Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 16.02.2023, Az.: 5 U 72/22

Regress; Sozialversicherungsbeiträge; kongruenter Ersatzanspruch; Regress von Sozialversicherungsbeiträgen

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
16.02.2023
Aktenzeichen
5 U 72/22
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 14883
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2023:0216.5U72.22.00

Verfahrensgang

vorgehend
LG Stade - 14.04.2022 - AZ: 6 O 356/19

Fundstelle

  • r+s 2023, 523-526

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Der Kostenträger, der dem Träger einer Werkstatt für behinderte Menschen Sozialversicherungsbeiträge erstattet, kann diese in dem Umfang von dem einstandspflichtigen Schädiger aus übergegangenem Recht gem. § 116 SGB X, § 179 SGB VI erstattet verlangen, in dem der Geschädigte - das Unfallereignis hinweggedacht - selbst Beiträge zur Sozialversicherung durch seinen fiktiven Verdienst erbracht hätte.

  2. 2.

    Bei dem übergegangenen Schadensersatzanspruch des Geschädigten handelt es sich um einen Anspruch wegen entgangenen Gewinns, nicht wegen vermehrter Bedürfnisse infolge des Schadensereignisses.

In dem Rechtsstreit
- pp. -
hat der 5. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle im schriftlichen Verfahren mit einer Erklärungsfrist bis zum 25. Januar 2023 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ..., den Richter am Oberlandesgericht ... und die Richterin am Oberlandesgericht Dr. ... für Recht erkannt:

Tenor:

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Landgerichts Stade vom 14. April 2022 - Geschäftsnummer 6 O 356/19 - unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels teilweise abgeändert.

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 10.607,23 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 21. Dezember 2018 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Von den Kosten des Rechtsstreits in erster Instanz haben die Beklagte 78 %, die Klägerin 22 % zu tragen. Von den Kosten der Berufung haben die Beklagte 65%, die Klägerin 35 % zu tragen.

Dieses Urteil und das angefochtene Urteil sind vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können die jeweilige Vollstreckung der Gegenseite durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund dieses oder des angefochtenen Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die vollstreckende Partei zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird zugelassen.

Gründe

I.

Die Parteien streiten um Regressansprüche der Klägerin als Trägerin der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung aus übergegangenem Recht wegen der Folgen eines Verkehrsunfalls.

Der am 21. Juni 1994 geborene Versicherte wurde am 4. Juni 1997 bei einem Verkehrsunfall erheblich verletzt und ist seitdem schwerbehindert. Die volle Einstandspflicht der Beklagten als hinter dem unfallverursachenden Kraftfahrzeug stehende Haftpflichtversicherung für die Unfallfolgen steht zwischen den Parteien nicht in Streit.

Aufgrund seiner Behinderung arbeitet der Versicherte seit dem 3. September 2012 in einer Werkstatt für behinderte Menschen. Die Klägerin war Kostenträgerin während des Berufsfindungs- und Berufsausbildungszeitraums vom 3. September 2012 bis zum 2. Dezember 2014. Sie erbrachte Leistungen in einem Gesamtumfang von 51.324,98 €. Gegenstand der Klage sind allein die (in dem vorgenannten Betrag enthaltenen) Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung, Krankenversicherung und Pflegeversicherung in einer Gesamthöhe von 13.616,94 €, die die Klägerin der Trägerin der Behindertenwerkstatt erstattete.

Beide Parteien gehen davon aus, dass der Geschädigte - den Unfall hinweggedacht - eine Ausbildung zum Versicherungskaufmann durchlaufen hätte. Dabei ist streitig, in welchem Ausbildungs- bzw. Berufsstadium sich der Geschädigte im Zeitraum 2012 bis 2014 befunden und welche Einkünfte er erzielt hätte.

Die Klägerin ist der Ansicht, dass die dem Träger der Behindertenwerkstatt aufgrund gesetzlicher Vorschriften geleistete Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge übergangsfähig gemäß § 116 Abs. 1, Abs. 10 SGB X ist. Bei den von ihr geleisteten Zahlungen handele es sich um eine Unterstützung des Versicherten wegen vermehrter Bedürfnisse, sodass ein Rückgriffsanspruch nicht durch den - fiktiven - Verdienst des Versicherten nach oben beschränkt sei.

Das Landgericht hat der Klage stattgegeben, soweit sich der Regress der Klägerin auf die Erstattung von Rentenversicherungsbeiträgen in Höhe von 4.964,41 € richtet. Insoweit sei der Anspruch des Verletzten gemäß § 179 Abs.1a S.4 i.V.m. Abs. 1 SGB VI auf die Klägerin übergegangen. Demgegenüber seien die Kosten der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung nicht erstattungsfähig. Wegen dieser Beiträge bestehe bereits kein Verdienstausfallschaden des geschädigten Versicherten, weil dieser zum Unfallzeitpunkt als 3-jähriges Kind selbst noch keine Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung geleistet hatte.

Gegen die Entscheidung wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung, mit der sie unter Aufrechterhaltung ihrer Rechtsansichten die Klage, soweit sie abgewiesen worden ist, weiterverfolgt.

Sie beantragt,

unter teilweiser Aufhebung des Urteils des Landgerichts Stade die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin weitere 8.652,53 €, insgesamt 13.616,94 €, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit der Klage zu zahlen.

Die Beklagte beantragt

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil verwiesen, wegen des Parteivortrags im Übrigen auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen.

II.

Die Berufung der Klägerin hat überwiegend Erfolg und führt zur Abänderung des angefochtenen Urteils wie erkannt.

Das Landgericht hat zutreffend entschieden, dass es sich bei den Beiträgen zu den gesetzlichen Sozialversicherungen um Teile des Verdienstes des Geschädigten handelt, sodass eine Erstattung grundsätzlich nur in dem Umfang in Betracht kommt, in dem der Versicherte - den Unfall hinweggedacht - selbst durch sein Arbeitseinkommen (einschließlich der Arbeitgeberanteile) Beiträge für die Sozialversicherung erbracht hätte. Allerdings hat das Landgericht zu Unrecht die Erstattungsansprüche der Klägerin nur auf die für den Versicherten geleisteten Rentenversicherungsbeiträge beschränkt.

Im Einzelnen:

1. Die Klägerin ist dem Grunde nach berechtigt, aus übergegangenem Recht des geschädigten Versicherungsnehmers aus § 7 StVG i.V.m. § 115 VVG von der Beklagten Erstattung der Versicherungsbeiträge, die die Klägerin ihrerseits aufgrund sozialversicherungsrechtlicher Vorschriften der Trägerin der Werkstatt für behinderte Menschen erstattet hat, zu verlangen.

a. Für die geleisteten Rentenversicherungsbeiträge folgt dies - wie vom Landgericht zutreffend entschieden - aus § 179 Abs. 1a Satz 4 i.V.m. Abs. 1 Satz 2 2.Hs. SGB VI. Die Klägerin hat als Kostenträgerin der Trägerin der Einrichtung die von dieser (gem. §§ 162 Abs. 1 Nr. 2, 168 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI) abgeführten Rentenversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 11.553,43 € erstattet. Der Anspruchsübergang auf die Klägerin dem Grunde nach steht zwischen den Parteien in der Berufungsinstanz auch nicht mehr in Streit; insoweit hat die Beklagte das Urteil nicht angefochten. Streitig allein noch die Höhe des Erstattungsbetrages (dazu unten 3.).

b. Entgegen den Ausführungen im angefochtenen Urteil kann die Klägerin grundsätzlich auch Erstattung der Beträge für die gesetzliche Krankenversicherung und die gesetzliche Pflegeversicherung verlangen, weil auch insoweit die Ansprüche des Versicherten gem. § 116 Abs. 1, Abs. 10 SGB X auf die Klägerin übergegangen sind.

(1). Zwar weist die Beklagte zutreffend darauf hin, dass es an einer § 179 Absatz 1a SGB VI entsprechenden Regelung für die gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) und für die gesetzliche Pflegeversicherung (SGB XI) fehlt. Auch ist anerkannt, dass Erstattungsansprüche der Sozialleistungsträger untereinander nicht unter den Begriff der Sozialleistung im Sinne der §§ 1 SGB I, 116 Abs. 1 SGB X fallen und diese deswegen grundsätzlich nicht in den Anwendungsbereich von § 116 Abs. 1 SGB X fallen (vgl. etwa Jahnke, VersR 2005, 1203; Materialien zu § 179a SGB VI, BT-Drs. 14/4375 S. 54).

(2). Demgegenüber ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass die dem Träger einer Einrichtung zu erstattenden Beiträge zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung als Sozialleistungen zu qualifizieren sind (BSG, Urteil vom 6. August 2014 - B 11 AL 7/13 R -, SozR 4-1200 § 45 Nr 8, SozR 4-2500 § 251 Nr 1, SozR 4-3300 § 59 Nr 4, juris, für den Erstattungsanspruch einer Reha-Einrichtung; BGH, Urteil vom 27. Januar 2015 - VI ZR 54/14 -, juris Rn. 24 für den Erstattungsanspruch des Trägers einer Werkstatt für behinderte Menschen; anders noch vor den vorgenannten höchstrichterlichen Entscheidungen OLG Hamm, Urteil vom 30. Mai 2012 - I 13 U 79/11 - juris). Denn diese Erstattungsleistungen dienen in erster Linie einem sozialen Zweck und sollen nicht nur den Einrichtungsträger, sondern ebenso den behinderten Menschen begünstigen.

2. Allerdings setzen die Regressansprüche der Klägerin für die unterschiedlichen gesetzlichen Versicherungsbeiträge aus übergegangenem Recht jeweils voraus, dass dem Geschädigten ein Schadensersatzanspruch zusteht, der auf Erstattung eines mit den Sozialleistungen deckungsgleichen, kongruenten Schadens gerichtet ist. Dies ist für den Übergang von Ansprüchen nach § 116 Abs. 1 SGB X seit langem ständige Rechtsprechung (Darstellung bei BeckOGK/Kater SGB X § 116 Rn. 100-106 mit zahlreichen Nachweisen) und gilt gleichermaßen auch für den Regress nach § 179 Abs. 1a SGB VI (BGH, Urteil vom 10. Juli 2007 - VI ZR 192/06 - juris).

a. Entgegen der Ansicht der Klägerin handelt es sich bei der Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge nicht um eine Schadensposition, die mit einem Anspruch des Geschädigten wegen vermehrter Bedürfnisse gleichzusetzen ist. Beitragszahlungen für gesetzliche Sozialversicherungen gehören (einschließlich der Arbeitgeberanteile) zum Arbeitseinkommen des pflichtversicherten Arbeitnehmers (BGH, Urteil vom 10. Juli 2007 - VI ZR 192/06 - juris Rn. 12). Dies gilt auch für Beiträge zu Sozialversicherungen für behinderte Menschen, die in einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen tätig sind. Die Werkstatt für behinderte Menschen ist eine Einrichtung zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Eingliederung in das Arbeitsleben (§ 136 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Auch wenn sie nicht Arbeitnehmer sind, stehen behinderte Menschen zu den Werkstätten in einem arbeitnehmerähnlichen Rechtsverhältnis (BGH, a.a.O., Rn.9). Sie sind deswegen wie Arbeitnehmer pflichtversichert (Rentenversicherung: § 1 S. 1 Nr. 2a SGB VI; Krankenversicherung: § 5 Abs. 1 Nr. 7 SGB V; Pflegeversicherung: § 20 Abs. 1 Nr. 7 SGB XI).

Dementsprechend setzt ein Rückgriff der Klägerin gegen die Beklagte voraus, dass auch dem Geschädigten selbst ein - kongruenter - Schadensersatzanspruch gegen die Beklagte gerichtet auf die Erstattung entgangenen Verdienstes, konkret bezogen auf die von ihm zu erbringenden Beiträge zu gesetzlichen Sozialversicherungen, zusteht. Dies ist (dazu im Detail nachstehend unter 3.) an dem fiktiven Verdienst des Geschädigten im streitbefangenen Zeitraum zu orientieren.

Dass dem Geschädigten daneben auch ein Ersatzanspruch wegen vermehrter Bedürfnisse zustehen kann, ist für die Entscheidung hinsichtlich der konkret streitbefangenen Position unbeachtlich. So ist zwar denkbar, dass Sozialleistungsträger dem Geschädigten Leistungen erbringen, die ihre Ursache in einem unfallbedingten vermehrten Betreuungs- oder Pflegebedarf haben. Für diese Sozialleistungen bestünde gegebenenfalls ein eigener Rückgriffsanspruch des betreffenden Sozialleistungsträgers aus § 116 Abs. 1 SGB X. Die Beitragszahlungen zu den gesetzlichen Pflichtversicherungen stellen jedoch kein Korrelat zu den konkret erbrachten Leistungen für den Geschädigten dar. Sie stellen vielmehr den aus seinem Verdienst (bzw. einer jeweils relevanten Bezugsgröße, vgl. für die Rentenversicherung etwa § 162 Nr. 2a SGB VI) ermittelten eigenen Anteil an der gesetzlichen Rentenversicherung dar. Die entgegenstehende Auffassung der Klägerin würde vielmehr dazu führen, dass sich die Beklagte einem doppelten Regress ausgesetzt sähe, nämlich einerseits seitens der Kostenträger, die der Werkstatt für Behinderte die Beitragszahlungen erstattet, und andererseits seitens der Sozialleistungsträger, die die konkreten Sozialleistungen zur Abfederung der vermehrten Bedürfnisse des Geschädigten tatsächlich erbringen.

b. Ein Regress scheidet allerdings nicht schon deswegen aus, weil es von vornherein an einem Ersatzanspruch des Geschädigten fehlt. Dies ergibt sich insbesondere nicht aus der von der Beklagten zitierten Entscheidung des Kammergerichts (KG Berlin, Beschluss vom 6. April 2020 - 20 U 53/19 -, juris), die eine andere Fallkonstellation betrifft. Übertragen auf den hiesigen Sachverhalt ist insbesondere nicht erkennbar, ob das Kammergericht, das allein auf einen Schaden des Sozialleistungsträgers ("Beitragsausfallschaden") selbst abstellt, geprüft hat, ob dem Geschädigten im dortigen Fall ein eigener Ersatzanspruch wegen entgangenen Verdienstes in Bezug auf die von ihm abzuführenden Sozialleistungsbeiträge zustand.

c. Entgegen der Ansicht des Landgerichts ist der Erstattungsanspruch der Klägerin allerdings nicht dadurch beschränkt, dass der Geschädigte zum Zeitpunkt des Unfalls noch keine eigenen Beiträge zu den gesetzlichen Pflichtversicherungen erbracht hat. Denn ein - mit dem Regressanspruch der Klägerin kongruenter - Schadensersatzanspruch des Geschädigten wegen entgangenen Verdienstes besteht immer dann, wenn der Geschädigte - das Unfallereignis hinweggedacht - während des infrage stehenden Zeitraums ohne den Unfall aus sonstigen Gründen rentenversicherungspflichtig geworden wäre und deshalb Beiträge hätte abführen müssen (BGH, Urteil vom 10. Juli 2007 - VI ZR 192/06 -, amtl. Leitsatz sowie Rn. 20). Insoweit ist zwischen den Parteien unstreitig, dass der Geschädigte eine versicherungspflichtige Ausbildung begonnen hätte. Ob die von der Klägerin erstatteten Versicherungsbeiträge nötig waren, um dem Geschädigten die Stellung in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung zu erhalten (hierzu BGH a.a.O.), wäre demgegenüber nur von Relevanz, wenn eine anderweitige versicherungspflichtige Tätigkeit im streitbefangenen Zeitraum des Geschädigten nicht anzunehmen wäre. Es kommt deswegen nicht darauf an, dass - die Rechtsansicht des Landgerichts weitergedacht - auch ein Anspruch auf Erstattung der Rentenversicherungsbeiträge nicht in Betracht gekommen wäre.

3. Gemessen an diesem Maßstab ist der Erstattungsanspruch der Klägerin beschränkt durch den nach dem Maßstab von §§ 287 ZPO, 252 BGB im streitbefangenen Zeitraum mit Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Verdienst des Geschädigten, konkret auf die darauf entfallenden Sozialversicherungsbeiträge.

Insoweit gilt generell, dass bei Unfällen vor Eintritt in das Berufsleben nach dem Maßstab von § 287 ZPO zu schätzen ist, wie der berufliche Weg des Verletzten nach seinen persönlichen Fähigkeiten und Eigenschaften und den Bedingungen des Arbeitsmarktes voraussichtlich verlaufen wäre, wobei insbesondere dann, wenn sich der Geschädigte noch früh oder gar nicht in seiner beruflichen Entwicklung befand, keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen (BGH, Urteil vom 9. November 2010 - VI ZR 300/08 -, juris). Dieser Maßstab gilt im konkreten Fall auch für die Klägerin, die einen Anspruch aus übergegangenem Recht geltend macht.

a. Auf dieser Grundlage ist zunächst von der zwischen den Parteien nicht streitigen Prognose auszugehen, dass der Geschädigte nach Abschluss der Schulausbildung eine Ausbildung zum Versicherungskaufmann durchlaufen hätte. Die Parteien streiten lediglich darüber, zu welchem Zeitpunkt der Geschädigte die Schullaufbahn beendet, die Ausbildung begonnen und gegebenenfalls abgeschlossen hätte und womöglich im streitbefangenen Zeitraum noch in dem Beruf als Versicherungskaufmann tätig gewesen wäre.

Die Klägerin geht dabei von einem "idealen" Verlauf der Schullaufbahn aus, dass nämlich der am 21. Juni 1994 geborene Geschädigte bereits mit 6 Jahren, also im Jahr 2000, eingeschult worden wäre, im Jahr 2010 den Realschulabschluss erlangt hätte und dementsprechend am 1. August 2010 seine Ausbildung begonnen hätte. Fortlaufend hätte sich der Geschädigte dann im streitbefangenen Zeitraum im zweiten bzw. dritten Ausbildungsjahr befunden und seit August 2013 in einer Festanstellung als Versicherungskaufmann. Wegen der jeweils nach Vortrag der Klägerin erzielbaren Bruttolöhne des Geschädigten wird auf die Darstellung im Schriftsatz vom 20. Januar 2022 nebst Anlagen (Bl. 132ff der Akte) verwiesen.

Ein solcher Verlauf erscheint dem Senat zwar möglich, jedoch keineswegs zumindest überwiegend wahrscheinlich. Zweifel im Rahmen der nicht zu hoch angelegten Anforderungen gehen hier jedoch zulasten der Klägerin. Unter Heranziehung der aufgezeigten Grundsätze, ausgehend von dem unstreitigen hypothetischen Verlauf, dass der Geschädigte eine Ausbildung zum Versicherungskaufmann durchlaufen wäre, geht der Senat deswegen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon aus, dass der Geschädigte die Ausbildung im August 2011 begonnen hätte, sei es, weil (was durchaus im Bereich des "Typischen" liegt) der Schulbeginn erst nach Abschluss des 7. Lebensjahres erfolgt wäre, sei es, weil der Geschädigte ein Schuljahr wiederholt hätte oder weil er nach Abschluss der Schulausbildung ein Orientierungsjahr eingelegt hätte. Mit der Klägerin sieht es der Senat demgegenüber als wahrscheinlich an, dass der Geschädigte nach Abschluss der Ausbildung (nach Darstellung des Klägers wäre am 10. August die Ausbildung beendet gewesen, wobei der Senat davon ausgeht, dass in diesem Monat noch die Ausbildungsvergütung gezahlt worden wäre) im September 2014 in ein Beschäftigungsverhältnis als Versicherungskaufmann eingetreten wäre. Denn im relevanten Zeitraum - unter Zugrundelegung der vorstehenden Zeitrechnung - war die Beschäftigungssituation in Deutschland nicht angespannt, sodass nicht von einer Arbeitslosigkeit ausgegangen werden müsste.

b. Auf dieser Grundlage kann der Schaden nach dem Vortrag der Parteien ausreichend geschätzt werden. Die Parteien haben jeweils zu den Ausbildungsvergütungen im 1. bis 3. Lehrjahr vorgetragen; der Höhe nach bestehen hier keine Unterschiede bis auf den Umstand, dass die Beklagte Nettobeträge vorgetragen hat, die die Klägerin im Anschluss (Bl. 134ff. d.A.) in Bruttobezüge umgerechnet hat. Das Bestreiten der Beklagten zu den von der Klägerin zugrunde gelegten fiktiven Einkünften während der Ausbildung ist vor dem Hintergrund, dass die Klägerin mit den Zahlen der Beklagten gerechnet hat, unbeachtlich. Soweit die Klägerin ergänzend zu Einstiegsgehältern von Versicherungsangestellten vorgetragen hat, ist die Beklagte dem nicht mit Substanz entgegengetreten; sie hat vielmehr ausgeschlossen, dass im streitbefangenen Zeitraum überhaupt ein Berufseinstieg nach absolvierter Ausbildung erfolgt wäre.

Im Rahmen der ohnehin mit Unsicherheiten behafteten Schadensprognose kann der Senat das von den Parteien vorgelegte Zahlenmaterial auch ungeachtet dessen zugrunde legen, dass die Beklagte für ihre Berechnung die Nettobezüge für den Zeitraum August 2012 bis Juli 2015 herangezogen hat, während die Klägerin von einem Ausbildungszeitraum von August 2010 bis August 2013 ausgegangen ist.

Dem Hinweis des Senats in der mündlichen Verhandlung vom 7. Dezember 2022 zu den im Zeitraum 2012 bis 2014 maßgeblichen Beitragssätzen (Arbeitnehmer und Arbeitgeber), nämlich

KV (ermäßigt)PflVRV
201214,9 %1,95 %19,6 %
201314,9 %2,05 %18,9 %
201414,9 %2,05 %18,9 %

und zu einer Berechnungsmethode der Nettolöhne sind die Parteien innerhalb der Schriftsatzfrist bis zum 25. Januar 2023 nicht weiter entgegengetreten.

c. Danach ergibt sich insgesamt folgende Berechnung des fiktiven Verdienstes:

September 2012 bis Dezember 2012 (monatliche Beträge)

Ausbildungsvergütung 2. Lehrjahr brutto:1.056,73 €
Beitrag KV (ermäßigt) 14,9 %:157,45 €
Beitrag PflV 1,9520,61 €
Beitrag RV 19,6207,12 €

Januar 2013 bis Juli 2013 (monatliche Beträge)

Ausbildungsvergütung 2. Lehrjahr brutto:1.056,73 €
Beitrag KV (ermäßigt) 14,9 %:157,45 €
Beitrag PflV 2,0521,66 €
Beitrag RV 18,9199,72 €

August 2013 bis August 2014 (monatliche Beträge)

Ausbildungsvergütung 3. Lehrjahr brutto:1.890,60 €
Beitrag KV (ermäßigt) 14,9 %:281,70 €
Beitrag PflV 2,0538,76 €
Beitrag RV 18,9357,32 €

September 2014 bis 2. Dezember 2014 (monatliche Beträge)

Einstiegsgehalt Versicherungskaufmann brutto2.342 €
Beitrag KV (nicht ermäßigt) 15,5 %:363,01 €
Beitrag PflV 2,0548,01 €
Beitrag RV 18,9442,64 €

d. Bei der Ermittlung des Ersatzanspruchs ist ferner zu berücksichtigen, dass die Beiträge zu den unterschiedlichen Pflichtversicherungen nicht insgesamt "aufaddiert" werden können. Vielmehr sind die von der Klägerin vorgetragenen konkreten Erstattungsbeträge für die einzelnen Pflichtversicherungen (Anlage MW3, Bl. 38 ff d.A.) in Bezug zu den jeweiligen Versicherungsbeiträgen zu setzen, die der Geschädigte fiktiv eingezahlt hätte. Denn nur so kann dem Kongruenzerfordernis im Rahmen der § 116 SGB X, § 179 SGB VI Rechnung getragen werden.

Danach ergibt sich folgender Erstattungsanspruch:

1. Krankenversicherung

Die tatsächlichen Erstattungen der Krankenversicherungsbeiträge durch die Klägerin an die Trägerin der Behinderteneinrichtung blieben durchgängig hinter den fiktiven Beiträgen, die der Geschädigte zur Krankenversicherung geleistet hätte, zurück. Deswegen ist der volle Betrag der Erstattungsleistung jeweils regressfähig, und zwar

Kalenderjahr 2012:4 Monate zu je 78,23 €
Kalenderjahr 2013:12 Monate zu je 80,31 €
Kalenderjahr 2014:11 Monate zu je 82,40 €.

Dabei rundet der Senat jeweils den Eintritt (3. September 2012) bzw. das Ende der Trägerschaft (2. Dezember 2014) auf volle Monate ab.

Danach ergibt sich ein Erstattungsbetrag in Höhe von 2183,04 €.

2. Pflegeversicherung

Auch die tatsächlichen Erstattungen der Pflegeversicherungsbeiträge durch die Klägerin blieben durchgängig hinter den fiktiven Beiträgen, die der Geschädigte zur Pflegeversicherung geleistet hätte, zurück. Deswegen ist der volle Betrag der Erstattungsleistung jeweils regressfähig, und zwar

Kalenderjahr 2012:4 Monate zu je 10,24 €
Kalenderjahr 2013:12 Monate zu je 11,05 €
Kalenderjahr 2014:11 Monate zu je 11,34 €.

Danach ergibt sich ein Erstattungsbetrag in Höhe von 298,30 €.

3. Rentenversicherung

Demgegenüber kommt ein Regress der Erstattungsbeträge für die Rentenversicherung für die Dauer der fiktiven Ausbildung (im streitbefangenen Zeitraum von September 2012 bis August 2014) nur in Höhe des Betrags in Betracht, den der Geschädigte tatsächlich in die Rentenversicherung eingezahlt hätte. Lediglich für den Zeitraum September bis November 2014 übersteigen die fiktiven Beitragszahlungen die tatsächlichen Erstattungsleistungen. Das bedeutet in der Summe:

Kalenderjahr 2012:4 Monate zu je 207,12 €
Kalenderjahr 2013:7 Monate zu je 199,72 €
5 Monate zu je 357,32 €
Kalenderjahr 2014:8 Monate zu je 357,32 €
3 Monate zu je 418,07 €.

Danach ergibt sich ein Erstattungsbetrag in Höhe von 8125,89 €.

In der Summe ergibt sich eine Forderung der Klägerin in Höhe von 10.607,23 €.

4. Die Zinsforderung ergibt sich aus § 291 BGB.

III.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 92 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Zulassung der Revision sieht der Senat gemäß § 542 Abs. 2 Nr. 2 ZPO als geboten an. Die Rechtsfrage, ob die Erstattungsleistungen von Sozialversicherungsbeiträgen an den Träger einer Werkstatt für behinderte Menschen vollständig regressfähig im Sinne des § 116 Abs. 1 SGB X sind, weil es sich (was der Senat anders entschieden hat) um einen (übergegangenen) Anspruch des Geschädigten wegen vermehrter Bedürfnisse handele, ist - soweit für den Senat ersichtlich - bislang weder obergerichtlich noch höchstrichterlich geklärt ist.