Landgericht Stade
Urt. v. 14.04.2022, Az.: 6 O 356/19

Behindertenwerkstatt; Übergang; Sozialleistungen; Verdienstausfall; vermehrte Bedürfnisse; Rentenversicherungsbeiträge; Krankenversicherungsbeiträge; Pflegeversicherungsbeiträge; Erstattungsfähigkeit

Bibliographie

Gericht
LG Stade
Datum
14.04.2022
Aktenzeichen
6 O 356/19
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 64793
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

nachfolgend
OLG Celle - 16.02.2023 - AZ: 5 U 72/22

Amtlicher Leitsatz

Regress wegen für die Tätigkeit in einer Behindertenwerkstatt abgeführten Sozialversicherungsleistungen gegen den Schädiger.

In dem Rechtsstreit
XXX
Klägerin,
Prozessbevollmächtigte: XXX
XXX
gegen
XXX
Beklagte,
Prozessbevollmächtigte: XXX
XXX
hat die 6. Zivilkammer des Landgerichts Stade im schriftlichen Verfahren gemäß § 128 ZPO mit einer Erklärungsfrist bis zum 18.3.2022 am 14.4.2022 durch den Richter am Landgericht XXX als Einzelrichter
für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 4.964,41 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 21.12.2018 zu zahlen.

  2. 2.

    Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

  3. 3.

    Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits zu 5/8 und die Beklagte zu 3/8.

  4. 4.

    Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

  5. 5.

    Der Streitwert für den Rechtsstaat wird festgesetzt auf 13.616,94 €.

Tatbestand

Die Klägerin macht als Trägerin der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung aus übergegangenem Recht Schadensersatzansprüche ihres Versicherten geltend. Der am 21.6.1994 Versicherte erlitt am 4.6.1997 einen Verkehrsunfall. Er ist seitdem schwerbehindert. Bei der Beklagten handelt es sich um die hinter dem den Unfall verursachenden Kfz stehende Haftpflichtversicherung. Die volle Haftung der Beklagten dem Grunde nach ist zwischen den Parteien unstreitig.

Aufgrund seiner Behinderung arbeitet der Versicherte in einer Werkstatt für behinderte Menschen.

Für die Berechnung des dem Versicherten durch den Unfall entstandenen Schadens sind die Parteien in der Vergangenheit übereinstimmend davon ausgegangen, dass der Versicherte ohne das schädigende Ereignis im streitgegenständlichen Zeitraum eine Ausbildung als Versicherungskaufmann durchlaufen hätte. Die Ausbildung hätte hiernach am 1.8.2012 begonnen und bis Juli 2015 angedauert. Im ersten Lehrjahr hätte der Versicherte 794,58 € netto, im zweiten Lehrjahr 814,27 € netto sowie im dritten Lehrjahr 1.282,60 € netto verdient. Auf dieses fiktive Einkommen wären Sozialversicherungsbeiträge (Krankenversicherung, Zusatzbetrag zur Krankenversicherung, Rentenversicherung, Pflegeversicherung und Zusatzbeitrag zur Pflegeversicherung) von 190,91 € im ersten Lehrjahr, 196,60 € im zweiten Lehrjahr und 253,59 € im dritten Lehrjahr abgeführt worden.

Die Klägerin verlangt für den Zeitraum vom 3.9.2012 bis zum 2.12.2014 die Sozialversicherungsbeiträge von der Beklagten, die bisher nur die Kosten der Unterbringung des Versicherten in der Behindertenwerkstatt ausgeglichen hat, mit der Klage erstattet. Von dem Bruttoeinkommen mussten im Jahr 2012 19,6 %, und in den Jahren 2013 und 2014 jeweils 18,9 % an die Rentenversicherung abgeführt werden.

Knapp 25 Jahre nach dem schädigenden Ereignis und mehr als drei Jahre nach Klageinreichung behauptet die Klägerin mit Schriftsatz vom 20.1.2022 erstmals, der Verletzte hätte ohne das schädigende Ereignis seine Ausbildung als Versicherungskaufmann nach Abschluss der Realschule bereits am 1.8.2010 begonnen. Bei dem hypothetisch anzunehmenden Ausbildungsverlauf des Versicherten hätte dieser im ersten Lehrjahr 1.026,01 € brutto, im zweiten Lehrjahr bis Ende 2011 1.056,73 €, danach 1.053,27 € brutto und im dritten Lehrjahr 1.890,60 € brutto verdient.

Sie habe der Trägerin der Behindertenwerkstatt im Zeitraum vom 3.9.2012 bis zum 2.12.2014 Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 13.616,94 €, die diese abgeführt habe, erstattet (vgl. Anl. MW4). Wegen der Aufschlüsselung der Sozialversicherungsbeiträge wird auf Anl. MW3 verwiesen.

Die Klägerin ist der Ansicht, sie habe mit dem Ausgleich der von dem Betreiber der Werkstatt abgeführten Sozialversicherungsbeiträge einen dem Verletzten durch den Unfall entstandenen Schaden ausgeglichen, so dass ein Anspruch in dieser Höhe gemäß § 116 SGB X auf sie übergegangen sei. Wenn der Anspruch auf Erstattung der Sozialversicherungsbeiträge nicht ursprünglich dem Verletzten gegenüber der Beklagten entstanden sein sollte, wäre der Anspruch zwar nicht gemäß § 116 SGB X auf die Klägerin übergegangen, insoweit bestünde dann jedoch ein originärer Ersatzanspruch der Klägerin gegen die Beklagte.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 13.616,94 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit der Klage zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte behauptet, selbst wenn der Verletzte seine Ausbildung nach der Realschule begonnen hätte, hätte er - bei unterstellter Einschulung im Jahr 2001 - erst im Jahr 2011 mit der Ausbildung begonnen. Im Übrigen könne nicht so ohne Weiteres davon ausgegangen werden, dass es in der Schulausbildung keine Verzögerungen von einem Jahr gebe.

Die Beklagte ist der Auffassung, dass sie zum Ersatz von Sozialversicherungsbeiträgen nicht verpflichtet sei, weil der Versicherte im streitgegenständlichen Zeitraum kein sozialversicherungspflichtiges Einkommen erzielt habe und daher die Klägerin auch keine entsprechenden Sozialversicherungsbeiträge abgeführt habe.

Im Übrigen handele es sich bei den von der Klägerin dem Träger der Behindertenwerkstatt erstatteten Sozialversicherungsbeiträgen um keine Sozialleistungen i.S.v. § 11 Abs. 1 SGB I, so dass der Anspruch gemäß § 116 SGB X nicht übergehen könne.

Die Klage wurde am 20.12.2018 zugestellt.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und teilweise begründet.

Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung von Schadenersatz i.H.v. 4.964,41 € aus übergegangenem Recht. Denn die Beklagte war dem Versicherten der Klägerin aus dem Verkehrsunfall vom 4.6.1997 unstreitig gemäß § 7 StVG in Verbindung mit § 115 Abs. 1 VVG zum Schadenersatz verpflichtet. Diesen Schaden kann die Klägerin von der Beklagten ersetzt verlangen, soweit dem Verletzten ein Schaden entstanden ist (dazu unter 1.) und dieser Schaden auf die Klägerin übergegangen ist (dazu unter 2.).

1. Der Verletzte konnte aus dem Verkehrsunfall unter anderem seinen künftigen Verdienstausfall und ihm durch den Unfall entstandene vermehrte Bedürfnisse ersetzt verlangen. Er hat daher einen Anspruch gegen die Beklagte auf Zahlung der für ihn abgeführten Rentenversicherungsbeiträge (dazu unter a), nicht jedoch auf die für ihn abgeführten Krankenversicherungs- und Pflegeversicherungsbeiträge (dazu unter b).

a) Die Beklagte ist dem Versicherten gegenüber zum Ersatz der für ihn abgeführten Rentenversicherungsbeiträge als Verdienstausfallschaden verpflichtet. Denn die Rentenversicherungsbeiträge, die im Alter die Versorgung des Verletzten sicherstellen, gehören zum Arbeitseinkommen des pflichtversicherten Arbeitnehmers. Der Schädiger hat deshalb während der von ihm zu vertretenden Arbeitsunfähigkeit des Versicherten auch für diese Beiträge als dessen Verdienstausfallschaden i.S. von §§ 842, 843 BGB aufzukommen, wenn und soweit sie in dieser Zeit zu entrichten sind (BGH, Urteil vom 10. Juli 2007 - VI ZR 192/06 -, BGHZ 173, 169-182, Rn. 12).

Für den Verletzten wurden in der Zeit vom 3.9.2012 bis zum 2.12.2014 insgesamt 11.553,43 € an Rentenversicherungsbeiträge von der Behindertenwerkstatt abgeführt. Die Höhe der jeweils abgeführten Beträge ergibt sich aus der nachfolgenden, auf Anlage MW3 beruhenden Tabelle.

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Das Gericht versteht den Vortrag der Beklagten dahingehend, dass nicht die Abführung der Rentenversicherungsbeiträge durch den Träger der Behindertenwerkstatt bestritten werden soll, sondern lediglich deren Erstattung durch die Klägerin. Selbst wenn die Beklagte die Höhe der von dem Träger der Behindertenwerkstatt abgeführten Rentenversicherungsbeiträge angreifen sollte, wäre dies unbeachtlich, weil die Behindertenwerkstatt jedenfalls gemäß § 162 Nr. 2 SGB VI verpflichtet war, Sozialversicherungsbeiträge - also auch Rentenversicherungsbeiträge - abzuführen, also einem entsprechenden Anspruch der Rentenversicherungsanstalt ausgesetzt wäre, hätte sie Sozialversicherungsbeiträge nicht abgeführt.

Die Höhe der abzuführenden Sozialversicherungsbeiträge bemisst sich nach "80 % der Bezugsgröße". Die Höhe dieses Betrags und damit auch die Höhe der abgeführten Sozialversicherungsbeiträge ergibt sich aus der von der Klägerin vorgelegten Anlage MW3. Danach betrug "80 % der Bezugsgröße" im Jahr 2012 2.100 €, im Jahr 2013 2.156 € und im Jahr 2014 2.212 €. Die abzuführenden Rentenversicherungsbeiträge betrugen im Jahr 2012, wie sich ebenfalls aus der Anlage ergibt und im Übrigen zwischen den Parteien unstreitig ist, 19,6 % und in den beiden folgenden Jahren 18,9 %.

b) Die Kosten der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung stellen keinen Verdienstausfallfallschaden dar. Denn dies ist nur dann der Fall, wenn ein Pflichtversicherter geschädigt wurde, dieser also schon zum Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses solche Beiträge durch seine Arbeit "verdient" hatte. Dies setzt voraus, dass dieser "Verdienst" infolge des schädigenden Ereignisses entfällt, die Beiträge aber gleichwohl auf Grund einer fortbestehenden Mitgliedschaft des Geschädigten in der gesetzlichen Krankenkasse fortentrichtet werden müssen (vgl. BGH, Urteile vom 8. November 1983 - VI ZR 214/82, BGHZ 89, 14, 15 ff. und vom 10. Juli 2007 - VI ZR 192/06, BGHZ 173, 169 Rn. 12). In diesem Fall können auch die Beiträge ersatzfähig sein, die für einen behinderten Menschen entrichtet werden müssen, der in einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen tätig und deshalb nach § 5 Abs. 1 Nr. 7 SGB V versicherungspflichtig ist. Es handelt sich dabei nicht um einen Schaden des zur Beitragszahlung verpflichteten Trägers der Einrichtung (§ 251 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB V), sondern um einen solchen des Geschädigten; denn die Heranziehung des Trägers zu den Beiträgen ist nicht Ausfluss eines internen Lastenausgleichs zwischen ihm und dem Krankenversicherungsträger, sondern die Beiträge dienen der Aufrechterhaltung des Versicherungsschutzes des Geschädigten (vgl. BGH, Urteile vom 8. November 1983 - VI ZR 214/82, BGHZ 89, 14, 21 ff. und vom 10. Juli 2007 - VI ZR 192/06, BGHZ 173, 169 Rn. 16; anders LG Münster, r+s 2009, 436, 437 m. zust. Anm. Lemcke). Hintergrund für die Beitragstragung durch Dritte in diesem Fall ist nämlich der Gedanke, dass es sozial unvertretbar ist, von diesen Personen mit typischerweise sehr geringen Einkünften Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung zu fordern (vgl. Propp in jurisPK-SGB V, 2. Aufl., § 251 Rn. 37; zu allem: BGH, Urteil vom 27. Januar 2015 - VI ZR 54/14 -, BGHZ 204, 44-53, Rn. 22).

Der Verletzte war zum Zeitpunkt des schädigenden Ereignisses aber erst drei Jahre alt, also noch nicht selbst gesetzlich pflichtversichert, sondern über seine Eltern familienversichert, also lediglich mitversichert. Da er zum Zeitpunkt des Unfalls noch keine Beiträge für die Krankenversicherung durch seine Arbeit verdient hatte, sind die für ihn abgeführten Beiträge für die Kranken- und Pflegeversicherung nicht ersatzfähig.

Eine Ersatzpflicht der Beklagten für diese Beiträge kommt auch nicht unter dem Gesichtspunkt der vermehrten Bedürfnisse in Betracht. Denn es handelt sich bei den Beiträgen nicht um Mehraufwendungen, die durch den Unfall eingetreten sind, um diejenigen Nachteile auszugleichen, die dem Verletzten infolge dauernder Beeinträchtigungen seines körperlichen Wohlbefindens entstanden sind.

2. Der Anspruch des Verletzten auf Erstattung der für ihn abgeführten Rentenversicherungsbeiträge ist in Höhe von 4.964,41 € gemäß § 179 Abs. 1a Satz 4 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB VI auf die Klägerin übergegangen. Denn der Bund hat dem Träger der Behindertenwerkstatt durch die hiesige Klägerin die Rentenversicherungsbeiträge erstattet (dazu unter a). In Höhe von 4.964,41 € korreliert diese Erstattung mit dem Schaden, der von der Beklagten zu erstatten ist (dazu unter b).

a) Die Klägerin hat der Behindertenwerkstatt in dem hier streitgegenständlichen Zeitraum 13.616,94 € für die abgeführten Sozialversicherungsbeiträge erstattet. Dies ergibt sich aus der als Anlage MW4 überreichten Übersicht, der die Beklagte nicht substantiiert entgegengetreten ist. Hieraus ergibt sich, dass die Klägerin für September 2012 einen Teilbetrag - der Verletzte hat die Tätigkeit in der Behindertenwerkstatt nicht Anfang September, sondern erst am 3.9.2012 aufgenommen - von 466,73 € erstattet hat, in den darauffolgenden Monaten des Jahres 500,07 €/Monat, im Jahr 2013 498,84 €/Monat und im Jahr 2014 statt eigentlich zu erstattender Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von 511,81 € (vgl. die Berechnung der monatlichen Sozialversicherungsbeiträge für das Jahr 2014 in Anl. MW3) 511,80 €, wobei für Dezember 2014 - der Verletzte war nur bis zum 2.12.2014 in der Behindertenwerkstatt tätig - lediglich ein Teilbetrag von 34,12 € bezahlt wurde. Die Klägerin hat der Behindertenwerkstatt daher bis auf elf Cent im Jahr 2014 sämtliche von der Behindertenwerkstatt abgeführten Sozialversicherungsbeiträge erstattet. Von diesen 13.616,94 € entfielen 11.135,36 € auf Rentenversicherungsbeiträgen.

Die Klägerin hat die Erstattungsleistungen auch aufgrund des Verkehrsunfalls, aufgrund dessen die Beklagte zur Zahlung verpflichtet ist, an die Behindertenwerkstatt abgeführt.

b) Allerdings geht der Schadensersatzanspruch des Verletzten gegen die Beklagte gemäß § 179 Absatz 1a SGB VI nur insoweit auf den Bund über, als die Erstattung des Bundes mit dem vom Schädiger verursachten Schaden korreliert, der Verletzte also ohne Unfall bei Annahme des gewöhnlichen Verlaufs der Dinge selbst Rentenversicherungsbeiträge hätte abführen müssen (BGH, Urteil vom 10. Juli 2007 - VI ZR 192/06 -, BGHZ 173, 169-182, Rn. 20).

In welcher Höhe dies der Fall war, hat das Gericht gemäß § 287 ZPO zu schätzen. Für seine Schätzung legt das Gericht zugrunde, wie es auch die Parteien bis zum Schriftsatz der Klägerin vom 20.1.2022 getan haben, dass der Verletzte am 1.8.2012 eine Ausbildung als Versicherungskaufmann angefangen hätte und im Rahmen dieser Ausbildung im ersten Lehrjahr netto 790,58 €, im zweiten Lehrjahr netto 814,27 €und im dritten Lehrjahr netto 1.282,60 € verdient hätte. Wenn die Klägerin nunmehr behauptet, ohne das schädigende Ereignis hätte der Verletzte seine Ausbildung bereits am 1.8.2010 angefangen, sieht das Gericht sich nicht zu einer abweichenden Beurteilung veranlasst. Denn die Parteien hatten sich in der Vergangenheit zumindest konkludent darauf geeinigt, dass die Ausbildung erst am 1.8.2012 begonnen hätte. Das Gericht erkennt nicht, dass dies eine völlig lebensfremde Beurteilung wäre. Denn es erscheint zumindest möglich, dass der 1994 geborene Verletzte erst 2001 eingeschult worden wäre. Zudem erscheint nicht ausgeschlossen, dass es zu Verzögerungen bis zum Abschluss gekommen wäre oder der Verletzte möglicherweise nicht unmittelbar im Anschluss an die Schule eine Lehrstelle gefunden hätte. Entscheidend ist aber, dass es nicht ungewöhnlich, sondern nach der Erfahrung des Gerichts sogar eher üblich ist, dass auch Schüler, die eine Ausbildung anstreben, insbesondere eine so anspruchsvolle wie die des Versicherungskaufmanns, diese nicht direkt mit Erwerb der mittleren Reife beginnen, sondern erst einen weiterführenden schulischen Abschluss machen, also die Fachhochschulreife oder die allgemeine Hochschulreife erwerben, bevor sie ihre Ausbildung beginnen. Das Gericht geht also davon aus, dass nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge zu erwarten gewesen war, dass der Verletzte seine Ausbildung erst am 1.8.2012 begonnen hätte.

Welche Rentenversicherungsbeiträge der Verletzte im Rahmen seiner Ausbildung abgeführt hätte, wurde von der Klägerin bisher nicht vorgetragen. Es wurden lediglich von der Beklagten kumulierte Sozialversicherungsbeiträge vorgetragen, denen die Klägerin bis zum Schriftsatz vom 20.1.2022 nicht entgegengetreten ist, aus denen aber die Höhe der Rentenversicherungsbeiträge nicht ersichtlich ist. Das Gericht sieht sich nicht dazu in der Lage, die Rentenversicherungsbeiträge selbst zu berechnen. Zwar ist zwischen den Parteien unstreitig, welche Prozentsätze des Bruttoeinkommens als Rentenversicherungsbeiträge abzuführen waren. Allerdings ist für das Gericht nicht ersichtlich, welches Bruttoeinkommen der Verletzte in den Jahren 2012 bis 2014 hatte. Der Klägerin wurde in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich mitgeteilt, dass es dem Gericht für die Berechnung der Rentenversicherungsbeiträge auf den Bruttoverdienst ankommt. Die Klägerin hat diese Beiträge aber nicht direkt ermittelt, sich also nicht danach erkundigt, welche Bruttoeinnahmen ein Auszubildender als Versicherungskaufmann in den einzelnen Ausbildungsjahren hatte, sondern hat aus den unstreitigen Nettoeinnahmen mithilfe eines Rechners im Internet die Bruttobeiträge hochgerechnet, dies allerdings auch nicht für die hier streitgegenständlichen Jahre, sondern jeweils um zwei Jahre nach vorne versetzt, also für das erste Lehrjahr nicht für das Jahr 2012, sondern für das Jahr 2010. Dass diese Berechnung falsch ist, zeigt sich schon daran, dass hiernach der Bruttoverdienst des Verletzten innerhalb des zweiten Lehrjahrs von 1.056,73 € auf 1.053,27 € gefallen wäre, was außerhalb jeglicher Lebenswahrscheinlichkeit liegt.

Das Gericht sieht sich aufgrund der Kompliziertheit des Steuerrechts und des Beibringungsgrundsatzes nicht dazu in der Lage, aus dem unstreitigen Nettobetrag für das erste Lehrjahr den Brutto-Verdienst auch nur zu schätzen, ohne sich dem Vorwurf der Willkür auszusetzen. Es sieht es aber als gesichert an, dass die Bruttoeinnahmen des Verletzten jedenfalls nicht geringer waren als sein unstreitiges Nettoeinkommen, sodass das Gericht für die Berechnung der abzuführenden Rentenversicherungsbeiträge davon ausgeht, dass das Bruttoeinkommen im ersten Lehrjahr in Höhe des Nettoeinkommens von 794,58 € bestanden hat. Für das zweite Lehrjahr schätzt das Gericht den Bruttoverdienst auf 928 €, wie es sich aus Anlage MW12 ergibt. Für das dritte Lehrjahr würde das Gericht - wieder ausgehend von Anlage MW12 - das Bruttoverdienst eigentlich auf 1.007 € bzw. - ab dem 1.10.2014 - auf 1.037 € schätzen. Da zwischen den Parteien allerdings hinsichtlich des dritten Lehrjahres unstreitig ist, dass schon der Nettoverdienst 1.282,60 € betrug, sieht sich das Gericht daran gehindert, mit seiner Schätzung den unstreitigen Vortrag zu unterbieten, so dass es für diesen Zeitraum wieder das unstreitige Nettoeinkommen als Bruttoeinkommen zugrunde legt.

Hieraus ergeben sich folgende Rentenversicherungsbeiträge, die der Verletzten streitgegenständliche Zeitraum abgeführt hätte:

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Hieraus ergibt sich, dass der Verletzte im streitgegenständlichen Zeitraum Versicherungsbeiträge in Höhe von 4.964,41 € abgeführt hätte. In dieser Höhe besteht ein Erstattungsanspruch der Klägerin gegen die Beklagte.

c) Eine Vorschrift, nach der die Klägerin auch den Ersatz der darüber hinaus von der Behindertenwerkstatt an die Rentenversicherungsanstalt abgeführten Rentenversicherungsbeiträge aus abgetretenem Recht von der Beklagten ersetzt verlangen kann, ist nicht ersichtlich. Insbesondere kann die Klägerin keinen Ersatz gemäß § 116 SGB X i.V.m. § 119 SGB X geltend machen, weil die dem Träger der Behindertenwerkstatt erstatteten Rentenversicherungsbeiträge keine Sozialleistung darstellen. Dieser Umstand führte dazu, dass der Gesetzgeber eine Rückgriffsmöglichkeit in § 179 SGB VI geschaffen hat, die einzig einschlägig sein sollte (BT-Drs. 14/4375, 54 f.; vgl. auch Jahnke/Burmann Hdb Personenschaden, 6. Kap. Drittleistungsträger (Leistung, Regress) Rn. 4723, beck-online).

d) Die Beklagte hat die ausgeurteilt Klagforderung gemäß §§ 291, 288 BGB mit fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu verzinsen.

3. Eine Anspruchsgrundlage für einen der Klägerin originär aus dem Verkehrsunfall zustehenden Schadenersatzanspruch ist nicht ersichtlich.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit wurde gemäß § 709 Sätze 1 und 2 ZPO getroffen.

Die Entscheidung über die Festsetzung des Streitwertes kann mit der Beschwerde angefochten werden. Sie ist nur zulässig, wenn sie innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache rechtskräftig geworden ist oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, bei dem Landgericht Stade, 21682 Stade, Wilhadikirchhof 1 eingeht.

Wird der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt, kann die Beschwerde innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung der Festsetzung bei dem Gericht eingelegt werden. Die Beschwerde ist nur zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200,00 € übersteigt oder das Gericht die Beschwerde in diesem Beschluss zugelassen hat.

Beschwerdeberechtigt ist, wer durch diese Entscheidung in seinen Rechten beeinträchtigt ist. Die Beschwerde wird durch Einreichung einer Beschwerdeschrift oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle des genannten Gerichts eingelegt. Sie kann auch zur Niederschrift der Geschäftsstelle eines jeden Amtsgerichts erklärt werden, wobei es für die Einhaltung der Frist auf den Eingang bei dem genannten Gericht ankommt. Sie ist von dem Beschwerdeführer oder seinem Bevollmächtigten zu unterzeichnen. Die Beschwerde muss die Bezeichnung des angefochtenen Beschlusses sowie die Erklärung enthalten, dass Beschwerde gegen diesen Beschluss eingelegt wird. Soll die Entscheidung nur zum Teil angefochten werden, so ist der Umfang der Anfechtung zu bezeichnen.