Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 28.01.1998, Az.: 2 U 263/97
Verpflichtung eines Fußgängers zur Benutzung eines unbefestigten Grünstreifens außerhalb einer geschlossenen Ortschaft; Verstoß gegen das Sichtfahrgebot und Fahren trotz Müdigkeit und Alkoholbeeinflussung; Gehen der Fußgänger auch bei Dunkelheit außerhalb geschlossener Ortschaften am linken Fahrbahnrand; Obliegenheit eines besonnenen Fußgängers bei Dunkelheit des Rechnens mit dem nicht rechtzeitigen Erkennen und nicht ausreichenden Ausweichen durch den Fahrzeugführer; Erleiden eines schweren Schädel-Hirntraumas mit zunächst schwersten hirnorganischen Leistungseinbußen durch den Verkehrsunfall; Verbleiben von wesensändernden Dauerschäden und Minderung der Erwerbsfähigkeit
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 28.01.1998
- Aktenzeichen
- 2 U 263/97
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1998, 28913
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:1998:0128.2U263.97.0A
Rechtsgrundlagen
- § 3 Abs. 1 S. 4 StVO
- § 254 Abs. 1 BGB
- § 25 Abs. 1 S. 3, 4 StVO
- § 2 Abs. 1 S. 2 StVO
Fundstelle
- OLGReport Gerichtsort 1998, 256-258
Amtlicher Leitsatz
1. Keine Verpflichtung eines Fußgängers zur Benutzung unbefestigten Grünstreifens außerhalb einer geschlossenen Ortschaft.-2. 150.000,-- DM Schmerzensgeld bei Schädel-Hirntrauma mit schwersten Folgen.
Gründe
Der Beklagte zu 1) hat den Verkehrsunfall verschuldet. Er hat insbesondere gegen das aus § 3 Abs. 1 Satz 4 StVO folgende Sichtfahrgebot verstoßen; daneben ist der Unfall auch darauf zurückzuführen, dass der Beklagte zu 1) auf Grund der bei ihm vorhandenen Müdigkeit und Alkoholbeeinflussung in seiner Reaktionsfähigkeit eingeschränkt gewesen ist. ..
Der Kläger muss sich auf seinen Anspruch kein Mitverschulden gemäß § 254 Abs. 1 BGB anrechnen lassen. Gemäß § 25 Abs. 1 Satz 3 und 4 StVO dürfen Fußgänger auch bei Dunkelheit außerhalb geschlossener Ortschaften am linken Fahrbahnrand gehen. Es steht nicht fest, dass der Kläger auf der falschen Fahrbahnseite gegangen ist. Ebenso wenig kann festgestellt werden, dass er sich nicht am Fahrbahnrand aufgehalten hat....
Entgegen der Auffassung der Berufung kann dem Kläger jedoch auch nicht vorgeworfen werden, dass er sich nicht weiter aus seiner Sicht nach links auf den befestigten Seitenstreifen oder auf die sich daran anschließende unbefestigte Grünfläche begeben hat. Von einem Fußgänger, der sich am Rand einer unbeleuchteten Straße bewegt, ist nicht allgemein zu verlangen, dass er bei Annäherung eines Kraftfahrzeugs die Fahrbahn verlässt und an der Seite das Vorbeifahren des Fahrzeugs abwartet. Etwas anderes gilt allerdings im Fall erkennbarer Gefährdung. Besteht eine solche, kann unter Umständen eine Pflicht zum Ausweichen auf eine Fläche neben der Fahrbahn begründet sein (BGH DAR 1960, 72; BGH VersR 1962, 1086; BGH VersR 1968, 1093; BGH VersR 1972, 258). ...
Wie das Landgericht ... festgestellt hat, kann der Kollisionsort zur Fahrbahnquerrichtung nicht genau ermittelt werden. ... Nicht auszuschließen ist danach insbesondere, dass der Kläger auf der Fahrbandrandmarkierung entlang gegangen ist oder sich sogar auf dem gut 0,5 m breiten befestigten Seitenstreifen aufgehalten hat. Ebenso wenig ist auszuschließen, dass der Beklagte zu 1) mit den rechten Rädern seines Fahrzeugs den Seitenstreifen befahren hat. Daraus folgt, dass ein den eingetretenen Schaden minderndes oder ausschließendes Verhalten des Klägers nur vorgelegen hätte, wenn dieser sich neben den befestigten Seitenstreifen auf den daran anschließenden Grünstreifen, der schließlich in einen Graben übergeht, begeben hätte.
Eine derartige Obliegenheit des Klägers hat jedoch nicht bestanden. Zwar muss ein besonnener Fußgänger bei Dunkelheit außerhalb einer geschlossenen Ortschaft unter Umständen damit rechnen, dass ein Fahrzeugführer ihn nicht rechtzeitig erkennt und nicht ausreichend ausweicht, wenn er - der Fußgänger - auf der linken Fahrbahnseite läuft (BGH VersR 1972, 258, 260). Sollte der Kläger sich hier jedoch auf dem befestigten Seitenstreifen aufgehalten haben, hätte er sich bereits nicht mehr am Fahrbahnrand selbst, sondern außerhalb der Fahrbahn befunden. Dies folgt aus der Tatsache, dass gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 StVO Seitenstreifen nicht Bestandteil der Fahrbahn sind. Eine Verpflichtung des Klägers, entgegen § 25 Abs. 1 Satz 3 StVO nicht nur von der Fahrbahn auf den Seitenstreifen auszuweichen, sondern zudem sich auch noch auf den daneben befindlichen unbefestigten Grünstreifen zu begeben, hat jedenfalls vorliegend nicht bestanden.
Es steht nämlich nicht fest, dass eine besondere Gefährdung für den Kläger erkennbar gewesen ist. Selbst wenn unmittelbar vor dem Unfallzeitpunkt dem Beklagten zu 1) ein Fahrzeug entgegen gekommen sein sollte, hätte der Kläger zwar mit einer eingeschränkten Sicht des Beklagten zu 1) auf Grund einer möglichen Blendwirkung rechnen müssen. Er hatte jedoch keinen konkreten Anlass zur Annahme, dass das auf ihn zufahrende Fahrzeug vorschriftswidrig die auf der rechten Fahrbahnseite aus der Sicht des Fahrzeugführers vorhandene durchgezogene Linie (Zeichen 295 zu § 41 Abs. 3 Nr. 3 b StVO, 2 Abs. 1 Satz 1 StVO) überfahren und zudem unter Verstoß gegen § 2 Abs. 1 Satz 1 StVO auf den Seitenstreifen fahren würde. Etwas anderes könnte bei einer besonders schmalen Fahrbahn oder im Bereich einer Kurve gelten. Beides ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Die Straßenführung war gerade. Die Richtungsfahrbahnen hatten eine Breite von immerhin 3,2 m.
Unzutreffend ist die Annahme der Berufung, gerade wenn der Beklagte zu 1) auf dem Seitenstreifen dem Kläger entgegengekommen sei, hätte für letzteren Anlass zum Ausweichen bestanden. Diese Auffassung wäre nur richtig, wenn ein vorschriftswidriges Verhalten des Beklagten zu 1) für den Kläger rechtzeitig erkennbar gewesen wäre. Dies ist jedoch fraglich. Insbesondere ist nicht auszuschließen, dass der Beklagte zu 1) erst kurz vor der Unfallstelle mit seinem Fahrzeug über die rechte Fahrbahnbegrenzung auf den Seitenstreifen gefahren ist. Ein solches Verhalten erscheint angesichts der Alkoholisierung und Müdigkeit des Beklagten zu 1) auch keineswegs fern liegend.
...
2.)
Auf Grund des Vorfalls hat der Kläger gegen die Beklagten einen Schmerzensgeldanspruch in Höhe von 80.000,-- DM zuzüglich einer monatlichen Rente in Höhe von 350,-- DM erworben. ...
Der Kläger hat ein schweres Schädel-Hirntrauma mit zunächst schwersten hirnorganischen Leistungseinbußen erlitten. Nach Wiedererlangung des Bewusstseins bestanden bei ihm ein schwerstes hirnorganische Psychosyndrom, eine schwere Sprachstörung und eine rechtsseitige Lähmung. Bis Oktober 1994 trat eine gewisse Besserung ein. Es bestand jedoch weiterhin ein hirnorganisches Psychosyndrom mit Einschränkungen der Ausdauer, der Gedächtnisleistung und Auffassungsfähigkeit. Auch 1995 fanden sich noch ungeordnete Denkabläufe, massive Gedächtnisstörungen und Desorientierungen. Der Kläger musste ständig beaufsichtigt werden, weshalb er auch heute noch unter Betreuung steht. Auch bei seiner Entlassung aus der neurochirurgischen Klinik Ende Mai 1994 konnte der Kläger nur in Begleitung gehen. Die sich anschließende Behandlung in einer Rehabilitationsklinik dauerte bis Mai 1996.
Als Dauerschaden verblieben ist insbesondere ein mittelschweres hirnorganisches Psychosyndrom mit einer deutlichen Wesensänderung. Es bestehen weiterhin Einschränkungen der Gedächtnis- und Merkfähigkeit, Zeitgitterstörungen, Beeinträchtigungen der Konzentrationsfähigkeit und der Auffassungsgabe sowie der Kritik- und Urteilsfähigkeit. Der Kläger hat sein Geruchsvermögen verloren. Es liegt ferner eine Minderung des Geschmacksinns vor sowie eine leichte Schwerhörigkeit rechts mit Dauerrauschen. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit beträgt mindestens 50 %. Der Kläger konnte allerdings seine frühere Tätigkeit als Bootsbauer an einem Schwerbehindertenarbeitsplatz bei seinem früheren Arbeitgeber wieder aufnehmen. Er kann mittlerweile auch wieder über kurze Strecken Auto fahren. Seine Arbeit verrichtet er allerdings an der Grenze der Belastbarkeit. Seine geistigen Einbußen und seine Wesensänderungen könnten auf längere Sicht seinen Arbeitsplatz gefährden. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wäre er nur schwer vermittelbar.
Entschädigungserhöhend ist angesichts der Schwere der Verletzungen und des schon frühzeitig jedenfalls im wesentlichen Kern unstreitigen Sachverhalts auch das - ersichtlich - unzureichende vorprozessuale Regulierungsverhalten der Beklagten zu 2) zu berücksichtigen.
Die vom Landgericht entsprechend dem Klagantrag vorgenommene Aufteilung der Entschädigung in einen Kapitalbetrag und eine Rentenzahlung ist nicht zu beanstanden. Eine solche Vorgehensweise kann insbesondere dann angebracht sein, wenn der Geschädigte - wie vorliegend - durch einen Dauerschaden eine ständige Lebensbeeinträchtigung auch in Zukunft ertragen muss (BGH VersR 1976, 967, 968; Münchner Kommentar-Stein, BGB, 3. Aufl., § 847 Rdnr. 48). Die Berufung bringt auch nichts Konkretes gegen das vom Landgericht gewählte Verhältnis zwischen Kapitalentschädigung und Rentenzahlung vor; teilweise zu Recht wendet sie sich jedoch gegen die Höhe der zuerkannten Beträge.
Die vom Landgericht zum Vergleich genannten Entscheidungen (BGH VersR 1986, 59; OLG Hamburg VersR 1985, 696; OLG Hamm r+s 1993, 339) betreffen Fälle, in denen der Geschädigte auf Grund der erlittenen Verletzungen vollständig erwerbsunfähig und zum Pflegefall geworden war; dabei handelte es sich um Verletzungen, die an der Grenze des tatsächlich Möglichen und Vorstellbaren liegen. Damit sind die zweifellos schweren Verletzungen des Klägers nicht gleichzusetzen.
Allerdings hat das Landgericht entgegen seiner Absicht tatsächlich kein Gesamtschmerzensgeld von 306.000,-- DM festgesetzt. Bei der Gewährung einer Rente ist es zwar regelmäßig geboten, eine Kapitalisierungsberechnung durchzuführen, um den Wert der Rente mit einer entsprechenden Kapitalentschädigung vergleichen zu können. Dabei ist es jedoch fehlerhaft, die zukünftigen Rentenzahlungen lediglich zu addieren. Die Wertberechnung hat vielmehr unter Berücksichtigung der üblichen Kapitalisierungsregeln zu erfolgen (OLG Frankfurt VersR 1992, 329; Becker/Böhme, Kraftverkehrshaftpflichtschäden, 20. Aufl., D 279). Bei einem Lebensalter des Klägers bei Beginn des vom Landgericht zuerkannten Rentenanspruchs von 30 Jahren ergibt sich bei einer Rente von 350,-- DM monatlich bei einem durchschnittlichen Zinssatz von 5 % ein Betrag von 73.697,40 DM (350 x 12 x 17,547; zum Kapitalisierungsfaktor vgl. Becker/Böhme, Tabelle 11). Bei einem Zinssatz von 5,5 % ergibt sich ein Betrag von 68.875,80 DM (350 x 12 x 16,399). Die vom Senat zugesprochene Entschädigung ist damit insgesamt einem Schmerzensgeldbetrag von einmalig 150.000,-- DM vergleichbar.
Dieser Gesamtbetrag erscheint unter Berücksichtigung aller Umstände und der in der Rechtsprechung durchschnittlich in naturgemäß nur begrenzt vergleichbaren Fällen zugesprochenen Beträge (z.B. OLG Hamm NZV 1990, 469; OLG Oldenburg DAR 1991, 302 [OLG Oldenburg 21.01.1991 - 13 U 164/90]; OLG München VersR 1996, 63 [OLG München 27.10.1994 - 24 U 364/89]; OLG Köln VersR 1997, 1280 [OLG Köln 22.05.1996 - 5 U 154/94]; sowie bei Hacks, Schmerzensgeldtabelle, 17. Aufl., OLG Schleswig Nr. 1574 und OLG Koblenz Nr. 1568) angemessen.