiv unzumutbar. Die Gemeinde L. hat als zuständiger Träger der Sozialhilfe bei der Mutter der Klägerin die Pflegestufe II anerkannt. Das Gesundheitsamt des Beklagten hat bei dieser mit Gutachten vom 13. Mai 2013 einen Grundpflegebedarf von 120 Minuten täglich festgestellt. Der Senat sieht keine Veranlassung, diese Feststellungen, die im Übrigen auch nicht bestritten werden, anzuzweifeln. Laut dem mit der U. geschlossenen Arbeitsvertrag vom 19. August 2013 war die Klägerin verpflichtet, im Schichtsystem und auf Abruf zu arbeiten bei einer Mindestarbeitszeit von vier Stunden täglich. Dabei war die Lage und Dauer der Arbeitszeit der Klägerin erst vier Tage vor dem Einsatz mitzuteilen. Aufgrund dieser Variabilität konnte die für die Pflege der Mutter allein zuständige Klägerin die definitionsgemäß dreimal täglich anfallende Pflege nicht dauerhaft bewerkstelligen. Selbst die Beschäftigungsförderung des Beklagten O. hat die Einschränkungen der Klägerin aufgrund der Pflege der Mutter erkannt und ihr diese bei der weiteren beruflichen Planung entgegengehalten. So ist der Klägerin im Zusammenhang mit dem von ihr geäußerten Wunsch, eine Ausbildung als Flugbegleiterin zu absolvieren, aufgegeben worden, die Vereinbarkeit dieser Tätigkeit mit der Pflege ihrer Mutter zu recherchieren. Darüber hinaus ist ihr im März 2014 eine Informationsveranstaltung für eine betriebliche Ausbildung in Teilzeit angeboten worden, die sich nach dem Inhalt der dazu übersandten Einladung insbesondere an Menschen gerichtet hat, die Kinder betreuen oder Angehörige pflegen.

Der Beklagte kann der Klägerin schließlich nicht mit Erfolg entgegenhalten, dass sie im Zeitpunkt des Abschlusses des Arbeitsvertrages sowohl von der Verpflichtung zur Erbringung ihrer Arbeitsleistung im Schichtsystem (einschließlich Nachtschicht) als auch von der Pflegebedürftigkeit ihrer Mutter Kenntnis gehabt habe. Unabhängig davon, dass die Frage der Zumutbarkeit einer Tätigkeit nach den obigen Ausführungen nach objektiven Maßstäben zu beurteilen ist, muss einem erwerbsfähigen Leistungsberechtigten aufgrund der in § 2 SGB II geregelten Erwerbsobliegenheit die Möglichkeit gegeben werden, die Vereinbarkeit einer Beschäftigung mit der im Wertesystem des SGB II ebenfalls anerkannten Pflege eines Angehörigen auszutesten, ohne sich im Falle des Scheiterns einem Ersatzanspruch auszusetzen. Bei gegenteiliger Sichtweise würden diejenigen Personen, die einen Versuch unternehmen ihre Hilfebedürftigkeit durch Aufnahme einer unzumutbaren Arbeit zu überwinden, im Verhältnis zu denjenigen leistungsberechtigten Personen, die einen Arbeitsversuch von vornherein mit dem Argument der Unzumutbarkeit unterlassen, schlechter gestellt. Das stünde nach Auffassung des Senats im Widerspruch zu den auf Eingliederung in das Arbeitsleben zielenden Wertungen des SGB II.

3) Selbst wenn vorliegend zugunsten des Beklagten eine Bindungswirkung des Grundlagenbescheides vom 9. Mai 2014 bejaht würde, führte das zu keiner anderen Entscheidung. Denn die Durchsetzung des offensichtlich rechtswidrig festgestellten Ersatzanspruchs bedeutete jedenfalls eine Härte i. S. d. § 34 Abs. 1 S. 3 SGB II (in der bis zum 31. Juli 2016 geltenden Fassung), die der Geltendmachung des Anspruchs durch den Bescheid vom 3. Dezember 2015 in der Fassung des Teilabhilfebescheids vom 8. März 2016 und des Widerspruchsbescheids vom 7. März 2016 entgegenstünde. Bei dem Begriff der Härte handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der vollumfänglich durch die Gerichte überprüft werden kann. Das Gesetz ist insoweit offen formuliert. Erforderlich sind besondere Umstände, die die Ersatzpflicht abweichend von der Regel als atypisch erscheinen lassen. Ein in diesem Sinne atypischer Sachverhalt ist nur gegeben, wenn im Einzelfall Umstände vorliegen, die die Geltendmachung der Ersatzpflicht auch mit Rücksicht auf den Gesetzeszweck, den Nachrang der Leistungen nach dem SGB II wiederherzustellen, als unzumutbar und unbillig erscheinen lassen (Stotz in Gagel, a. a. O., § 34 Rn. 60; Silbermann in Eicher/Luik, a. a. O., § 34 Rn. 53; Schwitzky in Münder, SGB II, 6. Auflage § 34 Rn. 25). Unbilligkeit in diesem Sinne liegt nach Auffassung des Senats auch dann vor, wenn der durch einen rechtswidrigen Grundlagenbescheid bestandskräftig festgestellte Ersatzanspruch dem Grunde nach offensichtlich nicht besteht, es mithin im konkreten Einzelfall am Nachrang der Leistungen nach dem SGB II fehlt. Es widerspräche der Wertung des Gesetzes, eine derartige offensichtliche materielle Rechtswidrigkeit eines Grundlagenbescheids im Rahmen der Überprüfung des Höhenbescheids, mit dem zudem noch von der Behörde ausdrücklich etwaige Härtegründe geprüft werden, unberücksichtigt zu lassen, zumal die Behörde über § 44 Abs. 2 SGB X auch von Amts wegen gehalten wäre, einen offensichtlich rechtswidrigen Grundlagenbescheid aufzuheben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision haben nicht vorgelegen.