Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 28.04.2004, Az.: 2 A 313/03
Eltern; Erfolgsaussicht; Erstattung; Erstattungsanspruch; Erstattungsberechtigter; Geltendmachung; Hilfe zum Lebensunterhalt; Interessenwahrung; Interessenwahrungsgrundsatz; Klage; Pflichtverletzung; Prozesskostenhilfe; Rechtswahrungsanzeige; Sozialhilfe; Sozialhilfeträger; Träger der Sozialhilfe; Umzug; Unterhalt; Unterhaltsanspruch; Unterhaltsprozess
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 28.04.2004
- Aktenzeichen
- 2 A 313/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 51034
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 107 Abs 1 BSHG
- § 111 Abs 1 BSHG
- § 91 Abs 1 BSHG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Ein erstattungsberechtigter Sozialhilfeträger verstößt nicht gegen den aus § 111 Abs. 1 BSHG folgenden Interessenwahrungsgrundsatz, wenn er es unterlässt, Unterhaltsansprüche des Hilfeempfängers zu verfolgen, für deren Durchsetzung in einem etwaigen Unterhaltsprozess nicht mindestens hinreichende Erfolgsaussichten bestehen.
Tenor:
Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin für K. L. in der Zeit vom 1. Oktober 2000 bis zum 31. März 2002 aufgewendete Sozialhilfekosten in Höhe von 2.504,34 Euro nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz der EZB seit dem 6. August 2003 zu erstatten.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 2.600,00 Euro vorläufig vollstreckbar.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.504,34 Euro festgesetzt.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Frage, ob der Beklagte der Klägerin Kosten zu erstatten hat, die dieser im Zeitraum vom 1. Oktober 2000 bis zum 31. März 2002 an Hilfe zum Lebensunterhalt für den am M. 1970 geborenen K. L. aufgewandt hat.
K. L. studierte zunächst erfolglos in N. Energietechnik, erhielt von der namens und im Auftrag des Beklagten handelnden Stadt C. seit 1998 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt und versuchte in der Folgezeit, eine Naturheilkundeprüfung abzulegen. Zum 13. September 2000 verzog er von C. nach A., weil er annahm, dass er in O. größere Chancen habe, die Wiederholungsprüfung zu bestehen, lebte dort mit seiner Freundin in einem Wohnwagen in einer Wagenburg und bemühte sich um Arbeit in Bereich der Behindertenbetreuung. Die Klägerin gewährte ihm zwischen dem 1. Oktober 2000 und dem 31. März 2002 laufende Hilfe zum Lebensunterhalt.
Nachdem die Stadt C. bereits unter dem 28. September 2000 ihre Kostenerstattungsverpflichtung der Klägerin gegenüber dem Grunde nach anerkannt hatte, forderte die Klägerin mit Schreiben vom 30. August 2001 Kostenerstattung in Höhe von insgesamt 7.144,62 Euro. Die Stadt C. erstattete jedoch nur 4.640,28 Euro und verweigerte die Erstattung des Restbetrages (in Höhe von 2.504,34 Euro), weil die Klägerin es versäumt habe, von den Eltern des Herrn L. aufgrund übergegangenen Rechts Unterhalt in dieser Höhe zu verlangen. Sie bezog sich darauf, dass sie bereits im Jahre 1998 ermittelt habe, dass die Eltern des Herrn L. aufgrund ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse Unterhalt in Höhe von monatlich 139,13 Euro zahlen könnten.
Die Klägerin hat am 5. August 2003 Klage erhoben. Sie trägt vor: Der aus § 107 BSHG folgende Kostenerstattungsanspruch stehe ihr in voller Höhe zu; sie habe nicht den sich aus § 111 BSHG ergebenden Interessenwahrungsgrundsatz verletzt, indem sie den Eltern von K. L. keine Rechtswahrungsanzeige nach § 91 Abs. 3 Satz 1 BSHG zugestellt habe; nach § 1602 BGB sei nämlich nur derjenige zum Unterhalt berechtigt, der außer Stande sei, sich selbst zu unterhalten, was auf einen gesunden 30-jährigen Mann - auch ohne abgeschlossene Ausbildung - keinesfalls zutreffe; die zivilrechtlichen Anforderungen an die Arbeitsbemühungen würden weit über das hinausgehen, was der Sozialhilfeträger nach den Bestimmungen des BSHG von einem Arbeitslosen verlangen könne.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Beklagten zu verurteilen, ihr für K. L. in der Zeit vom 1. Oktober 2000 bis zum 31. März 2002 aufgewendete Sozialhilfekosten in Höhe von 2.504,34 Euro nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz der EZB seit dem 6. August 2003 zu erstatten.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er macht geltend: Die Klägerin habe im Sinne von § 111 Abs. 1 BSHG rechtswidrig gehandelt, indem sie es unterlassen habe, den vorrangigen Unterhaltsanspruch des Hilfeempfängers gegen seine Eltern geltend zu machen; der Klägerin werde allerdings ausdrücklich zugestanden, Herrn L. in Anwendung von §§ 18, 25 BSHG in ausreichendem Maße zur Arbeitssuche und Arbeitsleistung angehalten zu haben; K. L. habe sich auch schon seit Beginn des Sozialhilfebezuges im Jahr 1998 vergeblich um Arbeit bemüht; zudem sei eine unzureichende Arbeitssuche bei fehlender Beschäftigungschance wegen schlechter Arbeitsmarktlage und fehlender Qualifikation unschädlich; die Erwägungen der Klägerin, die Eltern des Betreffenden wegen dort angenommener fehlender Erwerbsbemühungen gar nicht erst bzgl. ihrer Unterhaltsfähigkeit zu überprüfen seien mithin unzutreffend gewesen und würden den Interessenwahrungsgrundsatz zu Lasten des Beklagten verletzen.
Die Beteiligten haben übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen Ihnen gewechselten Schriftsätze und auf die Verwaltungsvorgänge der Klägerin und der Stadt C. Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Beratung.
Entscheidungsgründe
Die Klage, über die die Kammer im Einverständnis der Beteiligten gem. § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist zulässig und begründet.
Gem. § 107 Abs. 1 BSHG ist, wenn eine Person vom Ort ihres bisherigen gewöhnlichen Aufenthaltes verzieht, der Träger der Sozialhilfe des bisherigen Aufenthaltsortes verpflichtet, dem nunmehr zuständigen örtlichen Träger der Sozialhilfe die dort erforderlich werdende Hilfe außerhalb von Einrichtungen im Sinne von § 97 Abs. 2 Satz 1 BSHG zu erstatten, wenn die Person innerhalb eines Monats nach dem Aufenthaltswechsel der Hilfe bedarf. Diese Verpflichtung endet gem. § 107 Abs. 2 Satz 2 des Gesetzes spätestens nach Ablauf von zwei Jahren seit dem Aufenthaltswechsel, Nach § 111 Abs. 1 BSHG sind die aufgewendeten Kosten zu erstatten, soweit die Hilfe diesem Gesetz entspricht, wobei die Grundsätze für die Gewährung von Sozialhilfe gelten, die am Aufenthaltsort des Hilfeempfängers zurzeit der Hilfegewährung bestehen.
§ 111 Abs. 1 BSHG will rechtswidrig gewährte Sozialhilfeleistungen von der Erstattungspflicht ausnehmen. Das ist etwa dann der Fall, wenn unberechtigte Nachzahlungen erfolgt sind, der Einkommens- und Vermögenseinsatz nicht gefordert wurde, auf Überleitungsanzeigen oder Erstattungsansprüche verzichtet wurde oder soweit Leistungen freiwillig, also ohne gesetzliche Grundlage gewährt wurden. Die Rechtsprechung hat ferner aus dieser Vorschrift den sog. Interessenwahrungsgrundsatz herausgearbeitet: Danach hat der erstattungsberechtigte Sozialhilfeträger alle nach Lage des Einzelfalles zumutbaren und möglichen Maßnahmen und Vorkehrungen zu treffen, die erforderlich sind, um die erstattungsfähigen Kosten möglichst niedrig zu halten (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 16. Januar 2002 - 4 L 4201/00 -, FEVS 54, Seite 171); sonst handelt er rechtswidrig. Diese „Haftung“ des erstattungsberechtigten Sozialhilfeträgers für rechtswidriges Verhalten bringt es mit sich, dass er auch das Risiko der Unaufklärbarkeit eines Geschehensablauf zu tragen hat - wenn also nicht feststellbar ist, was geschehen wäre, wenn der Rechtsverstoß nicht erfolgt wäre (vgl. dazu Mergler/Zink, BSHG, § 111, Anm. 10 a). Denn zum einen stellt es einen allgemeinen Rechtsgrundsatz dar, dass derjenige, der einen Anspruch erhebt, die materielle Beweislast für das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen trägt; zum anderen darf nicht außer acht gelassen werden, dass der erstattungspflichtige Träger regelmäßig keinen Einfluss auf das Verhalten des erstattungsberechtigten Trägers hat. Der Beklagte wirft der Klägerin hier ausschließlich vor, sie habe es zu Unrecht unterlassen, (gem. § 2 BSHG vorrangige und gem. § 91 Abs. 1 BSHG auf sie übergegangene) Unterhaltsansprüche des Hilfeempfängers gegen seine Eltern geltend zu machen und durchzusetzen. Dieser Einwand greift nicht durch; mithin ist der Beklagte zur Erstattung der gesamten von der Klägerin geltend gemachten Kostenforderung verpflichtet.
Die Klägerin hat (ebenso wie zuvor schon die Stadt C. selbst) zurecht davon abgesehen, einen Unterhaltsanspruch des Herrn K. L. gegen seine Eltern gerichtlich geltend zu machen. Das Gericht stellt zunächst klar, dass es nur darauf ankommt und nicht etwa auf den Erlass einer sog. Rechtswahrungsanzeige im Sinne von § 91 Abs. 3 Satz 1 BSHG. Die Rechtswahrungsanzeige bewirkt rechtlich gesehen nur, dass später ggf. Unterhalt auch für die Vergangenheit gefordert werden kann. Dass sie darüber hinaus tatsächlich gelegentlich bewirkt, dass der Empfänger einer solchen Anzeige von sich aus Unterhaltsleistungen erbringt, wenn er rechtlich dazu nicht verpflichtet ist, ist ohne Bedeutung, denn § 111 Abs. 1 BSHG sanktioniert nur rechtswidriges Verhalten. Geht es um die gerichtliche Geltendmachung vorrangiger Ansprüche, so verletzt der erstattungsberechtigte Sozialhilfeträger den Interessenwahrungsgrundsatz nur dann, wenn hinreichende Erfolgsaussichten für den Erfolg einer solchen Klage bestehen. Die Kammer hält es für angebracht, hier den gleichen Maßstab anzuwenden, wie ihn § 114 Abs. 1 ZPO für die Gewährung von Prozesskostenhilfe vorsieht; denn ein das Prozesskostenrisiko tragender, zum sparsamen Umgang mit öffentlichen Mitteln verpflichteter Sozialhilfeträger ist ebenso zu behandeln, wie eine arme Partei, der mit öffentlichen Mitteln ermöglicht werden soll, einen Prozess zu führen (ähnliche Kostenerwägungen für beachtlich haltend: “Empfehlungen des Deutschen Vereins für die Heranziehung Unterhaltspflichtiger in der Sozialhilfe, NDV 2002, 161, 163 Anm. 35). Hinreichende Erfolgsaussichten für einen Unterhaltsprozess gegen die Eltern des Herrn L. bestanden jedoch - wie mittlerweile auch die Klägerin dargelegt hat - nicht. Es trifft nämlich zu, dass die Rechtsprechung der ordentlichen Gerichte in Unterhaltssachen erwachsenen, gesunden, arbeitsfähigen Kindern Unterhaltsansprüche gegen ihre Eltern aus § 1602 BGB nur in wenigen Ausnahmefällen zuspricht. Solche sind nur gegeben, wenn ein derartiges Kind nicht im Stande ist, irgendeine Arbeit zu bekommen, die durchaus unterhalb der erstrebten oder bisher gehabten Lebensstellung liegen wobei durchaus auch ein Ortswechsel in Betracht zu ziehen ist (vgl. etwa BGH, Urteil vom 3. April 1985 - IV b ZR 14/84 - FamRZ 1985, Seite 1245 [BGH 03.04.1985 - IVb ZR 14/84]; OLG Zweibrücken, Urteil vom 14. Dezember 1982 - 6 WF 181/82, FamRZ 1983, Seite 291; OLG Köln, Beschluss vom 23. Januar 1986 - 4 WF 11/86 -, NJW - RR 1986, Seite 1454). In der Tat bestehen - worauf auch beide Beteiligte hinweisen - erhebliche Unterschiede zu dem, was sozialhilferechtlich an Einsatz der Arbeitskraft verlangt werden kann (vgl. etwa BSG, Urteil vom 13. Juni 1985 - 7 RAr 93/84 -, FamRZ 1985, Seite 1251). Da der Hilfeempfänger in dem streitbefangenen Zeitraum offenbar keinerlei Anstrengungen unternommen hat, außerhalb der Bereiche Naturheilkunde und Behindertenbetreuung - für die er sich wohl besonders interessierte - und außerhalb von A. Arbeit zu suchen, war und ist die Einschätzung der Klägerin, ein Unterhaltsprozess gegen die Eltern des Hilfeempfängers sei eher wenig erfolgversprechend, nicht von der Hand zu weisen. Immerhin hat die Stadt C. in dem Zeitraum zwischen 1998 und 2000 (in dem sie Herrn L. Hilfe zum Lebensunterhalt gewährt hat) die Sache ebenso eingeschätzt.
Der Zinsanspruch ist aus § 291 i. V. m. § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB begründet (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2001 - 5 C 34.00 -, DVBl 2001, Seite 1067).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 709 ZPO.