Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 21.04.2004, Az.: 2 A 211/03

Abschiebungsandrohung; Asyl; Kurde; Syrien

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
21.04.2004
Aktenzeichen
2 A 211/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 50578
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Einzelfall eines jugendlichen, mit einem rosafarbenen Ausweispapier versehenen Kurden aus Syrien; Aufhebung der Bezeichnung von Syrien als Zielstaat der Abschiebungsandrohung.

Tenor:

Der Bescheid des Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 15. April 2003 wird insoweit aufgehoben, das in ihm Syrien als Zielstaat der Abschiebung bezeichnet wird.

Die weitergehende Klage wird abgewiesen.

Der Kläger und die Beklagte tragen jeweils die Hälfte der Verfahrenskosten.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Jeder Beteiligte kann die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe der vollstreckbaren Kostenforderung des jeweils anderen Beteiligten abwenden, wenn nicht dieser zuvor Sicherheit in gleicher Höhe geleistet hat.

Tatbestand:

1

Der Kläger begehrt seine Anerkennung als Asylberechtigter.

2

Er wurde am L. 1986 in M., Syrien, geboren und gehört der kurdischen Nationalität an. Am 17. Januar 2002 reiste er in das Bundesgebiet ein und stellte am 1. März 2002 einen Asylantrag.

3

Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge am 27. März 2002 gab der Kläger an: Er habe die Schule bis zur 9. Klasse besucht; zwischen dem 21. März 2001 und dem 16. November 2001 sei er inhaftiert gewesen; er sei nämlich bei einer Veranstaltung anlässlich des Newroz-Festes bei der er der Haupttänzer gewesen sei (als einziger der Aktiven) festgenommen worden und sei am 16. November 2001 infolge einer Amnestie freigelassen worden; seine beiden Brüder seien bereits infolge politischer Aktivitäten für die kurdische Sache vor ihm in das Gefängnis gekommen und würden sich dort auch jetzt noch befinden; Am 1. Dezember und am 15. Dezember 2001 habe er sich sodann bei dem Chef des Sicherheitsdienstes in M. melden müssen; er sei nach Informationen aus der kurdischen Szene gefragt worden, habe solche aber nicht gegeben; nachdem ihm bei seiner zweiten Vorsprache gedroht worden sei, er würde - wenn er nicht bis Silvester geredet habe - dort hinkommen, wo sein beiden Brüder bereits seien, habe er sein Heimatland ohne Erlaubnis verlassen, indem er zu Fuß über die syrisch-türkische Grenze gegangen und einige Wochen später mit dem Flugzeug von Istanbul nach Hannover geflogen sei.

4

Bei seiner Anhörung legte der Kläger ein rosafarbenes Ausweispapier vor, das am 3. Dezember 2001 von einer Behörde in N. ausgestellt worden ist und dem Kläger (dessen Foto sich auf dem Papier befindet) bescheinigt, dass er zu der Gruppe der staatenlosen Kurden gehört, die bzw. deren Vorfahren im Jahre 1962 bei einer Volkszählung nicht in die Liste der syrischen Staatsbürger eingetragen worden sind. Kopien dieses Papiers befinden sich bei den Verwaltungsvorgängen.

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Mit Bescheid vom 15. April 2003 - zugestellt am 10. Mai 003 - lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigten ab, stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 des AuslG und Abschiebungshindernisse nach § 53 des AuslG nicht vorliegen, forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland binnen eines Monats zu verlassen, und drohte seine Abschiebung nach Syrien an. Der Bescheid wird im Wesentlichen wie folgt begründet: Der Vortrag des Klägers sei insgesamt unglaubhaft; die syrischen Behörden hätten sich ohne weiteres anderweitig Informationen beschaffen können und nicht auf den jugendlichen Kläger, der nicht einmal Mitglied einer Partei gewesen sei, zurückgreifen müssen; im Übrigen würden in Syrien Veranstaltungen, die der Pflege des kurdischen kulturellen Erbes dienten, toleriert. Es gebe allerdings Anhaltspunkt dafür, dass der Kläger staatenloser Kurde sei, dass ihm mithin die Wiedereinreise nach Syrien verweigert würde und Syrien dann nicht mehr der Staat seines gewöhnlichen Aufenthaltsortes wäre; dies könne aber nicht abschließend festgestellt werden; infolge seiner kurdischen Volkszugehörigkeit würde der Kläger keiner Gruppenverfolgung unterliegen; von einer Einreise auf dem Luftweg könne hingegen ausgegangen werden, da der Kläger Jugendlicher sei; Anhaltspunkte für das Vorliegen von Abschiebungshindernissen im Sinne von § 53 AuslG bestünden nicht.

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Der Kläger hat am 19. Mai 2003 Klage erhoben.

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Er beantragt sinngemäß,

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den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 15. April 2003 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen sowie festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG, hilfsweise Abschiebungshindernisse gem. § 53 AuslG vorliegen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

11

Sie bezieht sich auf die Gründe des angefochtenen Bescheides.

12

Der Beteiligte hat sich nicht zu Sache geäußert und stellt keinen Antrag.

13

Das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung auf den Beschluss vom gleichen Tage Beweis erhoben über das Verfolgungsschicksal des Klägers durch Vernehmung des Klägers als Beteiligten. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

14

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze und auf die Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge sowie des Landkreises Northeim Bezug genommen. Die Unterlagen waren ebenso Gegenstand der mündlichen Verhandlung wie die Erkenntnismittel, die sich in der Erkenntnismittelliste des Gerichts für das Land Syrien (Stand: aktuell) befinden.

Entscheidungsgründe

15

Die zulässige Klage ist nur zu einem geringen Teil begründet.

16

Nach Art. 16 a Abs. 1 des Grundgesetzes (in der Fassung des Gesetzes vom 16. Juli 1998, BGBl. I S. 1822) - GG - genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Als Träger dieses Grundrechts wird nach Maßgabe des Asylverfahrensgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Juli 1993 (BGBl. I S. 1361) - AsylVfG - auf Antrag jeder Ausländer anerkannt, der für seine Person die aus bestimmten Tatsachen begründete Furcht vor Verfolgung, insbesondere wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung hegen muss. Dabei setzt das Asylgrundrecht von seinem Tatbestand her grundsätzlich den kausalen Zusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht voraus. Für die Beurteilung, ob ein Asylsuchender politisch Verfolgter ist, gelten deshalb unterschiedliche Maßstäbe je nachdem, ob er seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt ausgereist ist. Ist der Asylsuchende wegen bestehender oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung ausgereist und war ihm auch ein Ausweichen innerhalb seines Heimatstaates unzumutbar, so ist ihm die Rückkehr nur dann zuzumuten, wenn eine Wiederholung der Verfolgungsmaßnahmen mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist; hierfür ist erforderlich, dass objektive Anhaltspunkte einen Übergriff als nicht ganz entfernt und damit als durchaus reale Möglichkeit erscheinen lassen (BVerwG, Urt. v. 8. September 1992 - 9 C 62.91 -, NVwZ 1993, 191 m.w.N.). Hat der Asylsuchende hingegen seinen Heimatstaat unverfolgt verlassen, so kann ihm nur dann Asylrecht gewährt werden, wenn ihm aufgrund beachtlicher Nachfluchttatbestände politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht; dies ist der Fall, wenn bei Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen (BVerwG, Urt. v. 15. März 1988 - 9 C 278.86 -, BVerwGE 79, 143, 151). Ein subjektiver (selbst geschaffener) Nachfluchtgrund ist dabei nur dann von Bedeutung, wenn er sich als Ausdruck und Fortführung einer schon im Heimatstaat vorhandenen und erkennbar betätigten festen Überzeugung darstellt und sich der Ausländer beim Verlassen seines Heimatstaates in einer latenten Gefährdungslage befunden hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 17. Januar 1989 - 9 C 56.88 -, DVBl. 1989, 722).

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Nach § 51 Abs. 1 des Ausländergesetzes vom 09.07.1990 (BGBl. I S. 1354, 1356) - AuslG - darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Der Anwendungsbereich der Vorschrift deckt sich mit demjenigen des Art. 16 a Abs. 1 GG, soweit es die Verfolgungshandlung, das geschützte Rechtsgut und den politischen Charakter der Verfolgung betrifft (vgl. BVerwG, Urt. v. 18.01.1994 - 9 C 48.92 -, DVBl. 1994, S. 531). Dagegen verlangt sie u.a. keinen Zusammenhang zwischen Verfolgung und Flucht und ist deshalb etwa auch einschlägig, wenn die Anerkennung als asylberechtigt wegen subjektiver Nachfluchtgründe nicht möglich ist.

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Nach § 53 Abs. 1, 2 und 4 AuslG darf ein Ausländer nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem für ihn die konkrete Gefahr besteht, der Folter unterworfen zu werden, wenn dieser Staat den Ausländer wegen einer Straftat sucht und die Gefahr der Todesstrafe besteht und soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II, S. 685, 953) ergibt, daß die Abschiebung unzulässig ist. § 53 Abs. 6 AuslG bestimmt schließlich, daß von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden kann, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht; Gefahren in diesem Staat, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, werden bei Entscheidungen der obersten Landesbehörden nach § 54 AuslG berücksichtigt.

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Der Kläger kann weder als Asylberechtigter anerkannt werden noch kann ihm Abschiebungsschutz im Sinne von § 51 Abs. 1 AuslG gewährt werden, weil Syrien - allein auf bereits geschehene und ihm auch in Zukunft drohende politische Verfolgung durch diesen Staat beruft er sich - nicht mehr das Land seinen gewöhnlichen Aufenthaltes ist. Es ist gerichtsbekannt, das im Norden Syriens ca. 120.000 bis 150.00 Kurden (rund 1/10 der kurdischen Gesamtbevölkerung Syriens) leben, die bzw. deren Vorfahren im Jahre 1962 ausgebürgert worden sind. Ihnen werden rosafarbene, etwa DIN A 5 große Ausweispapiere ausgestellt, die sie nur im Land selbst verwenden können und die den syrischen Staatsbürgern ausgestellte Personalausweise ersetzen (vgl. Auswärtiges Amt, Länderberichte Syrien vom 21. September 2001, 19. März 2002, 7. Oktober 2002; deutsches Orientinstitut, Auskunft vom 1. Oktober 2001 an das VG Saarlouis sowie vom 27. Januar 2003 an das VG Wiesbaden). Der Kläger hat bereits bei der Asylantragsstellung ein derartiges Ausweispapier vorgelegt, welches am 3. Dezember 2001 (also einige Wochen vor seiner Ausreise aus Syrien) ausgestellt worden ist. Das Gericht hat keine Zweifel daran, dass dieses Papier echt ist. Es hat sich wesentliche Teile seines Inhalts in der mündlichen Verhandlung von der Dolmetscherin übersetzen lassen. Diese stimmen mit den Angaben des Klägers vollständig überein. Fälschungsmerkmale sind nicht festgestellt (und von der Beklagten auch nicht behauptet) worden. Im Übrigen hat der Kläger bei seiner Vernehmung in der mündlichen Verhandlung eindrucksvoll geschildert, wie umständlich es für Ihn gewesen ist, an dieses Papier zu gelangen, und wie die Lebensverhältnisse der als staatenlos geltenden Kurden im Norden Syriens sich gestalten. Das Gericht hält sein Vorbringen also - jedenfalls insoweit - für glaubhaft.

20

Die Ausbürgerung des beschriebenen Personenkreises durch den syrischen Staat stellte jedoch keine politische Verfolgung dar (auf die sich der Kläger - quasi nachwirkend - heute noch berufen könnte); das Gericht stellt gem. § 77 Abs. 2 AsylVfG fest, dass es insoweit dem ausführlich und zutreffend begründeten Bescheid des Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 15. April 2003 folgt (vgl. auch OVG Lüneburg, Urteil vom 27. März 2001 - 2 L 2505/98 -). Da ihm andererseits die Wiedereinreise durch den syrischen Staat verwehrt wird, ist Syrien nicht mehr das Land seines gewöhnlichen Aufenthalts (vgl. auch insoweit OVG Lüneburg, Urteil vom 27. März 2001, a. a. O). Dieser Staat scheidet somit asylrechtlich als Verfolgerstaat aus. Da der Kläger von keinem anderen Staat verfolgt sein will, kann er weder als Asylberechtigter anerkannt noch kann ihm Abschiebungsschutz gem. § 51 Abs. 1 AuslG gewährt werden.

21

Da nach dem soeben Ausgeführten weder die Abschiebung des Klägers nach Syrien noch seine freiwillige Ausreise dort hin möglich erscheint, verzichtet das Gericht auf die Prüfung von Abschiebungshindernissen im Sinne von § 53 AuslG in Bezug auf Syrien (vgl. zu dieser Problematik BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2003 - 1 C 21.02 - NVZ 2004, S 352).

22

Die in dem angefochtenen Bescheid enthaltene Abschiebungsandrohung ist rechtmäßig. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in §§ 34 Abs. 1, 38 Abs. 1 AsylVfG i. V. m. § 50 AuslG. Allerdings ist die Bezeichnung von Syrien als Zielstaat in der Abschiebungsandrohung aufzuheben, da feststeht, dass - wie oben ausgeführt - eine zwangsweise Abschiebung und eine freiwillige Ausreise des Klägers nach Syrien auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen ist (vgl. auch insoweit BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2003, a. a. O.) Das Gericht stellt klar, dass damit nicht die Staatenlosigkeit des Klägers im Sinne des Staatenlosenübereinkommens festgestellt ist, denn es ist nicht sicher (aber für den vorliegenden Fall auch nicht entscheidungserheblich), dass der Kläger nicht etwa von der Türkei oder vom Irak als Staatsangehöriger beansprucht wird (zur Beweiskraft des auch von dem Kläger vorgelegten Ausweispapiers für diese Frage vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 5. November 2003 - 2 LA 290/03 - AuAS 2004, Seite 52).

23

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 83 b Abs. 2 Satz 1 AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.