Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 28.01.2003, Az.: 3 B 156/03
angemessene Hilfe; Beschaffung; nachgehende Betreuung; untaugliche Hilfe; Wohnung; Wunschrecht
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 28.01.2003
- Aktenzeichen
- 3 B 156/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 47908
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 3 BSHG
- § 72 BSHG
- § 123 Abs 1 S 2 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Das Wohnen außerhalb einer stationären Einrichtung einschließlich nachgehender Betreuung als Gesamtmaßnahme kommt als gewünschte Wohnform im Rahmen des § 72 BSHG nur in Betracht, wenn es sich um eine taugliche Hilfe handelt. Nur dann liegt eine angemessene Hilfe i.S.d. Wunsch- und Wahlrechts vor.
Tenor:
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben.
Gründe
I. Der Antragsteller begehrt die Verpflichtung des Antragsgegners zur Übernahme der Kosten für eine Wohnung nebst nachgehender Betreuung nach § 72 BSHG. Der am 1. März 1979 geborene Antragsteller lebte bis zum 13. Lebensjahr bei seinen Eltern in S.. Danach ist er bis zum 16. Lebensjahr in verschiedenen Heimen aufgewachsen; die Realschule verließ er ohne Abschluss. Nach einem viermonatigen Aufenthalt als Untersuchungshäftling in der JVA B. und einem weiteren Heimaufenthalt in einem Heim für verhaltensauffällige Jugendliche wurde er zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Aufgrund eines Verstoßes gegen die Bewährungsauflagen verbüßte er vom 30. Dezember 1997 bis 26. November 1999 eine zweijährige Jugendstrafe. Seitdem bestand überhaupt kein Kontakt mehr zu seinen Eltern. Nach seiner Entlassung bis zum November 2001 war der Antragsteller ohne festen Wohnsitz in den Benelux-Staaten, in Spanien, Norwegen, Russland und England unterwegs. Ende November 2001 hielt er sich für ca. zwei Wochen in einer Einrichtung für Wohnungslose auf; vom 4. Dezember 2001 bis 6. November 2002 verbüßte er erneut eine Freiheitsstrafe. Nach einem kurzen Aufenthalt in Ungarn erreichte er am 23. November 2002 die Diakonischen Heime K. und beantragte die Aufnahme. Zunächst wurde er in einer Wohngruppe in einem Einzelzimmer untergebracht, kurze Zeit darauf bezog er ein Einzelappartement.
Am 9. Dezember 2002 hat der Antragsteller eine Arbeit bei den Diakonischen Werk K. als Maurer aufgenommen. Dieses Arbeitsverhältnis hat er zum 31.12.2002 mit der Begründung gekündigt, dass er nicht damit einverstanden sei, dass er seine privaten Pullover bei der Arbeit tragen müsse und dass die Beschaffung von Arbeitsschuhen zu lange gedauert habe.
In einer Stellungnahme der Einrichtung vom 2. Januar 2003 findet sich die Äußerung, dass der Antragsteller zur Überwindung der besonderen sozialen Schwierigkeiten, die auf seinen besonderen Lebensverhältnissen beruhten, aus eigener Kraft nicht in der Lage sei. Stationäre Betreuung wird für erforderlich gehalten; ambulante Maßnahmen reichten nicht aus, um die sozialen Schwierigkeiten, in denen der Antragsteller lebe – Wohnungslosigkeit und Justizvollzugsanstaltsaufenthalte, Arbeitslosigkeit, fehlende stabile Beziehungen sowie ungeklärte wirtschaftliche Verhältnisse -, zu bewältigen. Im Rahmen der stationären Hilfe seien Beratung, Gruppenbetreuung, Hilfe zum Erlangen und zur Sicherung eines Arbeitsplatzes und Hilfe zur Gestaltung der Freizeit zu gewähren. Der Hilfesuchende wolle diese Maßnahme auch annehmen. Als Ziel der Maßnahme wird im Hilfeplan die Absicherung der Wohnsituation, Verhinderung von Obdachlosigkeit genannt; die Förderung der Kompetenz des Antragstellers zum selbständigen Wohnen zunächst innerhalb der Einrichtung mit dem langfristigen Ziel der Vorbereitung auf eine selbständige Wohnform wird angestrebt. In dem am 2. Januar 2003 auch von dem Antragsteller unterschriebenen Hilfeplan wird festgehalten, dass eine ambulante Hilfe nicht ausreichend sei, da sie die Intensität der notwendigen Unterstützung durch eine Sozialarbeiterin zur Milderung der sozialen Schwierigkeiten nicht gewährleisten würde. Eine intensive sozialarbeiterische Präsenz solle dazu beitragen, den Antragsteller bei der Bewältigung seiner primären Probleme, vor allem Absicherung der Wohnsituation, Einleitung weiterer beruflicher Maßnahmen sowie angemessenes Wirtschaften mit den vorhandenen finanziellen Mitteln, zu begleiten.
Mit Antrag vom gleichen Tag beantragte der Antragsteller die Übernahme der Kosten zur Beschaffung und Erhaltung einer Wohnung gemäß § 4 DVO zu § 72 BSHG, da er beabsichtige, demnächst aus den Diakonischen Werken K. auszuziehen.
Mit Stellungnahme vom 13. Januar 2003 wird seitens der Diakonischen Werke K. ein weiteres stationäres Hilfsangebot befürwortet, damit sich die Situation ansatzweise stabilisiere, z.B. durch eine erneute Arbeitsaufnahme in den Diakonischen Betrieben K..
Im Antrag vom 13. Januar 2003 stellt der Antragsteller erneut heraus, dass er mit Hilfe des nachgehenden Dienstes eine Wohnung führen wolle.
Mit Bescheid vom 17. Januar 2003 lehnte der Antragsgegner die Übernahme der Kosten zur Beschaffung und Erhaltung einer Wohnung gemäß § 4 DVO zu § 72 BSHG ab. Zur Begründung wird ausgeführt, dass das Wunsch- und Wahlrecht nur hinsichtlich tauglicher Hilfen gelte. Der bisherige Lebensweg des Antragstellers sei geprägt von Aufenthalten in Kinder- und Jugendheimen und Justizvollzugsanstalten. Der stationäre Aufenthalt in den Diakonischen Heimen K. e.V. solle ihm helfen, seine besonderen sozialen Schwierigkeiten zu überwinden. Der Bezug eines Einzelappartements sei bereits als fortlaufende Maßnahme zur Förderung der Kompetenz zum selbständigen Wohnen vorgesehen. Die Zielsetzung im Gesamtplan für den Bereich „Arbeit“, nämlich Begleitung bei der Eingewöhnung am Arbeitsplatz und Krisenintervention bei möglichen Konflikten, sei bereits gescheitert, da der Antragsteller – aufgrund einer seiner Auffassung nach unzureichenden Ausstattung – den Arbeitsversuch bereits zum 31.12.2002 wieder gekündigt habe, ohne sich mit der zuständigen Stelle für Qualifizierungsprojekte in Verbindung zu setzen oder die Unterstützung der betreuenden Sozialarbeiterin zur Überwindung der am Arbeitsplatz auftretenden Probleme einzufordern. Bei einer Beendigung der stationären Hilfe zum jetzigen Zeitpunkt sei sogar eine Verschlimmerung der sozialen Probleme zu befürchten. Der angestrebte Wohnversuch mit lediglich ambulanter Betreuung sei eine zur Zeit noch untaugliche Hilfe, für die keine Sozialhilfemittel zur Verfügung gestellt werden könnten. Da aber davon ausgegangen werde, dass der Antragsteller sich mit Unterstützung seiner Sozialarbeiterin weiter stabilisieren werde, werde ihm anheim gestellt, frühestens ab 01.03.2003 einen erneuten Antrag auf Übernahme der Kosten zur Beschaffung und Erhaltung einer Wohnung nach § 4 DVO zu stellen.
Am gleichen Tag hat sich der Antragsteller an das Verwaltungsgericht gewandt und beantragt, die Mietübernahme sowie die beantragte „nachgehende Betreuung“ finanziell zu gewähren. Er habe momentan die Möglichkeit, eine Wohnung anzumieten und dadurch wieder den „normalen Gang“ ins Leben zu finden.
Der Antragsteller beantragt,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Miete sowie die beantragte „nachgehende Betreuung“ zu übernehmen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Zur Begründung verweist er auf die Ausführungen in dem – bisher noch nicht angefochtenen – Bescheid vom 17. Januar 2003. Ergänzend wird ausgeführt, dass aus dem bisherigen Lebenslauf des Antragstellers deutlich werde, dass er selbst bei relativ geringen Problemen zum Verzweifeln und zum unüberlegten Aufgeben und Weglaufen neige. Die voreilige Aufgabe der Arbeit sei ein unübersehbares Indiz dafür, dass die ausreichende Stabilität für ein Leben außerhalb der Einrichtung noch nicht vorliege. Die noch vorhandenen Defizite müssten im Rahmen der stationären Betreuung weiter abgearbeitet werden, damit dann zu einem späteren Zeitpunkt eine nachgehende Betreuung in einer eigenen Wohnung ausreichend sein werde.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die zu den Akten gereichten Schriftsätze sowie den Verwaltungsvorgang Bezug genommen.
II. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat keinen Erfolg.
Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen werden, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Regelungsanordnung). Da nach Sinn und Zweck des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens die vorläufige Regelung grundsätzlich die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen darf, kann eine Verpflichtung zur Zahlung und Übernahme von Geldleistungen, wie sie im vorliegenden Fall unter anderem begehrt wird, im einstweiligen Anordnungsverfahren in der Regel nur ausgesprochen werden, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen für einen entsprechenden Anspruch (Anordnungsanspruch) glaubhaft gemacht sind und weiterhin glaubhaft gemacht wird, dass die begehrte Hilfe aus existenzsichernden Gründen so dringend notwendig ist, dass der Anspruch mit gerichtlicher Hilfe sofort befriedigt werden muss und es deshalb nicht zumutbar ist, den Ausgang eines Hauptsacheverfahrens abzuwarten (Anordnungsgrund).
Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben. Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Bewilligung der Kosten für eine Wohnung einschließlich „nachgehender Betreuung“ nicht glaubhaft gemacht.
Das Gericht versteht den Antrag als auf Hilfe nach § 72 BSHG gerichteten Antrag, da der Antragsteller diesen als solchen bezeichnet und selbst auch deutlich gemacht hat, dass er zugleich auch eine Betreuung durch den nachgehenden Dienst wünscht. Dies stellt eine Gesamtmaßnahme dar, deren Voraussetzungen sich – da es nicht um eine isolierte Wohnung im Rahmen der Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt geht – nach § 72 BSHG richten. Nach § 72 Abs. 1 ist Personen, bei denen besondere Verhältnisse mit sozialen Schwierigkeiten verbunden sind, Hilfe zur Überwindung dieser Schwierigkeiten zu gewähren, wenn sie aus eigener Kraft hierzu nicht fähig sind. Nach Abs. 2 umfasst die Hilfe alle Maßnahmen, die notwendig sind, um die Schwierigkeiten abzuwenden, zu beseitigen, zu mildern oder ihre Verschlimmerung zu verhüten, vor allem Beratung und persönliche Betreuung für den Hilfesuchenden und seine Angehörigen, Hilfen zur Ausbildung, Erlangung und Sicherung eines Arbeitsplatzes sowie Maßnahmen zur Erhaltung und Beschaffung einer Wohnung. Nach § 4 der VO zur Durchführung des § 72 BSHG vom 24. Januar 2001 sind Maßnahmen zur Erhaltung und Beschaffung einer Wohnung vor allem die erforderliche Beratung und persönliche Unterstützung. Gemäß Abs. 2 umfasst die Hilfe, soweit sie Maßnahmen nach Abs. 1 erfordert, auch sonstige Leistungen zur Erhaltung und Beschaffung einer Wohnung nach dem 2. Abschnitt des BSHG, insbesondere nach § 15a BSHG. Geeignet und notwendig, um die sozialen Schwierigkeiten abzuwenden oder zu mildern, ist der Bezug der selbst gesuchten Wohnung, wie von dem Antragsteller begehrt, auch bei nachgehender Betreuung jedoch nicht. Der Antragsteller hat nicht dargelegt und glaubhaft gemacht hat, dass er mit Hilfe nur ambulanter Betreuung seine sozialen Probleme bewältigen kann. Angesichts der Kumulation seiner Probleme – Wohnungslosigkeit, Arbeitslosigkeit, fehlende stabile Beziehungen sowie ungeklärte wirtschaftliche Verhältnisse – ist es erforderlich, den Antragsteller in eine engmaschige Beratungsbeziehung einzubinden, um nach und nach tragfähige Bindungen aufzubauen, die ihm ein eigenständiges Leben mit tragenden Strukturen ermöglichen. Dies hat der Antragsteller auch zunächst selbst so gesehen, wie sich aus dem von ihm am 2. Januar 2003 mit unterschriebenen Gesamtplan ergibt. Das Gericht teilt die Auffassung des Antragsgegners, dass aus dem Lebenslauf des Antragstellers deutlich wird, dass er selbst bei relativ geringen Problemen zum Verzweifeln und unüberlegten Aufgeben und Weglaufen neigt. Dafür spricht auch die schnelle Kündigung des Arbeitsverhältnisses, der als Grund die nach Auffassung des Antragstellers unzureichende Ausstattung mit Arbeitskleidung zugrunde lag. Insoweit hätte es nahe gelegen, sich mit der zuständigen Stelle für Qualifizierungsprojekte in Verbindung zu setzen oder die Unterstützung der zuständigen Sozialarbeiterin einzufordern.
Die nahezu permanente Erreichbarkeit von Sozialarbeitern und das Versorgtsein in der Einrichtung erscheinen daher als die geeignete Hilfeform. Im Falle einer nachgehenden Betreuung bei Bezug einer Wohnung außerhalb der Einrichtung wäre ein Ansprechpartner in der Regel nur zu bestimmten Zeiten an Werktagen erreichbar. Der Antragsteller müsste sich selbst komplett versorgen, sein Geld selber einteilen und die Pflichten als Mieter einhalten. Dies dürfte für den Antragsteller angesichts seiner bisherigen Lebensweise mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein, da er – abgesehen von wenigen Tagen – bisher noch keine eigene Wohnung bewohnt hat. Nach alledem ist das Wunsch- und Wahlrecht gemäß § 3 BSHG im Rahmen der Hilfe gemäß § 72 BSHG eingeschränkt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 14. September 1972, BVerwGE 40, 343-346) muss sich der Wunsch des Hilfesuchenden, um angemessen im Sinne des § 3 Abs. 2 Satz 1 BSHG zu sein, auf ein taugliches Mittel beziehen. Der Bezug einer Wohnung auf dem freien Markt einschließlich nachgehender Betreuung stellt jedoch - wie o.a. – zur Zeit noch kein taugliches Mittel im Rahmen der Hilfe nach § 72 BSHG dar.
Das Gericht ist – ebenso wie der Antragsgegner – der Auffassung, dass die Stabilisierung des Antragstellers permanenter Beobachtung bedarf und dass sich bei Anzeichen für eine weitere Stabilisierung – etwa durch erneute Arbeitsaufnahme, die dann auch länger durchgehalten wird – relativ schnell eine Wohnform außerhalb der Einrichtung einschließlich nachgehender Betreuung als geeignete Hilfeform erweisen kann.
Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz ist darum zurückzuweisen. Die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens ergibt sich aus § 154 Abs. 1 i.V.m. § 188 Satz 2 VwGO.