Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 27.04.2004, Az.: 3 A 519/03
Misshandlungen; Unzumutbarkeit; Widerruf
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 27.04.2004
- Aktenzeichen
- 3 A 519/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 50582
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 73 Abs 1 S 3 AsylVfG
Tenor:
Der Bescheid des K. vom 18.11.2003 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des gegen sie festzusetzenden Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
Der Kläger ist serbisch-montenegrinischer Staatsangehöriger moslemischen Glaubens aus L. im Kosovo. Er reiste im September 1992 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte seine Anerkennung als Asylberechtigter. Diesen Antrag lehnte das F. mit Bescheid vom 29.07.1994 ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Der Kläger wurde unter Fristsetzung und Abschiebungsandrohung zur Ausreise aufgefordert. Auf die gegen diesen Bescheid erhobene Klage verpflichtete das Verwaltungsgericht Göttingen die Beklagte durch Urteil vom 14.11.1995 - 3 A 3215/95 -, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, dass in seinem Fall die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1, 53 Abs. 1 und 4 AuslG vorliegen. Das Urteil wurde mit einer individuellen Verfolgung des Klägers wegen seiner albanischen Volkszugehörigkeit im Kosovo begründet und rechtskräftig. Mit Bescheid vom 14.12.1995 kam das Bundesamt der ausgesprochenen Verpflichtung nach.
Mit Verfügung vom 14.05.2002 leitete das Bundesamt ein Widerrufsverfahren ein und hörte den Kläger mit Schreiben vom 23.08.2002 zum beabsichtigten Widerruf der Asylanerkennung und der getroffenen Feststellung zu § 51 Abs. 1 AuslG an. Mit Schreiben vom 02.09.2002 führte der Kläger aus, er habe durch den Krieg im Kosovo alles verloren und sich in Deutschland eine neue Heimat aufgebaut. Da seine Frau und er schon im Seniorenalter seien, falle es ihnen schwer, an einen Neuanfang in der ehemaligen Heimat zu denken. Außerdem seien beide in ärztlicher Behandlung. Hierzu legte der Kläger eine ärztliche Bescheinigung vom 30.08.2002 vor, wonach er an einem malignen Hypertonus und beiderseitigen Schrumpfnieren leide. Mit Bescheid vom 18.11.2003, zugestellt am 03.12.2003, widerrief das Bundesamt die mit Bescheid vom 14.12.1995 ausgesprochene Anerkennung als Asylberechtigter sowie die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG und Abschiebungshindernisse gemäß § 53 Abs. 1 und 4 AuslG vorliegen. Gleichzeitig wurde festgestellt, dass andere Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Die Entscheidung wurde maßgeblich auf die geänderte Situation im Kosovo gestützt.
Hiergegen hat der Kläger am 18.12.2003 Klage erhoben, zu deren Begründung er sich auf sein Vorbringen im Widerrufsverfahren beruft.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des K. vom 18.11.2003 aufzuheben,
hilfsweise, unter Aufhebung des Bescheides des K. vom 18.11.2003, soweit er dem entgegen steht, die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass im Fall des Klägers Abschiebungshindernisse gem. § 53 AuslG vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie verteidigt den angegriffenen Bescheid.
Der Beteiligte hat sich zur Sache nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.
Nach Anhörung der Beteiligten hat die Kammer den Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die den Beteiligten vorab übersandte Erkenntnismittelliste, die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des K. Bezug genommen. Die Unterlagen sind Gegenstand der Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige und auch sonst statthafte Klage ist mit dem Hauptantrag begründet. Der angefochtene Widerrufsbescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 18.11.2003 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Das Bundesamt hat den angefochtenen Bescheid zu Unrecht auf die - gegenüber den allgemeinen Normen der §§ 48, 49 VwVfG spezielle (Bay. VGH, Beschluss vom 01.12.1998 - 24 B 98. 31324 - S. 6 f.; VG Göttingen, Urteil v. 25.01.1999 - 3 A 3244/97 -; vgl. im Ergebnis ebenso: BVerwG, Beschluss vom 27.06.1997 - 9 B 280/97 -, NVwZ-RR 1997, 741) - Aufhebungsvorschrift des § 73 AsylVfG gestützt.
Gemäß § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG ist von einem Widerruf abzusehen, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um eine Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Die aus Art. 1 C Nr. 5 Abs. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention - GK - übernommene Formulierung setzt voraus, dass der Ausländer verfolgungsbedingte Gründe benennt, welche die Rückkehr objektiv unzumutbar erscheinen lassen. Einer Abschiebung steht Art. 1 C Nr. 5 Abs. 2 GK selbst dann entgegen, wenn der Ausländer in seinem Heimatstaat gegenwärtig (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG) vor erneuter Verfolgung hinreichend sicher ist; „zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe" würden ihm auch dann noch zur Seite stehen. Denn diese Bestimmung setzt - wie die wortgleiche Vorschrift des § 73 Abs. 1 S. 3 Asyl-VfG - den Wegfall der Schutzbedürftigkeit des Flüchtlings voraus, da sie ansonsten überflüssig wäre. Die GK, der die Bundesrepublik Deutschland nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG durch Bundesgesetz zugestimmt hat, ist unmittelbar anwendbares Recht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 04.06.1991 - 1 C 42.88 -, BVerwGE 88, 254) führt die Transformation eines völkerrechtlichen Vertrages durch ein Zustimmungsgesetz zur unmittelbaren Anwendbarkeit einer Vertragsnorm, wenn sie nach Wortlaut, Zweck und Inhalt geeignet und hinreichend bestimmt ist, wie eine innerstaatliche Vorschrift rechtliche Wirkung zu entfalten, dafür also keiner weiteren normativen Ausfüllung bedarf. Diese Voraussetzungen liegen bei den Vorschriften der GK vor (ebenso VG Karlsruhe, Urteil vom 18.05.1998 - A 12 K 10192/98 -, NVwZ 1998, Beilage Nr. 10, S. 111 [BSG 18.03.1997 - 2 RU 22/96]). Die „zwingenden, auf früheren Verfolgungen beruhenden Gründe" setzen also voraus, dass einerseits trotz einer Vorverfolgung des Ausländers die Grundlagen des ihm gewährten Abschiebungsschutzes infolge einer nunmehr hinreichenden Sicherheit vor erneuter Verfolgung entfallen sind, andererseits aber die Schwere der Vorverfolgung und die dabei verursachten Beeinträchtigungen trotz der Änderung der Verhältnisse im Herkunftsstaat und des Zeitablaufs wegen der damit verbundenen besonderen Belastungen für schwerwiegend Verfolgte die Rückkehr unzumutbar machen. Darum ist auch zu § 73 Abs. 1 S. 3 AsylVfG anerkannt, dass bei früheren Verfolgungen erlittene physische oder psychische Schäden dem Widerruf einer Asylanerkennung entgegenstehende "zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe" sein können (vgl. Nds.OVG, Urteil vom 28.06.2002 - 8 LB 10/02 -, S. 25; Beschluss vom 29.08.2002 - 8 LA 3384/01 -; Hess.VGH, Beschluss vom 28.05.2003 - 12 ZU 2805/02.A -, InfAuslR 2003, 400; VG Karlsruhe, Urteil vom 16.01.1998 - A 12 K 11755/97 -).
Nach diesen Grundsätzen dürfen die im Falle des Klägers getroffene Asylanerkennung und die Feststellungen zu §§ 51 Abs. 1, 53 Abs. 1 und 4 AuslG nicht widerrufen werden. Das erkennende Gericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass albanische Volkszugehörige aufgrund der UN-Verwaltung des Kosovo in dieser Region nicht mehr politisch verfolgt werden (vgl. z.B. Urteil vom 17.03. 2004 - 3 A 3509/02 -). Der Einzelentscheider des Bundesamtes konnte zwar nicht erkennen, dass der Kläger noch heute erheblich psychisch unter den durch die Polizei vor mehr als 10 Jahren erlittenen Drohungen und Misshandlungen leidet, weil in seiner Anhörung keine diesbezüglichen Angaben gemacht hat; wegen § 77 Abs. 1 AsylVfG kommt es auf den Zeitpunkt der Angaben jedoch nicht an. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger vorgetragen, dass er im Gewahrsam der serbischen Polizei Misshandlungen, Demütigungen und Drohungen gegen Angehörige erlitten hat. Sein glaubhaftes Vorbringen zu seinem Verfolgungsschicksal war Grundlage des rechtskräftigen Urteils des VG Göttingen vom 14.11.1995 - 3 A 3215/95 -, nach dessen tragenden Gründen der Kläger wegen seines Engagements für die albanische Sache von jugoslawischen Sicherheitskräften wiederholt festgehalten, verhört und erheblich misshandelt wurde. Das Gericht zweifelt nicht daran, dass seine Angstzustände, Schlafstörungen und Alpträume, beispielsweise ausgelöst durch eine Polizeikontrolle in Deutschland und Medienberichten über Ausschreitungen im Kosovo, in einer unmittelbaren ursächlichen Beziehung zu der erlittenen Vorverfolgung stehen. Deshalb kann sich der Kläger mit Erfolg auf die Ausnahmevorschrift des § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG berufen, so das ihm weiterhin Asyl und Abschiebungsschutz nach §§ 51 Abs. 1, 53 Abs. 1 und 4 AuslG zu gewähren ist. Über den Hilfsantrag braucht unter diesen Voraussetzungen nicht mehr entschieden zu werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b Abs. 1 AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.