Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 30.01.2002, Az.: L 2 RI 97/00

Bewertung von Kindererziehungszeiten bei der Bestimmung der Höhe der Regelaltersrente; Pauschale Entgeltpunkte für Kindererziehungszeiten

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
30.01.2002
Aktenzeichen
L 2 RI 97/00
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 41586
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG Oldenburg - 10.02.2000 - AZ: S 8 RI 291/99

Prozessführer

B.

Prozessgegner

Landesversicherungsanstalt Oldenburg-Bremen, vertreten duch den Geschäftsführer,
Huntestraße 11, 26135 Oldenburg,

In dem Rechtsstreit
hat der 2. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen
ohne mündliche Verhandlung am 30. Januar 2002
durch
den Richter D. - Vorsitzender -,
den Richter E.,
den Richter F. sowie
die ehrenamtlichen Richter G. und
H.
für Recht erkannt:

Tenor:

  1. 1.

    Das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 10. Februar 2000 wird aufgehoben.

  2. 2.

    Die Klage wird abgewiesen Kosten - beider Rechtszüge - sind nicht zu erstatten.

  3. 3.

    Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Streitig ist die Höhe der Regelaltersrente der Klägerin, insbesondere die Bewertung von Kindererziehungszeiten (KEZ) für einen abgelaufenen Zeitraum.

2

Die 1925 geborene Klägerin ist verwitwet. Sie ist Mutter zweier am 15. Dezember 1949 und am 7. Mai 1964 geborenen Kinder. Während des ersten Lebensjahres der im Jahre 1949 geborenen Tochter I. entrichtete die Klägerin freiwillige Beiträge. Während des ersten Lebensjahres ihres 1964 geborenen Sohnes J. weist das Versicherungskonto der Klägerin vom 1. Juni 1964 bis 2. Juli 1964 keine Beiträge auf, während für die Zeiträume vom 3. Juli 1964 bis 30. April 1965 Pflichtbeiträge und vom 1. Mai 1965 bis zum 31. Mai 1965 freiwillige Beiträge gespeichert sind.

3

Mit Bescheid vom 16. Februar 1990 gewährte die Beklagte der Klägerin Regelaltersrente wegen Vollendung des 65. Lebensjahres ab 1. März 1990. Bei der Berechnung der Rente erhöhte sie die durch Beiträge erworbenen Werteinheiten auf den Mindestwert von monatlich 6,25 Werteinheiten nur für die KEZ bis zum 31. Dezember 1964.

4

Nach Verkündung des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung (RRG) vom 16.12.1997 (BGBl. I, 2998 - RRG 1999) wurde die Klägerin am 10. Juli 1998 bei der Beklagten vorstellig und machte geltend, bereits direkt nach Erhalt des Rentenbescheides sowie im Jahre 1996 in der dortigen Auskunfts- und Beratungsstelle gewesen zu sein. Schon damals habe sie gerügt, dass hier keine volle Anrechnung beim Zusammentreffen von KEZ und Beitragszeiten stattgefunden habe. Bei beiden Vorsprachen sei ihr geraten worden, keinen Widerspruch einzulegen, weil eine Anrechnung automatisch erfolgen würde, wenn sie gesetzlich vorgeschrieben werde. Im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches stehe ihr eine höhere Rente mit Wirkung vom 1. März 1990 zu. Beitragszeiten und KEZ müssten rückwirkend additiv angerechnet werden. Das lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 12. Januar 1999 für Rentenbezugszeiten vor dem 1. Juli 1998 ab. Der neu eingeführte § 307 d des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) gelte grundsätzlich erst ab 1. Juli 1998. Ausnahmsweise sei eine Neuberechung mit Wirkung vom 1. Januar 1996 möglich, wenn der Rentenbewilligungsbescheid zum Stichtag 27. Juni 1996 noch nicht bindend gewesen sei. Dieser Ausnahmefall liege jedoch bei der Klägerin nicht vor. Auch eine Falschberatung könne nicht angenommen werden. Es sei weder 1990 noch 1996 voraussehbar gewesen, dass der Gesetzgeber die Rückwirkung der Neuregelung an eine Stichtagsregelung knüpfen werde. Auch im Falle eines Widerspruchs- und Klageverfahrens gegen den Bescheid vom 16. Februar 1990 wäre ein solches Verfahren bis zum Stichtag 27. Juni 1996 rechtskräftig abgeschlossen gewesen. Ein 1996 eingelegter Widerspruch wäre mangels Fristablauf unzulässig gewesen und hätte deshalb ebenso wenig wie ein Neufeststellungsantrag gemäß § 44 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) die Bindungswirkung des Bescheides vom 16. Februar 1990 tangiert.

5

Im Vorverfahren hat die Klägerin ihr Erhöhungsbegehren für die Rentenbezugszeiten vor Juli 1998 erfolglos weiterverfolgt (Widerspruchsbescheid vom 15. Juli 1999).

6

Auch im Klageverfahren machte die Klägerin vor dem Sozialgericht (SG) Oldenburg weiterhin geltend, auf Grund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruches bereits ab Beginn ihrer Altersrente besser gestellt werden zu müssen.

7

Mit Urteil vom 10. Februar 2000 gab das SG Oldenburg der Klage teilweise statt. Die Klägerin habe für den Rentenbezugszeitraum vom 1. Januar 1994 bis 30. Juni 1998 Anspruch auf volle Anrechnung der KEZ, die mit beitragsbelegten Zeiten zusammenträfen. Der davor liegende Rentenbezugszeitraum unterfalle der vierjährigen Verjährung gemäß § 44 Abs. 4 SGB X. Einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch habe die Klägerin zwar nicht, denn nach ihren Einlassungen in der mündlichen Verhandlung und dem entsprechenden schriftsätzlichen Vortrag lasse sich ein Beratungsfehler der Beklagten in den Jahren 1990 bzw. 1996 in Ansehung der damaligen Rechtslage nicht erkennen. Ihre KEZ seien aber nach § 44 SGB X höher zu bewerten. Der Rentenbescheid vom 16. Februar 1990 erweise sich nämlich als rechtswidrig und die Vorschrift sei auf bestandskräftige Rentenbescheide anwendbar. § 307 d SGB VI stünde dem nicht entgegen. Diese Vorschrift habe einen § 44 SGB X ergänzenden Regelungsgehalt. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe die einschlägige Vorschrift des § 1255 Abs. 5 Satz 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) für unvereinbar mit dem Grundgesetz (GG) erklärt (BVerfGE 94, 241 ff.). Der auf der genannten Regelung alten Rechts beruhende Rentenbescheid müsse nach der Rechtsprechung des Bundessozialgericht (BSG) als von Anfang an rechtswidrig behandelt werden.

8

Mit ihrer hiergegen rechtzeitig eingelegten Berufung vertritt die Beklagte die Ansicht, die Bestimmung des § 307 d SGB VI sei Spezialvorschrift gegenüber § 44 SGB X. § 307 d SGB VI sehe bei bestandskräftig festgestellten Renten vor, dass die Bestandsrentnerin erst zum 1. Juli 1998 materiell bessergestellt werde. Der Gesetzgeber habe für diese Fälle somit ausdrücklich eine rückwirkende Anwendung ausgeschlossen. Die Rechtsansicht des SG Oldenburg ließe diese gesetzliche Anordnung ins Leere laufen. Dass die Klägerin die Auskunfts- und Beratungsstelle in den Monaten Februar oder März 1990 besucht habe, belegten die noch vorliegenden statistischen Unterlagen nicht.

9

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 10. Februar 2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

10

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

11

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

12

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

13

Außer der Gerichtsakte hat die Verwaltungsakte der Beklagten vorgelegen und war Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

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Die gemäß §§ 143 ff. Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und somit zulässig.

15

In der Sache ist das Rechtsmittel auch begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf höhere Bewertung ihrer Entgeltpunkte für KEZ, soweit Rentenbezugszeiten vor dem 1. Juli 1998 in Frage stehen.

16

I.

Ein solcher Anspruch lässt sich nicht auf allgemeine Vorschriften des SGB Xüber die Rücknahme rechtswidriger Bescheide stützen.

17

Entgegen der Auffassung des SG Oldenburg darf hier § 44 SGB X - auch nicht teilweise - angewandt werden. Vielmehr ist die Anwendung von § 44 SGB X neben der Spezialvorschrift des § 307 d SGB VI ausgeschlossen, wie die Beklagte mit ihrer Berufung zutreffend eingewandt hat.

18

§ 307 d Satz 1 SGB VI bestimmt u.a. für Bestandsrentner, dass die in den persönlichen Entgeltpunkten enthaltenen Entgeltpunkte für KEZ bei der Ermittlung des Monatsbetrages der Rente durch pauschale Entgeltpunkte für KEZ ersetzt werden. Die Vorschrift trat aber gemäß Artikel 33 Absatz 2 RRG 1999 rückwirkend ab 1986 nur für Personen in Kraft, deren Rente am 27. Juni 1996 noch nicht bindend bewilligt war. Diese Regelung geht, wie das SG Oldenburg zutreffend ausgeführt hat, auf die am 27. Juni 1996 verkündete Entscheidung des BVerfG vom 12. März 1996 zurück, mit der die von der Beklagten auch im vorliegenden Fall angewandte Vorschrift des § 1255 Abs. 5 Satz 2 RVO ohne Nichtigerklärung für unvereinbar mit dem GG erklärt worden war. Nicht Rechnung getragen hat das SG Oldenburg aber dem Umstand, dass das BVerfG in den Entscheidungsgründen a.a.O. betont hatte, dass Rentenbescheide, die im Zeitpunkt der Bekanntgabe der Entscheidung bereits bestandskräftig waren, nach dem Grundgedanken des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfG von seiner Entscheidung unberührt blieben. Es sei dem Gesetzgeber unbenommen, im Zusammenhang mit dem Gegenstand der Entscheidung eine andere Regelung zu treffen. Er könne die gesetzliche Neuregelung des Zusammentreffens von KEZ mit beitragsbelegten Zeiten auf rechts- oder bestandskräftig gewordene Entscheidungen und zurückliegende Sachverhalte erstrecken; von Verfassungswegen verpflichtet sei er hierzu aber nicht (BVerfG a.a.O. S. 266/267).

19

Diesen Gestaltungsspielraum hat der Gesetzgeber im Folgejahr genutzt und verfassungskonform angeordnet, dass Rentenansprüche, die am 27. Juni 1996, dem Tag der Bekanntgabe der Entscheidung des BVerfG, bereits bindend festgestellt waren, von der Neuregelung mit Rückwirkung ausgenommen werden. Dazu heißt es in der Entstehungsgeschichte des RRG 1999 unter Bezugnahme auf die Ausführungen des BVerfG a.a.O.:

Die verfassungswidrige Regelung muss durch eine verfassungsgemäße ersetzt werden, die grundsätzlich ab 1. Juli 1998 in Kraft tritt, für Fälle, in denen eine Rente am 27. Juni 1996 aber noch nicht bindend bewilligt war, aber rückwirkend ab 1. Januar 1986. Dadurch ist sichergestellt, dass auch für Zeiten vor Juli 1998, in denen ein noch nicht bindend bewilligter Rentenanspruch bestand, Leistungen rückwirkend zu erbringen sind (BT-Drucks. 13/8011, Seite 227).

20

Mit den Anordnungen in Artikel 33 Abse. 2 und 12 RRG 1999 hat der Gesetzgeber ein Regel-Ausnahmeverhältnis geschaffen, das die Rechtsansicht des SG umkehren würde. In Anwendung des § 44 SGB X könnte nämlich jeder am 27. Juni 1996 bindend gewesene Rentenbescheid zur Überprüfung gestellt werden, was der aufgezeigten Intention des Gesetzgebers widerspräche. Wird der Regelungswille des Gesetzgebers verlautbart, ist es nach Ansicht des Senats zudem entbehrlich, dass der Gesetzgeber die Anwendung des § 44 SGB X zusätzlich ausdrücklich ausschließt, wie dies beispielsweise bei der Neuregelung des § 301a Abs. 2 Satz 2 SGB VI geschehen ist.

21

II.

Das Klagebegehren lässt sich auch nicht aus einem sozialrechtlichen Herstellungsanspruch herleiten. Soweit die Klägerin behauptet, bereits direkt nach Erhalt des Bescheides vom 16. Februar 1990 bei der Beklagten gewesen zu sein, ist sie außerstande nachzuweisen, dass sie die Beklagte damals innerhalb der laufenden Frist zur Einlegung eines Widerspruches besucht hat. Sie will 1990 nach Zugang des Rentenbescheides mit dem Verwaltungsamtmann K. gesprochen haben. Auf Nachfrage des Senates hat die Beklagte ihre statistischen Unterlagen für die Monate Februar/März 1990 überprüft, ohne einen Beleg über einen die Klägerin betreffenden Beratungsvorgang auffinden zu können. Ihr Bediensteter K. hat angegeben, er könne nicht mehr sagen, ob die Klägerin Anfang 1990 bei ihm vorgesprochen habe. Bei der Vielzahl der Besucher sei es ihm unmöglich, sich an eine Versicherte zu erinnern, die in dem genannten Zeitraum bei ihm gewesen sein wolle. Bei dieser Sachlage ist für den Senat die behauptete Vorsprache bei der Beklagten nicht erwiesen.

22

Ermittlungen zu dem Vorbringen der Klägerin, auch im Jahre 1996 bei der Beklagten vorstellig geworden zu sein, waren demgegenüber entbehrlich. Wenn sich die Klägerin nach Verkündung der Entscheidung des BVerfG vom 12. März 1996 zur Beklagten begeben hätte und dort wie behauptet beraten worden wäre, hätte ein solcher Rat der Beklagten nicht als wesentliche Ursache für den geltend gemachten sozialrechtlichen Schaden angesehen werden können. Mit Recht weist die Beklagte darauf hin, dass ein Widerspruch gegen den Rentenbescheid aus dem Jahre 1990 wegen Fristablauf unzulässig gewesen wäre. Ein Überprüfungsantrag gemäß § 44 SGB X hätte für die Klägerin schon deshalb nicht den gewünschten Erfolg haben können, weil damals nicht abgesehen werden konnte, wie und in welchem Umfang der Gesetzgeber das Zusammentreffen von KEZ mit Beitragszeiten bei Bestandsrentnern neu bewerten würde.

23

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

24

Der Senat hat die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, weil die Frage der Anwendbarkeit der Vorschriften des § 307 d SGB VI einerseits und des § 44 SGB X andererseits grundsätzliche Bedeutung hat.