Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 22.01.2003, Az.: 8 A 444/01

Asyl; Binnenflüchtling; Drittstaat; Filtrationslager; Fluchtalternative; Referenzfälle; Russische Föderation; Russland; Rückkehrprognose; Sippenhaft; Tschetschenien; Täuschung der Auslandsvertretung; Wolgograd

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
22.01.2003
Aktenzeichen
8 A 444/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 47906
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Tschetschenische Volkszugehörige, die sich in exponierter Weise für die tschetschenische Unabhängigkeit eingesetzt haben, sind in Tschetschenien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von politischer Verfolgung bedroht und verfügen nicht über eine inländische Fluchtalternative in der Russischen Föderation.

Tenor:

Der Bescheid des Bundesamtes vom 28. August 2001 wird insoweit aufgehoben, als er sich auf den Kläger zu 1) bezieht.

Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger zu 1) als Asylberechtigten anzuerkennen und zu seinen Gunsten festzustellen, dass hinsichtlich der Russischen Föderation die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kläger zu 2) bis 5) tragen vier Fünftel der außergerichtlichen Kosten der Beklagten. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu 1). Im Übrigen findet unter den Beteiligten eine Erstattung außergerichtlicher Kosten nicht statt. Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben. 

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der jeweilige Vollstreckungsschuldner kann eine Vollstreckung durch den jeweiligen Vollstreckungsgläubiger gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils festgesetzten Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

1

Die Kläger sind russische Staatsangehörige tschetschenischer Volkszugehörigkeit.

2

Der Kläger zu 1) reiste am 17. oder 18. Januar 2001 mit einem Bus von Moskau über Polen ins Bundesgebiet ein. Er befand sich damals im Besitz eines von der Deutschen Botschaft in Moskau am 15. Januar 2001 für die Zeit vom 16. Januar bis zum 16. Februar 2001 ausgestellten Besuchervisums. Am 02. März 2001 forderte ihn das Landeseinwohneramt Berlin zur Ausreise bis zum 23. März 2001 auf. Dieser Aufforderung kam der Kläger zu 1) jedoch nicht nach. Nach eigenen Angaben hielt er sich in der Folgezeit illegal bei seinem Bruder I. in Holzminden auf.

3

Die Kläger zu 2) bis 5) gelangten mit einem Bus von Moskau herkommend über ihnen unbekannte Länder ins Bundesgebiet. Am 01. Juli 2001 seien sie in Berlin angekommen.

4

Am 04. Juli 2001 stellten die Kläger Asylanträge und am 12. Juli 2001 wurden die Kläger zu 1) und zu 2) bei dem Bundesamt angehört.

5

In diesem Rahmen gab der Kläger zu 1) laut Niederschrift Folgendes an: Er gehöre dem Teip Chermoi an und stamme aus J. im Vedenski-Rajon in Tschetschenien. Zehn Jahre habe er in J. die Mittelschule besucht und mit dem mittleren Schulabschluss beendet. Anschließend habe er in K. vier Semester Chemie studiert. Er sei dann zum Wehrdienst eingezogen worden und haben diesen von 1982 bis 1984 abgeleistet. Er sei in Kasachstan, in Baikonur , auf dem dortigen Raketengelände stationiert gewesen. Er habe aber nicht an der Erprobung von Raketen, sondern als Elektriker gearbeitet. Nach seiner Rückkehr von der Armee sei er in J. Lehrer an der dortigen Schule geworden. Fünf Jahre habe er als Lehrer gearbeitet und sei anschließend bei seinem Bruder, der selbständig gewesen sei und eine Ziegelei betrieben habe, bis 1992 in der Produktion tätig gewesen. Danach sei er einem Ruf an die Universität in Grosny gefolgt und als Dozent an einer Außenstelle der Universität Oil-Institut Grosny in J. tätig gewesen. Bis jetzt sei er dort offiziell als Dozent beschäftigt. Im ersten Tschetschenienkrieg hätten er und alle seine Brüder in Tschetschenien gekämpft, zunächst als Freischärler und später auch in der tschetschenischen Armee. Sie seien nicht gegen russische Bewohner in Tschetschenien vorgegangen, sondern nur gegen die russische Armee. Zwei Jahre, bis 1996, sei er dabei gewesen. Nach dem ersten Krieg habe man in J. nicht mehr richtig arbeiten können. Es sei alles zerstört gewesen, auch die Universität. So sei es nur noch pro forma gewesen, dass man Arbeit gehabt habe. In Tschetschenien habe er keine Probleme mit staatlichen Stellen gehabt. Er habe L. selbst gekannt, sei auch bei ihm zu Hause gewesen und sie hätten freundschaftliche Beziehungen zueinander gehabt. Im Frühjahr 1996 sei L. ums Leben gekommen. Er solle bei einem Raketenangriff, bei dem er telefoniert habe, ums Leben gekommen sein. Der Grund für seinen Asylantrag liege darin, dass nach ihm und seinen Brüdern gesucht worden sei, als bekannt geworden sei, dass sie in Tschetschenien gegen die Russen gekämpft hätten. Es sei bekannt, dass Menschen, die gegen die russische Armee gekämpft hätten, von den Russen verhaftet und in Lager gesteckt würden. Es komme auch vor, dass man diese ehemaligen Kämpfer umbringe. Deshalb seien er und seine Familie im August 2000 von J. in die Oblast Wolgograd geflohen, wo sie im Ort M., gewohnt hätten. Es sei sehr schwierig, dort eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. So stehe es auch in dem Gesetz, das er in Auszügen zur Akte gegeben habe, dass Tschetschenen auf keinen Fall angemeldet werden dürften. Er habe aber für sich und seine Familie eine Propiska erhalten, weil er jemanden bestochen und ihm 1.500 Dollar bezahlt habe. Nachdem sie in der Oblast Wolgograd gewesen seien, hätten sie von Verwandten in Tschetschenien erfahren, dass in J., welches 60 km von Grosny entfernt liege, nach ihnen gesucht werde. In der Oblast Wolgograd seien sie ebenfalls gefährdet gewesen. Er habe davon gewusst, dass es Kontrollen gebe und die Leute die Häuser gezielt nach ehemaligen Kämpfern in Tschetschenien durchsuchten. Deshalb habe er auch seine Familie noch rechtzeitig nach N. bringen können. Nur drei Monate hätten sie sich in O. aufgehalten. Dann habe er seine Familie nach N. gebracht und sei verreist. Seine Ehefrau habe sich, nachdem er sie im November nach N. begleitet hätte, dort im Dorf P. i aufgehalten. Die Kinder hätten bei ihrer Mutter gelebt. Er selbst habe sich vom November 2000 bis zum Januar in Saratow und Moskau aufgehalten, bis er das Visum für die Ausreise nach Deutschland erhalten habe. In den verschiedenen Orten in Saratow und Moskau habe er sich immer nur vorübergehend bei Verwandten aufgehalten. Auf Dauer habe er dort aber auch nicht bleiben können, weil er gefährdet gewesen wäre und den Bekannten und Freunden nicht hätte zumuten können, dort zu bleiben. Zwischen 1996 und 2000 sei ihm persönlich nichts zugestoßen, aber er sei in Wolgograd und auch in Saratow einmal für kurze Zeit festgenommen worden. In Moskau habe er von Freunden und Bekannten erfahren, dass in Brandenburg eine Firma mit dem Namen Q. hoch verschuldet sei, und sei auf Einladung dieser Firma nach Deutschland eingereist. Er habe die Firma jedoch letztlich nicht erworben, da er im Bundesgebiet erfahren habe, dass sie nur von einem Deutschen geleitet werden könne. Er könne nach  Tschetschenien und auch nach Russland nicht zurückkehren, weil man dort nicht bleiben könne. Hier in der Bundesrepublik habe er erfahren, dass sich in seiner Abwesenheit auch bei seiner Frau Leute eingefunden hätten, die immer nach seinem Aufenthalt gefragt hätten. Seine Frau sei zwar zunächst in Dagestan ansässig gewesen, dann aber vor ihrer eigenen Ausreise noch einmal nach J. zurückgekehrt. Dort sei sie von diesen Leuten aufgesucht worden.

6

Die Klägerin zu 2) gab im Zuge der Anhörung laut Protokoll Folgendes an: Sie gehöre ebenfalls dem Teip Chermoi an. Sie habe vier Schwestern und vier Brüder, eine Schwester lebe in Wolgograd, eine in Kasachstan und die übrigen Geschwister in J.. Nach dem Besuch der 10-jährigen Mittelschule habe sie 1989 eine zweijährige Ausbildung als Krankenschwester an der Krankenpflegeschule in Grosny absolviert. 1991 habe sie geheiratet. In Tschetschenien hätten sie wirtschaftlich sehr gut gelebt. Wie ihr Ehemann bereits angegeben habe, seien sie zuletzt in R. offiziell angemeldet gewesen. Nachdem sie aus der Oblast Wolgograd weggegangen seien, habe sie nur einen Monat in Dagestan gelebt. Als dann ihre Ersparnisse zu Ende gegangen seien, habe ihr Schwiegervater sie (und die Kinder) wieder nach J. zurückgeholt. Dort in J. sei sie einmal festgenommen worden, weil behauptet worden sei, dass sie Kämpfer im Krankenhaus versorgt hätten. Dabei sei auch nach ihrem Mann und seinen Brüdern gefragt worden. Man habe sie bedroht und ihr erklärt, falls sie zu ihren  Kindern zurückkehren wolle, solle sie sagen, wo ihr Mann sich tatsächlich aufhalte. Sie habe dann gesagt, er sei in Wolgograd, obwohl er zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr dort gewesen sei. Daraufhin sei sie am nächsten Tag wieder freigelassen worden. Bei der Freilassung sei ihr gesagt worden, man versuche jetzt, ihren Mann zu finden. Wenn nicht, komme man wieder, nehme sie und ihre Kinder als Geisel und stecke sie in ein Lager, bis ihr Mann zurückkehre. In der Folgezeit habe sie angenommen, dass sie ihren Mann in Wolgograd tatsächlich nicht gefunden hätten und wohl deshalb zwei ihrer Onkel festgenommen und in ein Lager gesteckt worden seien. Die Onkel seien dort zwei Monate lang gequält worden, bis sie Geld zusammen gehabt hätten, um sie wieder freizukaufen. In der Folgezeit seien die Soldaten immer aggressiver gegen sie und ihre Kinder geworden, weil sie einfach nicht den Aufenthalt ihrer Schwager und ihres Mannes herausbekommen hätten. Sie hätten deshalb sehen müssen, schnell aus Tschetschenien herauszukommen. Sie habe auch nicht zu ihrer Schwester nach Russland gekonnt, die schon sehr lange in Wolgograd lebe, denn dort sei auch schon nach ihrem Mann und ihrem Schwager gesucht worden. Sie habe nur Angst um ihre Kinder gehabt und Angst, in Tschetschenien zu bleiben. Deshalb seien sie dann geflohen. Am 20. oder 21. Juni habe sie mit ihren Kindern J. in einem Pkw verlassen. Sie seien zunächst nach N. gefahren. Dort habe sie von ihrem ersten Aufenthalt noch jemanden gekannt, bei dem sie untergekommen sei. Von N. aus seien sie mit dem Zug bis nach Moskau gefahren und dort habe ein Freund ihres Mannes die Ausreise in die Bundesrepublik geregelt. Wie ihr Mann ihr später gesagt habe, habe er für ihre und der Kinder Ausreise 1.800 US-Dollar bezahlen müssen.

7

Mit Bescheid vom 28. August 2001 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge die Anträge der Kläger auf Anerkennung als Asylberechtigte ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1 und 53 AuslG nicht vorlägen. Die Kläger wurden unter Fristsetzung aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen und für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisefrist wurde ihnen die Abschiebung in die Russische Föderation angedroht.

8

Gegen den ihnen am 30. August 2001 zugestellten Bescheid haben die Kläger am 06. September 2001 den Verwaltungsrechtsweg beschritten.

9

Zur Begründung ihrer Klage beziehen sie sich auf ihre Angaben beim Bundesamt, machen geltend, dass man der Klägerin zu 2) mit Sippenhaft gedroht habe und für sie, die Kläger, auch an verschiedenen Orten in Saratow und Moskau keine Möglichkeit eines gefahrlosen Daueraufenthalts bestanden habe. Zur Glaubhaftmachung der Teilnahme des Klägers zu 1) am ersten Tschetschenien-Krieg lege man die Ablichtung eines Dokumentes vor, bei dem es sich um ein Bestätigungsschreiben handele, in dem der Kläger zu 1) namentlich benannt werde und dass seine Teilnahme am ersten Tschetschenien-Krieg belege. Das Dokument habe der Kläger zu 1) vor ca. drei bis vier Monaten von seinem Bruder S. ausgehändigt erhalten. Dieser befinde sich ebenfalls in der Bundesrepublik. S. habe diese Unterlagen im Frühjahr des Jahres 2002 erhalten. Er sei der ältere Bruder des Klägers zu 1) und, wie durch einen entsprechenden Ausweis der tschetschenischen Republik belegt werde, dort Oberstleutnant gewesen. Weitere vorgelegte Dokumente seien offizielle Danksagungen und Nachweise von Staatsauszeichnungen für eine Teilnahme am tschetschenischen Unabhängigkeitskrieg sowie ein medizinischer Bericht, der die Verwundung des Bruders des Klägers zu 1) belege. Dieser Bruder habe im Jahre 1997 auch zum Amt des stellvertretenden Präsidenten der tschetschenischen Republik kandidiert. Dies sei als Hintergrund bedeutsam, da der Kläger zu 1) L. persönlich gekannt habe, aufgrund seines Studiums in Tschetschenien als Intellektueller gelte und deshalb die Annahme nahe liege, er werde von den russischen Sicherheitskräften auch als politisch aktiv eingeschätzt. Nach der aktuellen Rechtsprechung des VG Braunschweig müssten Personen, die im Zusammenhang mit ihrem früheren Einsatz im ersten Tschetschenienkrieg bekannt seien, vor dem Hintergrund der Ereignisse in Moskau vom Oktober 2002 gegenwärtig damit rechnen, in Tschetschenien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politisch verfolgt zu werden. Dies gelte darüber hinaus dann, wenn politische Aktivitäten den russischen Sicherheitskräften bekannt geworden seien.

10

Wegen weiterer Einzelheiten der Klagebegründung wird auf den Schriftsatz der Kläger vom 10. Januar 2003 verwiesen.

11

Die Kläger beantragen,

12

den Bescheid der Beklagten vom 28.08.2001 – Az.: 2 675 950-160 – aufzuheben sowie die Beklagte zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1, hilfsweise § 53 AuslG gegeben sind.

13

Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf die Begründung des angefochtenen  Verwaltungsaktes,

14

die Klage abzuweisen.

15

Die Kläger zu 1) und zu 2) sind in der mündlichen Verhandlung informatorisch angehört worden. Wegen der Ergebnisse dieser Anhörungen wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

16

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und den Verwaltungsvorgang der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

17

Die zulässige Klage hat lediglich in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg und ist im Übrigen unbegründet.

18

Der Kläger zu 1) hat Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter, weil seiner Berufung auf Art. 16a Abs. 1 GG die Drittstaatenregelung nicht entgegensteht, er die Russische Föderation als politisch Vorverfolgter verlassen hat und im Falle einer Rückkehr dorthin vor politischer Verfolgung nicht hinreichend sicher wäre.

19

Der Kläger zu 1) kann sich auf Art. 16a Abs. 1 GG berufen, obwohl er über Polen, und damit einen sicheren Drittstaat, ins Bundesgebiet einreiste. Die Drittstaatenregelung des § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG findet nämlich nach § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AsylVfG keine Anwendung, wenn der asylsuchende Ausländer im Zeitpunkt seiner Einreise in den sicheren Drittstaat im Besitz einer Aufenthaltsgenehmigung für die Bundesrepublik Deutschland war. Zum Zeitpunkt seiner Einreise nach Polen am 16., 17. oder 18. Januar 2001 befand sich der Kläger zu 1) im Besitz einer solchen Aufenthaltsgenehmigung, weil sie ihm durch die Deutsche Botschaft in Moskau unter dem 15. Januar 2001 in der Form des Sichtvermerks, und zwar als Besuchervisum für die Zeit vom 16. Januar bis zum 16. Februar 2001, erteilt worden war. Dass eine Täuschung der Auslandsvertretung über den wahren Aufenthaltszweck (Asylbeantragung und Daueraufenthalt statt Besuchsaufenthalt) vorgelegen haben dürfte, steht der Anwendung des § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 AsylVfG nicht entgegen (vgl. Hailbronner, AuslR, Stand: August 2002, § 26a AsylVfG Rn. 54).

20

Der Kläger zu 1) hat die Russische Föderation als politisch Vorverfolgter verlassen. Das Gericht folgt der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes, die sich in den Absätzen eins bis vier auf der Seite 4 des Bescheides vom 28. August 2001 findet, und sieht insoweit von einer Darstellung seiner Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylVfG).

21

Für die Entscheidung der Frage, ob ein Asylsuchender als Verfolgter ausgereist ist, ist darauf abzustellen, ob er auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar bevorstehender politischer Verfolgung seinen Heimatstaat verlassen hat, also aus einer dadurch hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist (Hailbronner, a.a.O., Art. 16a GG Rn. 177). Eine solche ausweglose Lage kann unproblematisch in den Fällen bejaht werden, in denen der Asylsuchende landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von politischer Verfolgung bedroht war. Stand ihm solche Verfolgung jedoch lediglich in einem bestimmten Landesteil unmittelbar bevor, so bedarf es zunächst einer rückschauenden Prüfung der Frage, ob er nach dem Verlassen dieses Landesteils in anderen Landesteilen über eine inländische Fluchtalternative verfügte, so dass er dort insbesondere hinreichende Sicherheit vor politischer Verfolgung finden konnte. Nur wenn dem regional verfolgten Asylsuchenden auch ein Aufenthalt in anderen Landesteilen nicht zumutbar war, kann er beim Verlassen des gesamten Staatsgebiets des Verfolgerstaates als politisch vorverfolgt angesehen werden (vgl. Marx, AsylVfG, 4. Aufl., § 1 Rn. 39 f., m.w.N.).

22

Der Kläger zu 1) hat Tschetschenien im August 2000 auf der Flucht vor unmittelbar bevorstehender politischer Verfolgung verlassen. Er befürchtete nämlich zu Recht, nach dem Bekanntwerden seiner und seiner Brüder Teilnahme am ersten Tschetschenienkrieg und vor dem Hintergrund dessen, was seine Familie auch in der Folgezeit für die Sache der tschetschenischen Unabhängigkeitskämpfer getan hatte, festgenommen, in ein sogenanntes „Filtrationslager“ verbracht und dort in asylerheblicher Weise misshandelt zu werden. Unter Berücksichtigung des herabgestuften Beweismaßes und des persönlichen Eindrucks, den das Gericht in der mündlichen Verhandlung von dem Kläger zu 1) gewonnen hat, ist nämlich von der Wahrheit seiner folgenden Angaben zum Sachverhalt auszugehen: Der Vater des Klägers zu 1) ist eine in Tschetschenien bekannte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens und schon im Jahre 1991 als Mitstreiter T. bei der Verfechtung der tschetschenischen Unabhängigkeit aufgetreten. Der Vater war außerdem tschetschenischer Parlamentsabgeordneter und Repräsentant verschiedener Dörfer in einer Versammlung aller tschetschenischen Stämme in Grosny. Im ersten Tschetschenienkrieg kämpften der Kläger zu 1.) und seine Brüder auf tschetschenischer Seite, wobei der ältere Bruder des Klägers zuletzt im Range eines Oberstleutnants als stellvertretender Regimentskommandeur tätig war. Der Kläger zu 1) selbst war persönlich mit dem tschetschenischen Präsidenten U. bekannt und stellte der international nicht anerkannten tschetschenischen Regierung ein von ihm besessenes Erholungscamp als provisorischen Regierungssitz zur Verfügung. Vor Ausbruch des zweiten Tschetschenienkrieges verpflichtete der tschetschenische Präsident Maschadow den älteren Bruder des Klägers zu 1) kurzzeitig erneut zum Militärdienst und vertraute ihm eine Inspektion der tschetschenischen Streitkräfte an. Aufgrund politischer Differenzen zwischen der Familie des Klägers zu 1) auf der einen und der tschetschenischen Führung auf der anderen Seite leisteten der Kläger zu 1) und seine Brüder im zweiten Tschetschenienkrieg zwar nicht noch einmal aktiven Militärdienst. Nachdem der Krieg ausgebrochen war, unterstützten sie aber die tschetschenische Seite nach besten Kräften, indem die Familie beispielsweise bei der Beschaffung von Lebensmitteln und Waffen behilflich war und Räumlichkeiten für die tschetschenischen Truppen zur Verfügung stellte.

23

Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass der Kläger zu 1) den in Tschetschenien tätigen Sicherheitsorganen der Russischen Föderation als Angehöriger einer Russland gegenüber illoyalen tschetschenischen Elite erschien. Dementsprechend ist auch glaubhaft, dass die Sicherheitskräfte der Russischen Föderation in Tschetschenien nach dem Kläger zu 1) und dessen Brüdern zu suchen begannen.

24

Es entspricht der Erkenntnislage, dass zur Separation, Ausforschung und weiteren „Behandlung“ solcher Personen, die bei den Sicherheitskräften der Russischen Föderation im Verdacht stehen, sich aktiv am tschetschenischen Unabhängigkeitskampf zu beteiligen, sogenannte „Filtrationspunkte“ und „Filtrationslager“ eingerichtet worden sind. Dort wurden und werden Häftlinge zum Teil in Erdlöchern festgehalten und gefoltert (vgl. AA, ad hoc-Lagebericht v. 24.04.2001, I. und II. 4.; Lagebericht v. 28.08.2001, II. 3.; ad hoc-Lagebericht v. 07.05.2002, I.; ad hoc-Lagebericht v. 27.11.2002, I.; ai, Stellungnahme v. 08.10.2001 [zum ad hoc-Lagebericht des AA v. 24.04.2001], 3. und v. 20.02.2002 gegenüber dem VG Braunschweig, Seiten 3, 4). Die mit der „Filtration“ verbundenen Übergriffe sind als politische Verfolgung zu werten. Sie werden nämlich in Anknüpfung an eine zumindest vermeintliche gegen die Zugehörigkeit Tschetscheniens zur Russischen Föderation gerichtete politische Überzeugung zugefügt, die die russischen Sicherheitskräfte den Häftlingen zumindest zunächst einmal pauschal unterstellen. Die Übergriffe müssen als Erscheinungsform eines Gegenterrors qualifiziert werden, mit dem in der Absicht, den Widerstandswillen der wehrfähigen Bevölkerung Tschetscheniens insgesamt zu brechen, auch solche Personen überzogen werden, denen eine aktuelle Beteiligung an gewaltsamen Aktivitäten nicht nachzuweisen ist. Es handelt sich hier nicht mehr um Maßnahmen und Methoden, die mit der auch der Russischen Föderation grundsätzlich zuzubilligenden Befugnis gerechtfertigt werden können, den eigenen territorialen Bestand und die Bevölkerung unter Einsatz polizeilicher und militärischer Mittel vor Hochverrat bzw. Terrorismus zu schützen. Vielmehr liegt jener zielgerichtete Missbrauch der Staatsgewalt vor, der das Wesen politischer Verfolgung ausmacht. Dieser rechtlichen Bewertung des Geschehens steht nicht entgegen, dass sich ein Staat grundsätzlich von ihm missbilligte Exzesstaten einzelner Amtsträger nicht zurechnen lassen muss. Nach der bereits oben angegebenen Erkenntnislage stellen sich die Geschehnisse in den „Filtrationspunkten“ und „Filtrationslagern“ nämlich nicht als vereinzelte Auswüchse individuellen Handelns einiger Staatsdiener dar. Vielmehr ist die Problematik bereits seit geraumer Zeit bekannt, ohne dass sich die politische Führung Russlands willens und in der Lage zeigt, wirksame Abhilfe zu schaffen. Es wurde und wird hier von der Staatsführung unterlassen einzuschreiten, obwohl dies nicht nur möglich, sondern vor allem rechtlich und sittlich geboten wäre.

25

Gegenüber der ihm in Gestalt der Festnahme und Verbringung in ein „Filtrationslager“ in Tschetschenien unmittelbar drohenden politischen Verfolgung verfügte der Kläger zu 1) auch nicht über eine inländische Fluchtalternative innerhalb der Russischen Föderation. Etwas Gegenteiliges kann nicht daraus gefolgert werden, dass es ihm zunächst gelang, sich mit seiner Familie in V., W., anzusiedeln und dort sogar eine Registrierung und einen Auslandspass für sich selbst zu erhalten. Denn das Gericht hat in der mündlichen Verhandlung die Überzeugung gewonnen, dass die Einlassung des Klägers zu 1) zutreffend ist, dass er sowohl die Registrierung als auch den Pass lediglich gegen Bestechung erlangte. Nicht zu Unrecht fürchtete der Kläger zu 1) trotz dieses Passes Kontrollen von Personen kaukasischer Herkunft in der Russischen Föderation, die bereits vor seiner Ausreise landesweit (vgl. AA, ad hoc-Lagebericht v. 24.04.2001, II. 6.) – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität – verbreitet waren. Eine Festnahme des Klägers zu 1) mit anschließender Rückfrage in Tschetschenien, um wen genau es sich eigentlich handele, hätte nämlich ohne weiteres in die Überstellung in ein „Filtrationslager“ einmünden können. Soweit sich in der Niederschrift der Anhörung bei dem Bundesamt die Angabe findet, der Kläger zu 1) sei zweimal festgenommen, aber jeweils wieder freigelassen worden, handelt es sich zur Überzeugung des Gerichts um ein Missverständnis, das in der mündlichen Verhandlung hinreichend aufgeklärt werden konnte. Dagegen, dass der Kläger zu 1) den Sicherheitskräften tatsächlich in die Hände fiel, ohne dass dies mit nachteiligen Folgen für ihn verbunden gewesen wäre, spricht auch, dass der – getrennt angehörten – Klägerin zu 2) von solchen Festnahmen nichts bekannt war. Da der Kläger zu 1) landesweit in der Russischen Föderation mit Kontrollen rechnen musste und jede dieser Kontrollen zu einer Rückfrage nach Tschetschenien und damit dem Bekanntwerden seiner Vita hätte führen können, konnte die hinreichende Sicherheit vor politischer Verfolgung bereits vor seiner Ausreise aus der Russischen Föderation nicht bejaht werden. Deshalb entfiel – ungeachtet der wirtschaftlichen Möglichkeiten des Klägers zu 1) – die inländische Fluchtalternative.

26

Auch im Falle einer nunmehrigen Rückkehr wäre der Kläger zu 1) vor politischer Verfolgung nicht hinreichend sicher. Es ist nämlich angesichts der sehr angespannten Atmosphäre im Zusammenhang mit den Vorfällen in Tschetschenien und der Geiselnahme in Moskau im Oktober 2002 davon auszugehen, dass die russischen Behörden Personen besondere Aufmerksamkeit widmen, denen sie ein besonderes Engagement in der Tschetschenienfrage unterstellen (vgl. AA, ad hoc-Lagebericht v. 27.11.2002, III. 1.). Das ist bei dem Kläger zu 1), der nicht nur auf tschetschenischer Seite gekämpft hat, sondern sich – wie andere Angehörige seiner Familie – auch sonst in exponierter Weise für die tschetschenische Sache einsetzte, der Fall.

27

Nach alldem ist eine Verpflichtung der Beklagten auszusprechen, den Kläger zu 1) als Asylberechtigten anzuerkennen.

28

Der Kläger zu 1) hat auch Anspruch darauf, dass die Beklagte zu seinen Gunsten feststellt, dass hinsichtlich der Russischen Föderation die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen.

29

Das Gericht folgt der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes, die sich in den (durch Leerzeilen abgetrennten) Absätzen vier und fünf auf der Seite 3 des Bescheides vom 28. August 2001 findet. Da der Kläger zu 1) – wie dargelegt – die Russische Föderation als politisch Vorverfolgter verlassen hat und vor politischer Verfolgung im Falle seiner Rückkehr nicht hinreichend sicher wäre, liegen die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vor.

30

Die den Kläger zu 1) betreffenden negativen Feststellungen des Bundesamtes hinsichtlich der Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG werden von dem Gericht klarstellend (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 26.06.2002 – BVerwG 1 C 17.01 -, zitiert nach Juris) aufgehoben.

31

Aufzuheben ist auch die gegen den Kläger zu 1) ergangene Abschiebungsandrohung, weil dieser als Asylberechtigter anzuerkennen ist.

32

Die Kläger zu 2) bis 5) haben keinen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte. Insoweit folgt das Gericht der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes, die sich in den letzten beiden Absätzen auf der Seite 2 und den ersten beiden (durch Leerzeilen abgetrennten) Absätzen auf der Seite 3 des Bescheides vom 28. August 2001 findet.

33

Die Kläger zu 2) bis 5) haben auch keinen Anspruch auf eine Feststellung der Beklagten, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen.

34

Dabei kann dahinstehen, ob in Tschetschenien den Klägern zu 2) bis 5) kollektive politische Verfolgung in Anknüpfung an ihre Volkszugehörigkeit oder individuelle politische Verfolgung drohte und/oder droht.

35

Die vielfachen Berichte über massive Menschenrechtsverletzungen gegenüber tschetschenischen Volkszugehörigen in Tschetschenien - insbesondere über Angriffe russischer Truppen auf Zivilisten, über „Säuberungsaktionen“ der russischen Streitkräfte in verschiedenen Orten Tschetscheniens im Januar und März 2002 und über so genannte Filtrationslager und -punkte an der tschetschenisch-inguschetischen Grenze und in und um Grosny, in denen Folterungen, Schläge und Vergewaltigungen an der Tagesordnung sind, über so genannte Todesschwadronen und über Fälle von Verschwindenlassen von Menschen - legen zwar weiterhin die Annahme einer Gruppenverfolgung nahe (vgl. ad hoc-Lageberichte des Auswärtigen Amtes zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in der Russischen Föderation (Tschetschenien) vom 15.11.2000, 24.04.2001, 07.05.2002 und 27.11.2002; amnesty international, Stellungnahme vom 08.10.2001 zum ad hoc-Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24.04.2001, im Folgenden zitiert: ai-Stellungnahme vom 08.10.2001).

36

Das Gericht bejaht aber für die Kläger zu 2) bis 5) im Einklang mit der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (B. v. 27.11.2002 – 13 LA 321/02 -) auch nach den Geschehnissen um die Geiselnahme in einem Moskauer Musical-Theater gegenüber der hier für Tschetschenien offen gelassenen Gefahr regionaler, individueller oder kollektiver politischer Verfolgung eine inländische Fluchtalternative insbesondere in Wolgograd, aber auch in anderen Landesteilen der Russischen Föderation mit Ausnahme Inguschetiens (für das diese Frage offen gelassen wird) und westlicher Großstädte wie St. Petersburg und Moskau.

37

Gemäß Artikel 27 Abs. 1 der Verfassung der Russischen Föderation besteht das Recht auf Freizügigkeit und freie Wohnungsnahme oder zeitweiligen Aufenthalt in der gesamten Russischen Föderation. Dieses Recht ist vom Verfassungsgericht der Russischen Förderation mit Beschluss 02.02.1998 bestätigt worden (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.09.1998 an das OVG NW). 1993 wurde durch Gesetz die so genannte Wohnberechtigung „Propiska“ abgeschafft und durch die einfache Anmeldepflicht „Registrza“ ersetzt (Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15.09.1998 an das OVG NW). In der Praxis ist diese Freizügigkeit  häufig jedoch nicht gewährleistet (AA, ad hoc-Lagebericht vom 17. 11. 2002, III. 2.). Oft wird de facto die „Propiska“ noch praktiziert, wobei insbesondere den Tschetschenen ein Zuzug erschwert wird, indem ihnen die Registrierung versagt oder diese an zusätzliche Bedingungen geknüpft wird (Auskunft der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte an das VG Schleswig vom 20.12.2000).

38

Allerdings bestehen verlässliche Auskünfte über Zuzugserschwerungen im Wesentlichen nur für Moskau, St. Petersburg und andere russische Großstädte im Westen. Für andere – vielleicht ländliche und wirtschaftlich weniger interessante – Gebiete gibt es keine genauen Auskünfte. Insoweit berichtet der UNHCR (Stellungnahme vom Januar 2002) neben den Zuzugsstopps für Moskau und andere Großstädte nur über bestehende Hemmnisse in einigen nordkaukasischen Republiken (siehe hierzu auch: Bericht des Menschenrechtszentrums Memorial, Migration und Recht: Nach der Flucht aus Tschetschenien, Russland: Zur Situation von Menschen, die aus Tschetschenien geflohen sind, Moskau 2002 – im Folgenden zitiert: Memorialbericht 2002 – Seite 30). Es verbietet sich daher eine Generalisierung schon in Anbetracht der ungeheuren Ausdehnung der Russischen Föderation.

39

In Wolgograd und den übrigen als inländische Fluchtalternative in Betracht zu ziehenden Landesteilen der Russischen Föderation sind die Kläger zu 2) bis 5) zur Überzeugung des Gerichts vor politischer Verfolgung hinreichend sicher. Insoweit teilt das Gericht die pauschale Einschätzung von amnesty international, es könne für Personen kaukasischer Abstammung generell nicht mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden, dass diese auch in anderen Teilen der Russischen Föderation Opfer von polizeilicher Willkür, Folter und Misshandlung werden (ai, Stellungnahmen vom 08.10.2001 und 20.02.2002, Seite 6) schon angesichts der enormen Größe der russischen Förderation nicht. Zwar wird auch für andere Teile der Russischen Föderation häufig über diskriminierende Kontrollen, kurzzeitige Verhaftungen und Hausdurchsuchungen berichtet. In südrussischen Städten soll es zu Verhaftungen wegen fehlender Registrierungen gekommen sein. Auch soll generell eine angespannte, feindliche Stimmung herrschen, die mit antitschetschenischen Ressentiments und Diskriminierungen einhergeht (ai-Stellungnahme vom 08.10.2001 und vom 20.02.2002, Seite 4). Übergriffe sollen infolge der Bombenattentate auf Wohnhäuser aber hauptsächlich in Moskau vorgekommen sein und noch vorkommen. Dort bestand die Verpflichtung zu einer erneuten Registrierung, die dann häufig verweigert wurde (UNHCR-Stellungnahme vom Januar 2002). Auch kam es zu massiven Kontrollen kaukasisch aussehender Menschen und zu deren Verhaftung (ai-Stellungnahme vom 08.10.2001). Die nach den Bombenattentaten von Moskau vorkommende Praxis, Tschetschenen Beweismittel unterzuschieben, um gegen sie ein Strafverfahren einleiten zu können (vgl. Memorialbericht 2002, Seite 36 ff.), bleibt auf einige Einzelfälle beschränkt. Dafür, dass nunmehr eine entsprechende ständige landesweite Übung bestünde, gibt es auch angesichts des fraglos verstärkten Kontrolldrucks (vgl. AA, ad hoc-Lagebericht vom  27. 11. 2002, II. 9.) keine zureichenden Anhaltspunkte.

40

Soweit sich die Berichte auf andere Landesteile als Tschetschenien beziehen, erreichen die referierten Anfeindungen und diskriminierenden Kontrollmaßnahmen nicht generell die Intensität der in Tschetschenien selbst stattfindenden Übergriffe (ebenso: VG Oldenburg, Beschluss vom 20.12.2001, - 1 B 253/02 -; VG Osnabrück, Beschluss vom 25.02.2002, - 5 B 62/02 -). Anders als amnesty international (Stellungnahme vom 08.10.2001) und die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (Stellungnahme vom 06.02.2002, S. 3) berichtet das Auswärtige Amt (AA, ad hoc-Lagebericht vom  27. 11. 2002, III. 3.) nicht von tagelangen Misshandlungen und Folterungen, sondern von diskriminierenden Kontrollmaßnahmen und ungesetzlichen Übergriffen. Diese scheinen eher einer generellen antitschetschenischen Stimmung als einer zielgerichteten, intensiven Verfolgungsabsicht des russischen Staates hinsichtlich aller tschetschenischen Volkszugehörigen zu entspringen und sind von ihrer Häufigkeit und Intensität her mit denen in Tschetschenien selbst stattfindenden massiven und gezielten Angriffen auf Leib und Leben von Zivilisten nicht vergleichbar (ähnlich: VG Stade, Beschluss vom 27.12.2001, - 6 B 1770/01 -).

41

Gegen diese Einschätzung spricht auch nicht der angebliche Befehl Nr. 541 des ehemaligen russischen Innenministers Ruschailo, der im Zusammenhang mit den Bombenattentaten auf Moskauer Wohnhäuser gezielt diskriminierende Maßnahmen gegenüber tschetschenischen Volkszugehörigen anordnet. So wird u.a. befohlen, harte Lebens- und Arbeitsbedingungen für Tschetschenen einzuführen und ihnen gezielt die Registrierung zu versagen. Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte hat in einem Schreiben an das Auswärtige Amt vom 30.08.2001 und in einer Auskunft an das Verwaltungsgericht Braunschweig vom 06. Februar 2002 die Auffassung vertreten, dass der Befehl Nr. 541 echt sei und beruft sich auf ein Interview mit dem von Moskau eingesetzten früheren Bürgermeister von Grosny, Bislan Gantamirow, der die Geltung des Befehls bestätigt habe. Dagegen gibt es nach Einschätzungen des Auswärtigen Amtes (Auskünfte an das VG Braunschweig vom 28.03.2002 und 12.12.2001) keine Belege für die Authentizität des Befehls. Der frühere russische Innenminister Ruschailo habe die Existenz bestritten. Das Auswärtige Amt drückt seine Zweifel an der Echtheit des Befehls aus, da er in elementarem Gegensatz zur russischen Verfassung stünde. In einer Auskunft an das VG Karlsruhe vom 26.04.2002 geht das Auswärtige Amt davon aus, dass es sich bei dem Befehl Nr. 541 um eine Fälschung handele. Zwar gebe es einen Befehl Nr. 541, dieser habe aber einen anderen Inhalt und trage den Titel: „Über die Verewigung der Namen der im Tschetschenienkrieg Gefallenen“. Dies mag dahinstehen. Die Kammer schließt sich jedenfalls der früheren Einschätzung des Auswärtigen Amtes an (ebenso: VG Hannover, Beschluss vom 12.02.2002 - 12 B 537/02 -). Der Auskunftslage – die tatsächliche Authentizität des Befehls unterstellt – ist nicht zu entnehmen, dass der Befehl landesweit gegenüber allen tschetschenischen Volkszugehörigen konsequent ausgeführt würde.

42

Die Kläger zu 2) bis 5) gehören schließlich nicht zu einer Personengruppe, für die die Gefährdungsprognose aufgrund individueller Umstände anders ausfallen müsste. Dies gilt im Gegensatz zu ihrer eigenen Einschätzung auch nicht unter dem Blickwinkel einer Gefahr der Einbeziehung in politische Verfolgung des Ehemannes bzw. Vaters. Zwar kann derartige politische Verfolgung in Form der sogenannten Sippenhaft vorliegen, wenn festgestellt werden kann, dass der Verfolgerstaat stellvertretend für den eigentlich politisch Verfolgten oder zusätzlich auf nahe Angehörige zugreift, um Rache zu nehmen oder den eigentlich Verfolgten mit erpresserischen Mitteln zu veranlassen, sich dem Verfolger zu stellen. Eine dem politisch Verfolgten nahe stehende Person, insbesondere Verwandte, werden in einem solchen Fall – auch dann, wenn sie weder eine abweichende politische Überzeugung besitzen noch eine solche bei ihnen vermutet wird – in die gegen ihre Verwandten gerichtete politische Verfolgung in der Weise einbezogen, dass jene zu ihrer eigenen politischen Verfolgung wird (vgl. Hailbronner, a.a.O., Art. 16a GG Rn. 161). Ferner kann die Verfolgung auf einen Angehörigen in der Weise übergreifen, dass er durch seine Nähe zum eigentlich Verfolgten selbst in Verdacht gerät, dessen politische Überzeugungen zu teilen oder an dessen die Verfolgungsmaßnahmen auslösenden Aktivitäten in einer eigene Verfolgung aus der Sicht des Verfolgers rechtfertigenden Weise teilgenommen zu haben (vgl. Hailbronner, a.a.O., Art. 16a GG Rn. 162). Bei Ehegatten und minderjährigen Kindern des politisch Verfolgten kann von einer widerlegbaren Vermutung für deren eigene Verfolgung ausgegangen werden, sofern bereits entsprechende Referenzfälle für eine Einbeziehung in politische Verfolgung vorliegen (vgl. Hailbronner, a.a.O., Art. 16a GG Rn. 164 und Rn. 165). An solchen Referenzfällen fehlt es indessen für die als inländische Fluchtalternative in Betracht zu ziehenden Landesteile der Russischen Föderation. Allein das individuelle Vorbringen der Kläger rechtfertigt die Annahme einer relevanten Gefährdung der Kläger zu 2) bis 5) außerhalb Tschetscheniens nicht. Offen bleiben kann insoweit, ob die Rückkehrprognose für die Kläger zu 2) bis 5) auf der Grundlage der Annahme zu erstellen ist, dass sie zusammen mit dem Kläger zu 1) oder dass sie ohne diesen wieder in die Russische Föderation einreisen. Für den – hier vorliegenden – Fall, dass über die gebotene Anerkennung des verfolgten Familienmitglieds als Asylberechtigter noch nicht rechtskräftig entschieden ist, scheint dem erkennenden Gericht diese Rechtsfrage höchstrichterlich nicht eindeutig geklärt. (vgl. einerseits: BVerwG Beschl. v. 12.04.2001 – BVerwG 1 B 124.01 - , Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 247 – zitiert nach Juris und andererseits: BVerwG, Urteil v. 27.07.2000 – BVerwG 9 C 9.00 - , Buchholz 402.240, § 53 AuslG Nr. 39 – zitiert nach Juris). Dahinstehen kann die Frage hier, weil für beide Varianten der Rückkehrprognose die hinreichende Sicherheit der Kläger zu 2) bis 5) vor politischer Verfolgung an den Orten der Fluchtalternative bejaht werden kann. Legt man eine gemeinsame Wiedereinreise mit dem Kläger zu 1) zugrunde, so hätten die russischen Sicherheitskräfte bereits im Zusammenhang mit der Einreisekontrolle die Möglichkeit auf den Kläger zu 1) zuzugreifen. Es bedürfte daher keiner Übergriffe auf die Kläger zu 2) bis 5), um seiner habhaft zu werden. Solche Übergriffe sind daher in diesem Fall ohnehin nicht zu befürchten. Geht man dagegen von einer Einreise nur der Kläger zu 2) bis 5) aus gilt Folgendes: Zwar hat die Klägerin zu 2) geltend gemacht, sie habe nicht zu ihrer Schwester nach Russland gekonnt, die schon sehr lange in Wolgograd lebe, weil dort nach ihrem Mann und ihrem Schwager gesucht worden sei. Aber auch wenn an einem Ort außerhalb Tschetscheniens gezielt nach dem Kläger zu 1) und dessen Brüdern gesucht wurde, bedeutet dies nicht, dass die Kläger zu 2) bis 5) aufgrund dieser Suche bereits die asylerhebliche Einbeziehung in die Verfolgung des Ehemannes bzw. Vaters fürchten müssten. Selbst in Tschetschenien ist ihnen nämlich im Hinblick auf die Suche nach diesem nichts geschehen. Im Übrigen hegt das Gericht durchgreifende Zweifel an den Angaben der Klägerin zu 2), soweit diese die Gefährdung von Angehörigen des Klägers zu 1) unter dem Blickwinkel einer Einbeziehung in dessen politische Verfolgung betreffen. Das beruht darauf, dass die Klägerin zu 2) eine ungereimte Darstellung der Entwicklung ihrer Situation während der letzten Zeit ihres Aufenthalts in Tschetschenien gegeben hat. Bei dem Bundesamt hatte sie nämlich erklärt, sie sei festgenommen worden und habe, befragt nach dem Aufenthaltsort ihres Mannes, Wolgograd genannt. In der Folgezeit habe sie angenommen, dass die Sicherheitskräfte ihren Mann dort nicht gefunden hätten und wohl deshalb zwei ihrer Onkel festgenommen und in ein Lager gesteckt worden seien. Die Onkel seien dort zwei Monate lang gequält worden, bis man sie habe freikaufen können. In der Folgezeit seien die Soldaten immer aggressiver gegen sie und ihre Kinder geworden, weil sie einfach nicht den Aufenthalt ihrer Schwager und ihres Mannes herausbekommen hätten. Deshalb hätten die Kläger zu 2) bis 5) sehen müssen, schnell aus Tschetschenien herauszukommen. In der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Gericht legte sich die Klägerin zu 2) dagegen auf folgende Schilderung des Geschehens fest: Anlässlich ihrer Festnahme nach dem Aufenthalt ihres Ehemannes befragt, habe sie in Kenntnis, dass sich dieser bereits in Deutschland aufhalte, die Adresse im Wolgograder Gebiet, in Surawikino , als Anschrift angegeben. Die Sicherheitskräfte hätten sie dann mit dem Hinweis entlassen, dass es Konsequenzen für sie haben werde, wenn sich die Angabe nicht als richtig herausstelle. Zufälligerweise habe sie schon kurz danach die Nachricht eines Freundes ihres Mannes aus Moskau erhalten, dass ihre Ausreise arrangiert sei, und etwa eine Woche später sei sie in Moskau gewesen. Ihre Onkel seien viel eher, im April, festgenommen worden, und zwar, wie sie annehme, um Druck auszuüben, dass sie die Adresse ihres Mannes nenne. Diese unterschiedlichen Schilderungen des Geschehens können zur Überzeugung des Gerichts nicht lediglich einem Übersetzungsfehler bei dem Bundesamt zugeschrieben werden. Die Schilderung des Sachverhalts bei der Behörde besteht nämlich nicht lediglich in einer isolierten Aussage, sondern in der Wiedergabe eines Geschehensablaufs mit eigenen Kausalzusammenhängen. Es kann nicht angenommen werden, dass namentlich diese Kausalzusammenhänge im Zuge der Übersetzung gleichsam hinzugefügt worden sind. Vielmehr spricht Überwiegendes dafür, dass die Klägerin zu 2) gegenüber dem Bundesamt und dem erkennenden Gericht in unterschiedlicher Weise versucht hat, den Sachverhalt unter dem Blickwinkel einer Gefährdung durch Einbeziehung in politische Verfolgung ihres Ehemannes zuzuspitzen. Dies beeinträchtigt partiell die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage. Das Gericht kann daher lediglich die Überzeugung gewinnen, dass die Klägerin zu 2) gelegentlich einer aus anderem Anlass erfolgten Festnahme nach dem Aufenthalt des Klägers zu 1) befragt worden ist. Davon, dass sie daraufhin Angaben über den Aufenthalt des Klägers zu 1) machte, die zu einer gezielten Suche nach diesem außerhalb Tschetscheniens führten und dass sie fürchten musste, im Falle der Erfolglosigkeit dieser Suche zur Rechenschaft gezogen zu werden, konnte sie das Gericht indessen nicht überzeugen. Nicht zu überzeugen vermochte das Gericht auch ihr Versuch einen Zusammenhang zwischen einer angeblichen Festnahme ihrer Onkel und der Suche nach dem Kläger zu 1) herzustellen. Schließlich könnten die Kläger zu 2) bis 5), sollten sie im Falle einer nunmehrigen Rückkehr nach dem Kläger zu 1) befragt werden, unschwer dessen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland plausibel machen. Es bestehen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass außerhalb Tschetscheniens in asylerheblicher Weise auf die Kläger zu 2) bis 5) zugegriffen werden würde, sollten die russischen Sicherheitskräfte dann erkennen, dass sie des Klägers zu 1) dauerhaft nicht habhaft werden können. Das gilt auch vor dem Hintergrund, dass die russischen Sicherheitskräfte – ebenso wie das erkennende Gericht – unschwer zu der Einschätzung gelangen werden, dass die Klägerin zu 2) über keine nachhaltigen Kenntnisse der Aktivitäten ihres Mannes für die tschetschenische Sache verfügt. Bezeichnend ist insoweit, dass sie auf Befragen in der mündlichen Verhandlung nicht einmal anzugeben wusste, dass ihr Mann während des ersten Tschetschenienkrieges deshalb zeitweilig von der Front abgezogen wurde, um sein Erholungscamp als provisorischen tschetschenischen Regierungssitz vorzubereiten. Die eigenen Unterstützungsleistungen der Klägerin zu 2) in Gestalt der Versorgung von Verwundeten sind nicht hoch genug profiliert, um die hinreichende Sicherheit der Kläger zu 2) bis 5) vor politischer Verfolgung an den als Fluchtalternative ins Auge zu fassenden Orten in Frage zu stellen. Nach alldem ist davon auszugehen, dass die Kläger zu 2) bis 5) in Wolgograd bei der Schwester der Klägerin zu 2) oder in den anderen, als inländische Fluchtalternative genannten Landesteilen der Russischen Föderation vor politischer Verfolgung hinreichend sicher sind. Es kann ihnen daher zugemutet werden, sich dort – wenn auch möglicherweise illegal – aufzuhalten, bis sich die Verhältnisse in Tschetschenien normalisieren.

43

Auch drohen den Klägern zu 2) bis 5) in den genannten Landesteilen außerhalb Tschetscheniens nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit sonstige Nachteile. Es ist nicht zu befürchten, dass sie auf Dauer ein Leben unter dem Existenzminimum führen müssen, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tode führt.

44

Zwar weisen das Auswärtige Amt (in seinen ad hoc-Berichten v. 07.05. und 27.11.2002), amnesty international (in seiner Stellungnahme v. 08.10.2001) sowie die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (in ihrer Stellungnahme vom 06. 02. 2002 gegenüber dem VG Braunschweig) darauf hin, dass die Lage in Inguschetien für Flüchtlinge äußerst schlecht und das Überleben dort oft kräftezehrend sei. Inguschetien selbst und der russische Immigrationsdienst seien mit der Versorgung der Bevölkerung überfordert (ad hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes v. 07.05.2002). Der UNHCR spricht sich entschieden dagegen aus, Inguschetien als Fluchtalternative anzuerkennen (UNHCR-Stellungnahme vom Januar 2002). Ob dem UNHCR insoweit zu folgen wäre, mag indessen dahinstehen. Den Klägern zu 2) bis 5) kann nämlich jedenfalls zugemutet werden, sich in Wolgograd bei der Schwester der Klägerin zu 2) oder in verbleibenden, anderen Teilen der Russischen Föderation niederzulassen und dort ein wenn auch bescheidenes Auskommen zu finden. Auch insoweit kann offen bleiben, welcher der beiden aufgezeigten Varianten der Rückkehrprognose aus Rechtsgründen der Vorzug zu geben ist. Denn kehrte die Familie zusammen mit dem Kläger zu 1) zurück und führte dessen Überprüfung im Zuge der Einreisekontrolle nicht zu seiner Festnahme, so stünde er als (zusätzlicher) Ernährer der Familie zur Verfügung. Würde er dagegen sogleich inhaftiert oder legt man der Rückkehrprognose die Annahme zugrunde, dass allein die Kläger zu 2) bis 5) wieder einreisen, gilt Folgendes: Nach eigenen Angaben ist die Klägerin zu 2) ausgebildete Krankenschwester und kann daher ihre Arbeitskraft zur Erzielung eines Einkommens einsetzen, während – sofern niemand sonst zur Verfügung stehen sollte – die Klägerin zu 4) ihre jüngeren Geschwister beaufsichtigt. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass es in Anbetracht des Umstandes, dass für eine offizielle Arbeitsstelle eine Registrierung erforderlich ist, und angesichts der Tatsache, dass wiederum diese Registrierung bürokratischen Hemmnissen begegnet, für die Klägerin zu 2) zunächst Schwierigkeiten bestehen könnten, eine Arbeit zu finden. Es ist dennoch davon überzeugt, dass es der Klägerin angesichts ihrer qualifizierten Ausbildung letztlich gelingen würde, ein Einkommen zu erzielen.

45

Um staatliche Sozialhilfe zu erhalten, müssten sich die Kläger zu 2) bis 5) allerdings als Binnenflüchtlinge registrieren lassen. Die Anerkennung als Binnenflüchtling (Formular Nr. 7) wird regelmäßig nicht gewährt (AA, ad hoc-Lagebericht v. 27.11.2002, III. 2.). Nach Aufflammen der erneuten Kämpfe im September 1999 bis zum 31.12.2001 erhielten nur 12464 Personen den Status als Vertriebener, wobei die meisten davon ethnische Russen waren. Allerdings werden Flüchtlinge in vielen russischen Städten mittlerweile von Juristen der Menschenrechtsorganisation Memorial unterstützt (vgl. Liste der juristischen Beratungsstelle „Immigration und Recht“ des Menschenrechtszentrums Memorial). Es steht ihnen der – wenn auch nicht häufig erfolgreiche – Klageweg offen.

46

Selbst wenn die Kläger zu 2) bis 5) keine Registrierung als Binnenflüchtlinge erreichen können, so ist es doch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass sie dauerhaft von Hunger, Verelendung und schließlich dem Tode bedroht sind. Dies gilt zum einen im Hinblick auf die bereits dargelegte Möglichkeit der Klägerin zu 2) ein Arbeitseinkommen zu erzielen. Davon abgesehen ist zum anderen zu bedenken, dass es den Klägern in Tschetschenien wirtschaftlich sehr gut ging und der Kläger zu 1) Besitzer eines Erholungscamps mit 300 Plätzen war. Auch vermochte er es, 1.800,00 Dollar für die Ausreise von Frau und Kindern aus der Russischen Föderation aufzubringen und erwarb die Firma, die ihn nach Deutschland eingeladen hatte, vornehmlich deshalb nicht, weil ihm erklärt wurde, er könne als Ausländer die Geschäftsführung nicht übernehmen. Dies alles spricht dafür, dass die Finanzmittel der Familie keineswegs erschöpft sind, selbst wenn der Klägerin zu 2) zwischenzeitlich in Dagestan einmal das Geld ausgegangen sein mag. Vielmehr ist davon auszugehen, dass den Klägern zu 2) bis 5) im Falle ihrer Rückkehr in die Russische Föderation aus Einkommen oder Vermögen der Großfamilie ein Zuschuss zum eigenen Unterhalt geleistet werden kann.

47

Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass in Russland ohnehin mehr als 40 % der Menschen unter dem in Deutschland für notwendig erachteten Existenzminimum leben und ihr Überleben in verschiedener Art und Weise sicherstellen. Das gilt selbst für die über 500.000 Tschetschenen, die sich ohne Anerkennung als Binnenflüchtlinge in verschiedenen Teilen der Russischen Föderation aufhalten und daher offiziell weder Anspruch auf Arbeit noch auf staatliche Unterstützung haben.

48

Die Gebiete der inländischen Fluchtalternative sind für die Kläger zu 2) bis 5) auch erreichbar. Denn dafür, dass sie bei einer Rückkehr in die Russische Föderation nicht dorthin gelangen könnten, sondern mit einer zwangsweisen Rückführung nach Tschetschenien rechnen müssten, bestehen bislang keine zureichenden Anhaltspunkte (vgl. AA, ad hoc-Lagebericht v. 27.11.2002, III. 2.).

49

Es liegen zu Gunsten der Kläger zu 2) bis 5) auch keine Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vor. Das Gericht folgt insoweit der Begründung des angefochtenen Verwaltungsaktes, die sich im vierten und sechsten Absatz auf der Seite 8 sowie im ersten Absatz auf der Seite 9 des Bescheides vom 28. August 2001 findet.

50

Ein Abschiebungshindernis ergibt sich nicht aus § 53 Abs. 1 und Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK. Denn wie dargelegt haben die Kläger zu 2) bis 5) gegenüber etwaiger ihnen in Tschetschenien drohender individueller oder kollektiver politischer Verfolgung eine inländische Fluchtalternative in der Russischen Föderation. Sie können sich auch nicht auf ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG berufen. Im Hinblick auf die Gefährdung, die sie aus ihrer tschetschenischen Volkszugehörigkeit herleiten, ergibt sich dies zum einen aus § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG, für dessen verfassungskonforme Einschränkung die Voraussetzungen hier nicht vorliegen. Im Übrigen resultiert es für diese, wie die übrigen geltend gemachten Verfolgungsgefahren, aus der vorhandenen inländischen Fluchtalternative.

51

Die Abschiebungsandrohung beruht auf § 34 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 50 AuslG und ist, soweit sie die Kläger zu 2) bis 5) betrifft, nicht zu beanstanden.

52

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und 83b Abs. 1 AsylVfG.

53

Die Nebenentscheidungen im Übrigen fußen auf den §§ 167 vwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.