Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 24.01.2002, Az.: L 1 RA 116/01

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
24.01.2002
Aktenzeichen
L 1 RA 116/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2002, 41590
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - AZ: S 14 RA 550/97

In dem Rechtsstreit

B.

Klägerin und Berufungsklägerin,

Prozessbevollmächtigte(r): Rechtsanwalt Dr. C.

gegen

die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, vertreten durch die Geschäftsführung, Ruhrstraße 2, 10709 Berlin

Beklagte und Berufungsbeklagte,

hat der 1. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen auf die mündliche Verhandlung

vom 24. Januar 2002

durch

den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht D.,

den Richter am Landessozialgericht E. und

den Richter am Landessozialgericht F.

sowie die ehrenamtlichen Richter G.

für Recht erkannt:

Tenor:

  1. Das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 11. Februar 2000 wird aufgehoben, und der Bescheid der Beklagten vom 7. Februar 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. August 1997 sowie der Bescheid vom 4. Juni 1998 werden geändert.

    Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Regelaltersrente auch für die Zeit vom 1. Juli bis 30. November 1996 zu zahlen.

    Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

    Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob die Beklagte Regelaltersrente erst ab Antragstellung oder bereits ab Vollendung des 65. Lebensjahres zu zahlen hat.

2

Die am 17. Juni 1931 geborene Klägerin, die zuletzt als Lehrerin gearbeitet hatte, erhielt von der Beklagten durch den Bescheid vom 12. Juli 1991 ein nach den Vorschriften des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) berechnetes vorgezogenes Altersruhegeld (wegen Vollendung des 60. Lebensjahres und zuletzt 1 1/2jähriger Arbeitslosigkeit) für die Zeit ab dem 1. Juli 1991. Der Bescheid enthielt keinen Hinweis auf die Möglichkeit oder Notwendigkeit, im Zuge der Vollendung des 65. Lebensjahres Regelaltersrente (RAR) zu beantragen. Es fanden sich insoweit lediglich Belehrungen zum Einen darüber, bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres die Aufnahme einer Beschäftigung mit einem Entgelt über der Hinzuverdienstgrenze anzuzeigen, und zum Anderen allgemein dazu, nach Eintritt des Versicherungsfalles zurückgelegte Versicherungs- und Ausfallzeiten dürften für diesen Versicherungsfall nicht angerechnet werden.

3

Erst am 2. Dezember 1996, also 5 1/2 Monate nach Vollendung ihres 65. Lebensjahres, stellte die Klägerin bei der Beklagten den Antrag auf Zahlung von RAR. Gleichzeitig beantragte sie, Kinderberücksichtigungszeiten (KBÜZ) für ihre zwei 1957 und 1959 geborenen Kinder in den Versicherungsverlauf aufzunehmen.

4

Die Beklagte entsprach den Anträgen der Klägerin im Bescheid vom 7. Februar 1997 für die Zeit ab dem 1. Dezember 1996. Nicht nur wegen der zusätzlichen Aufnahme der KBÜZ (1. April 1957 bis 31. August 1969), sondern vor allem in Folge einer günstigeren Bewertung der Pflichtbeiträge bzw. Anrechnungszeiten für die Berufsausbildung, der ersten fünf Kalenderjahre des Versicherungsverlaufs sowie von Anrechnungszeiten der Arbeitslosigkeit (mit dem Sozialgesetzbuch - SGB - VI zum 1. Januar 1992 eingeführte Änderungen) ergab sich eine RAR nicht in gleicher Höhe wie das vorgezogene Altersruhegeld, vielmehr ein Sprung von 934,03 DM (Monatsbetrag der Rente im November 1996) auf 1.209,01 DM (Monatsbetrag der Rente im Dezember 1996).

5

Die Klägerin erhob Widerspruch und verlangte, die RAR bereits rückwirkend ab Vollendung des 65. Lebensjahres zu zahlen. Sie habe geglaubt, das vorzeitige Altersruhegeld werde automatisch in RAR überführt. Die Beklagte wies den Widerspruch mit ihrem Widerspruchsbescheid vom 12. August 1997 zurück. Sie verwies darauf, für die Gewährung der RAR habe es nicht nur der Erfüllung der - materiellen - Anspruchsvoraussetzungen bedurft, vielmehr auch des Antrages des Versicherten.

6

Entsprechend der Regelung im SGB VI beginne die Rente im Kalendermonat der - mehr als drei Monate verspäteten - Antragstellung.

7

Die Klägerin hat dagegen Klage zum Sozialgericht (SG) Hannover erhoben und sich zur Begründung weiter darauf gestützt, die Beklagte habe die rechtzeitige Antragstellung anregen müssen.

8

Das SG hat bei der Beklagten angefragt, inwieweit sie auf gesetzgeberische Neuregelungen und Antragserfordernisse allgemein und individuell hinweise. Die Beklagte hat in ihrer Antwort in den Mittelpunkt gestellt, auf die Rechtsänderungen im Zuge der Einführung des SGB VI umfassend hingewiesen zu haben. Sie hat eine Aufstellung über die anlässlich der damaligen Rentenreform gesendeten Fernsehspots sowie über die diversen Informationsbroschüren zu den Akten gereicht. Im Übrigen hat die Beklagte die Auffassung vertreten, der Gesetzgeber habe den Rentenversicherungsträgern Hinweispflichten lediglich gegenüber solchen Versicherten auferlegt, die noch gar keine, also auch keine andere Leistung aus der gesetzlichen Rentenversicherung bezögen. Selbst wenn man eine Hinweispflicht auch im Falle des möglichen Übergangs zu einer Nachfolgerente bejahte, würde sie im vorliegenden Fall nicht Platz greifen. Denn es liege keine Konstellation vor, bei der typischerweise mit einer Rentenerhöhung gerechnet werden könne. Bei einem Blick auf die Gesamtheit der Änderungen des SGB VI gegenüber dem bis zum 31. Dezember 1991 in Kraft gewesenen AVG habe grundsätzlich eher ein Absinken der für eine RAR zu errechnenden Summe an Entgeltpunkten erwartet werden müssen. Dabei sei etwa auf die Begrenzung der maximal anrechenbaren Ausbildungszeiten sowie auf die Abschläge bei der Bewertung der beitragsfreien Zeiten hinzuweisen. Lücken im Versicherungsverlauf hätten anders als unter der Geltung des AVG nunmehr einen direkten Einfluss auf die Bewertung der beitragsfreien Zeiten. Keine Rolle spiele bei dieser Betrachtung, dass der nach § 88 SGB VI gewährleistete Besitzschutz ausschließe, beim Übergang in das SGB VI eine geringere Rente zu erhalten. Bedeutsam sei vielmehr lediglich, dass der Übergang ins SGB VI nur - wie hier - ausnahmsweise zu einer Erhöhung der Rentenanwartschaft geführt habe und dass ein solcher Einzelfall erst bei eingehender individueller Betrachtung aller rentenrechtlichen Zeiten - in Form einer Probeberechnung - festzustellen sei.

9

Das SG hat die Klage durch das Urteil vom 11. Februar 2000 abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es die Beklagte nicht als verpflichtet angesehen, die Klägerin darauf hinzuweisen, den Antrag auf RAR rechtzeitig zu stellen. Es gehe hier nicht um eine Sachlage, bei der typischerweise mit einer Rentenerhöhung habe gerechnet werden können.

10

Gegen das am 1. März 2000 zugestellte Urteil richtet sich die am 31. März 2000 eingegangene Berufung. Der Senat hat zunächst das Ruhen im Hinblick auf den Parallel-Rechtsstreit beim Bundessozialgericht (BSG) zum dortigen Aktenzeichen B 4 RA 40/99 R angeordnet. Nachdem im dortigen Verfahren am 2. August 2000 ein für die Klägerseite positives Urteil unter der Annahme ergangen war, es gebe lediglich einen einheitlichen Anspruch auf Altersrente, bei dem der Beklagten der Einwand der verspäteten Antragstellung abgeschnitten sei, haben die Beteiligten das Verfahren wieder aufgenommen.

11

Die Klägerin macht sich die Argumentation des BSG zu eigen. Sie betont dabei, die gesetzgeberische Regelung über den Zugangsfaktor - § 77

12

SGB VI - lege es ebenfalls nahe, lediglich von einem einzigen Versicherungsfall des Alters auszugehen.

13

Die Klägerin beantragt,

1.

14

das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 11. Februar 2000 aufzuheben sowie den Bescheid der Beklagten vom 7. Februar 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. August 1997 und den Bescheid vom 4. Juni 1998 zu ändern,

15

2.

die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Regelaltersrente auch für die Zeit vom 1. Juli bis 30. November 1996 zu zahlen,

16

3.

hilfsweise die Revision zuzulassen.

17

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen,

18

hilfsweise die Revision zuzulassen.

19

Sie wehrt sich gegen die Auffassung des BSG, es gebe lediglich einen einzigen Versicherungsfall des Alters und dementsprechend nur eine Art der Altersrente. So sehe es auch das LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 5. April 2001, Az: L 2 KN 47/98; Revision zum BSG eingelegt).

20

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und wegen des weiteren Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der beigezogenen Rentenakte der Beklagten verwiesen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung, Beratung und Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

21

Die form- und fristgerecht erhobene Berufung ist statthaft und zulässig, §§ 143 f. Sozialgerichtsgesetz (SGG).

22

Die Berufung ist auch begründet. Das angefochtene Urteil des SG vom 11. Februar 2000 war aufzuheben. Er hat sich als rechtswidrig erwiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 7. Februar 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. August 1997 sowie der Bescheid vom 4. Juni 1998 waren im Umfang des klägerseits geltend gemachten Anspruchs zu ändern.

23

Die Klägerin hat Anspruch auf RAR auch bereits für die Zeit vom 1. Juli bis zum 30. November 1996. Die Beklagte kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, die Klägerin habe die RAR erst verspätet beantragt. Zwar wird eine Rente aus eigener Versicherung bei verspäteter Antragstellung grundsätzlich erst von dem Kalendermonat an geleistet, in dem sie beantragt wird, § 99 Abs. 1 Satz 2 SGB VI. Im Falle der Klägerin bestünde der Anspruch somit - wie von der Beklagten bewilligt - ab dem 1. Dezember 1996, da sie den Antrag auf RAR erst am 2. Dezember 1996 gestellt hatte.

24

Tatsächlich liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 99 Abs. 1 SGB VI jedoch nicht vor, so dass der Einwand der fehlenden Antragstellung nicht mit Erfolg geltend gemacht werden kann. Indem § 99 Abs. 1 SGB VI anordnet, eine "Rente aus eigener Versicherung" sei ab einem bestimmten Zeitpunkt zu leisten, wird als selbstverständlich unterstellt, dass der Versicherte diese Rente bisher nicht bezogen hat. Entgegen dem ersten Anschein trifft das auf die Klägerin nicht zu. Es träfe nur dann zu, wenn die RAR als gegenüber dem bisher gewährten vorgezogenen Altersruhegeld neue Rente anzusehen wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall, weil es lediglich einen einheitlichen Anspruch auf Altersrente gibt. Der eine und einzige Versicherungsfall des Alters ist gekennzeichnet durch das gemeinsame Sicherungsziel einer Vollversicherung, §§ 63 Abs. 4, 67 Nr. 1 SGB VI. Dabei gibt der Gesetzgeber einigen Gruppen von Versicherten ein Gestaltungsrecht, das Einstehen müssen der Versichertengemeinschaft für das Altersrisiko bereits vor Vollendung des 65. Lebensjahres beginnen zu lassen, §§ 33 bis 40 SGB VI, während er es ab der Vollendung des 65. Lebensjahres generell als unzumutbar erachtet, die gesundheitlichen Kräfte zum Lohnerwerb einzusetzen. Die vorgezogenen Altersruhegelder für langjährig Versicherte, schwerbehinderte Menschen, langjährig unter Tage beschäftigte Bergleute usw. sind somit Sonderfälle, in denen das Stammrecht auf Altersrente bereits vor Eintritt der Altersrente von 65. Jahren beginnt und mit Erreichen dieses Zeitpunkts in RAR übergeht, ohne dass es einer Umwandlung bedürfte (vgl. BSG-Urteil vom 22.08.1990, Az.: 8 RKn 14/88 sowie Urteile vom 02.08.2000. Az.: B 4 RA 40/99 R und B 4 RA 54/99 R; insbesondere B 4 RA 40/99 R Seiten 8 und 9).

25

Im vorliegenden Fall hatte die Klägerin nach alledem das Stammrecht auf Altersrente bereits am 1. Juli 1991 erworben, also mit dem Beginn des vorgezogenen Altersruhegeldes. Anders wäre es etwa dann gewesen, wenn die Klägerin vor Vollendung des 65. Lebensjahres kein Altersruhegeld, sondern eine Rente wegen Erwerbsminderung erhalten hätte. Dann hätte ein Fall der Rentenumwandlung vorgelegen, in dem ein neues Stammrecht entstanden wäre.

26

Der Beklagten ist es aber nicht nur verwehrt, sich auf eine verspätete Beantragung des Stammrechts zu berufen, vielmehr kann sie darüber hinaus auch nicht verweigern, die einzelnen Zahlungsansprüche zu erfüllen. Mit dem Erreichen des 65. Lebensjahres findet nicht nur ein automatischer materiell-rechtlicher Übergang in die RAR statt, vielmehr regelt § 100 Abs. 1 SGB VI den Übergang auch im Hinblick auf die aus dem Stammrecht folgenden Auszahlungsansprüche. Die Bestimmung sieht vor, dass die Rente in neuer Höhe von dem Kalendermonat an geleistet wird, wo dessen Beginn eine Änderung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen wirksam wird. Mit dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber eine ausdrückliche Abkehr von der bis dahin maßgeblichen Bestimmung des § 67 Abs. 3 Satz 1 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) vollzogen, nach der Erhöhung oder Wiedergewährung der Rente nur "vom Beginn des Antragsmonats an" verlangt werden konnte. Da der Übergang vom vorgezogenen Altersruhegeld zur RAR ein Fall der Rentenerhöhung im Sinne des § 100 Abs. 1 SGB VI ist (auch dazu und allgemein zum einheitlichen Beginn der Renten wegen Alters BSG B 4 RA 40/99 R Seiten 14/15 sowie 17), stand der Klägerin ab dem 1. des Monats nach Vollendung des 65. Lebensjahres, § 100 Abs. 1 Satz 1 letzter Halbsatz SGB VI, Altersrente in Höhe der RAR zwingend zu. Die Beklagte hatte die Rentengewährung wegen einer "Änderung zu Gunsten des Betroffenen" im Sinne des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X neu in Höhe der RAR festzusetzen, ohne dass ihr ein Ermessen eingeräumt wäre. Möglich wäre allein der Einwand der Verjährung, der allerdings erst nach Ablauf von 4 Jahren greifen würde, § 45 Abs. 1 SGB I, und der deshalb hier nicht in Betracht kommt (vgl. BSG a.a.O. Seiten 12 und 15).

27

Die Klägerin kann nach alledem vor dem Hintergrund des einheitlichen Stammrechts auf Altersrente und der zwingend vorgesehenen Rentenerhöhung RAR bereits ab dem 1. Juli 1997 verlangen.

28

Da die Berufung bereits aus den genannten Gründen Erfolg hat, konnte offen bleiben, ob über das Begehren der Klägerin auch im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs - wegen unterbliebener Hinweise - zu ihren Gunsten hätte entschieden werden müssen.

29

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

30

Der Senat hat die Revision zugelassen, weil der Rechtsstreit Bedeutung für eine Vielzahl gleichgelagerter Fälle hat, weil die Rechtsprechung zum einheitlichen Versicherungsfall der Rente wegen Alters noch nicht gefestigt ist (vgl. zu den Einwänden zuletzt LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 05.04.2001, Az.: L 2 Kn 47/98) und weil die Konsequenzen dieser Rechtsprechung für Fälle wie die hier eingetretene Rechtsänderung vor dem Übergang zur RAR bisher nicht abschließend geklärt sind (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).