Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 14.01.1998, Az.: 2 U 233/97
Arglistige Täuschung durch einen an Hirnleistungsschwäche Leidenden bei dem Ausfüllen von Versicherungsverträgen; Vorliegen eines allgemeinen Erfahrungssatzes hinsichtlich des Erkennens einer eigenen Hirnleistungsschwäche und Nachvollziehung des Krankheitswerts; Begriff des Vorsatzes
Bibliographie
- Gericht
- OLG Oldenburg
- Datum
- 14.01.1998
- Aktenzeichen
- 2 U 233/97
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1998, 28944
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGOL:1998:0114.2U233.97.0A
Rechtsgrundlagen
- § 123 Abs. 1 BGB
- § 142 Abs. 1 BGB
- § 6 Abs. 3 VVG
Fundstellen
- NVersZ 1998, 80-81
- OLGReport Gerichtsort 1998, 246-247
- VersR 1999, 437-438 (Volltext mit red. LS)
- zfs 1999, 318
Amtlicher Leitsatz
Arglistige Täuschung: Kein allgemeiner Erfahrungssatz, dass Personen mit Hirnleistungsschwäche diese regelmäßig selbst erkennen und Krankheitswert nachvollziehen.
Gründe
Der Vertrag ist nicht auf Grund der von der Beklagten mit Schreiben vom 10.08.1995 erklärten Anfechtung wegen arglistiger Täuschung gemäß §§ 123 Abs. 1, 142 Abs. 1 BGB nichtig.
Allerdings dürften die Fragen nach früheren oder bestehenden Erkrankungen und Gebrechen in den Anträgen des Klägers vom 15.01.1981 und 01.07.1987 objektiv falsch beantwortet sein, da der Kläger seine Hirnleistungsschwäche nicht angegeben hat. Zweifelhaft ist indessen bereits, ob der Kläger überhaupt zur wahrheitsgemäßen Beantwortung und damit zur Offenbarung der bei ihm vorhandenen geistigen Behinderung verpflichtet gewesen ist. Einer derartigen Verpflichtung könnte möglicherweise der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gemäß Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG entgegenstehen (BVerfG FamRZ 1991, 1037 [BVerfG 11.06.1991 - 1 BvR 239/90]).
Diese Frage kann hier offen bleiben; denn die gemäß § 123 Abs. 1 BGB erforderliche Arglist des Klägers ist nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar. Arglist erfordert Täuschungswillen. Der Handelnde muss zumindest bedingt vorsätzlich den Willen haben, einen Irrtum zu erregen, und außerdem das Bewusstsein, dass der Irrtum ursächlich für die Entschließung sein kann; zum bedingten Täuschungsvorsatz gehört weiterhin der Nachweis der Kenntnis des Anfechtungsgegners von der Unrichtigkeit der von ihm gemachten Angaben (BGH MDR 1981, 827; Palandt-Heinrichs, § 123 Rdnr. 11; Baumgärtel-Laumen, Handbuch der Beweislast, 2. Aufl., § 123 BGB, Rdnr. 3 m.w.N.).
Vorliegend ist bereits nicht sicher feststellbar, dass der Kläger bei Ausfüllung der Versicherungsanträge seine eigene Hirnleistungsschwäche überhaupt kannte. Die Beklagte hat keinen Beweis für diese subjektive Tatsache angetreten. Es gibt auch keinen allgemeinen Erfahrungssatz dahingehend, dass Personen mit einer Hirnleistungsschwäche diese regelmäßig selbst erkennen und dabei zudem noch den Schluss ziehen, dass ihre intellektuellen Minderleistungen Krankheitswert haben. Gegen eine derartige Einsicht des Klägers spricht zudem, dass erstmals im Rahmen einer amtsärztlichen Begutachtung im Jahre 1988 die Hirnleistungsschwäche des Klägers detailliert ärztlich festgehalten wurde. Für die Annahme, dass der Kläger vor dieser ärztlichen Untersuchung die bei dieser gewonnenen Erkenntnisse selbst festgestellt hat, fehlt es an jeglichen konkreten Anhaltspunkten.
Die Beklagte ist auch nicht wegen einer Obliegenheitsverletzung des früheren Betreuers des Klägers gemäß §§ 15 II Abs. 4, 17 AUB 61, 6 Abs. 3 VVG leistungsfrei. Zwar hat der frühere Betreuer des Klägers im Unfallbericht vom 11.01.1994 die Frage nach bestehenden oder früheren Krankheiten oder Gebrechen verneint bzw. mit dem Zusatz "nicht bekannt" beantwortet. Eine Leistungsfreiheit wegen einer folgenlosen vorsätzlichen Obliegenheitsverletzung kommt jedoch nicht in Betracht, da die Vorsatzvermutung gemäß § 17 AUB 61 bzw. § 6 Abs. 3 VVG widerlegt ist.
Vorsatz erfordert das Wollen der Obliegenheitsverletzung im Bewusstsein des Vorhandenseins der Verhaltensnorm (BGH VersR 1993, 830; Römer/Langheid, VVG, § 6 Rdnr. 55). Aus den gesamten Umständen ergibt sich hier, dass der frühere Betreuer des Klägers nicht den Willen hatte, eine Obliegenheit gegenüber der Beklagten zu verletzen. Er hatte nämlich bereits in seinem Schreiben vom 22.12.1993 auf seine Funktion als Betreuer des Klägers ausdrücklich hingewiesen und eine Kopie seines Betreuerausweises übersandt. Auch in der Unfallanzeige vom 11.01.1994 findet sich in der für die Unterschrift vorgesehenen Zeile der Zusatz "Betreuer". Hätte aber der frühere Betreuer des Klägers dessen geistige Behinderung vorsätzlich zur Begehung einer Obliegenheitsverletzung verschweigen wollen, hätte er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht auf seine Betreuerstellung hingewiesen. Denn auf Grund seiner Angaben war für die Beklagte zwingend der Schluss geboten, dass beim Kläger die Voraussetzungen des § 1896 Abs. 1 BGB vorliegen, d. h. dass dieser auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen kann.
Die in der Beantwortung der Frage nach bestehenden oder früheren Krankheiten und Gebrechen möglicherweise liegende objektive Obliegenheitsverletzung ist mithin allenfalls fahrlässig begangen worden. Ob nach den gesamten Umständen der Vorwurf der groben Fahrlässigkeit gerechtfertigt ist, kann dahinstehen. Selbst wenn dies der Fall sein sollte, träte keine Leistungsfreiheit der Beklagten ein; denn die Falschbeantwortung der Frage hat ersichtlich weder Einfluss auf die Feststellungen des Versicherungsfalls noch auf die Feststellung oder den Umfang der der Beklagten obliegenden Leistung gehabt.