Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 26.04.2024, Az.: 12 B 1498/24

Homosexualität; Lettland; Russische Herkunft; sicherer Herkunftsstaat; Vermutung erneuter Verfolgung nicht widerlegt

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
26.04.2024
Aktenzeichen
12 B 1498/24
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 15448
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2024:0426.12B1498.24.00

In der Verwaltungsrechtssache
Herr A.,
A-Straße, A-Stadt
Staatsangehörigkeit: staatenlos,
- Antragsteller -
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte B.,
B-Straße, B-Stadt - -
gegen
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - Außenstelle Oldenburg -,
Klostermark 70-80, 26135 Oldenburg - -
- Antragsgegnerin -
wegen Verfahren nach § 29a AsylG (sicherer Herkunftsstaat Lettland)
- Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO
hat das Verwaltungsgericht Hannover - 12. Kammer - am 26.04.2024 durch die Einzelrichterin beschlossen:

Tenor:

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist nicht begründet. Prozesskostenhilfe erhält gemäß § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Dem Eilantrag des Antragstellers fehlt es aus den nachfolgenden Gründen an den notwendigen Erfolgsaussichten.

Der Antrag des Antragstellers,

die aufschiebende Wirkung seiner Klage gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20.03.2024 anzuordnen,

hat keinen Erfolg.

Er ist zwar zulässig, insbesondere nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1, § 36, § 29a AsylG statthaft, aber unbegründet.

Im Fall der durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) verfügten Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet im Sinne von § 29a AsylG ordnet das Gericht nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO i.V.m. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der gemäß § 36 Abs. 3, § 75 Abs. 1 AsylG sofort vollziehbaren Abschiebungsandrohung an, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Dies ist der Fall, wenn unter Zugrundelegung der gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme - hier die der Abschiebungsandrohung zugrunde liegende Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet - einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urt. vom 14.05.1996 - 2 BvR 1516/93 -, juris Rn. 99). Die Ablehnung des Asylantrags des Antragstellers stellt sich jedoch als voraussichtlich rechtmäßig dar.

Nach § 29a Abs. 1 AsylG ist der Asylantrag eines Ausländers aus einem sicheren Herkunftsstaat im Sinne des Art. 16a Abs. 3 Satz 1 GG als offensichtlich unbegründet abzulehnen, es sei denn, die von dem Ausländer angegebenen Tatsachen oder Beweismittel begründen die Annahme, dass ihm abweichend von der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG oder ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG droht.

Der Antragsteller stammt aus Lettland und Lettland ist als Mitgliedstaat der Europäischen Union gemäß § 29a Abs. 2 AsylG ein sicherer Herkunftsstaat.

Der Vortrag des Antragstellers vermag die Vermutung, dass ihm in Lettland keine Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG und kein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 AsylG droht, nicht zu widerlegen. Die gesetzliche Vermutung, der Ausländer sei vor politischer Verfolgung in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union sicher, kann nur durch ein Vorbringen ausgeräumt werden, das die Furcht vor politischer Verfolgung auf ein individuelles Verfolgungsschicksal gründet, mag es auch seine Wurzel in den allgemeinen Verhältnissen haben. Die Vermutung, dass dem Ausländer keine Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden droht, wird widerlegt, wenn er die Umstände seiner Verfolgung bzw. des drohenden ernsthaften Schadens schlüssig und substantiiert vorträgt (VG Bremen, Beschl. vom 02.03.2020 - 7 V 12/20 -, juris Rn. 15 und VG Karlsruhe, Beschl. vom 13.06.2019 - A 7 K 2457/19 -, juris Rn. 9, jeweils unter Bezugnahme auf BVerfG, Urt. vom 14.05.1996 - 2 BvR 1507/93, 2 BvR 1508/93 -, juris).

Der Antragsteller hat gegenüber dem Bundesamt angegeben, er sei in Russland geboren und habe als Staatenloser in Lettland gelebt. Den Sprachtest zum Erlangen der lettischen Staatsangehörigkeit habe er nicht bestanden. In Lettland herrschten Homophobie und Russophobie. Als er mit seinem Lebenspartner noch in Daugavpils gelebt habe, sei ihre Eingangstür mehrmals mit dem Hammer beschädigt worden. Sie hätten sich an die Polizei gewandt. Die Polizei habe nicht reagiert und ihnen mitgeteilt, dass sie erst tätig werde, wenn jemand in die Wohnung eindringe. Auch auf der Straße seien sie angefeindet worden. Sie seien mit körperlicher Gewalt bedroht und mehrmals fast zusammengeschlagen worden. Sie hätten versucht, in den Menschenmassen unterzutauchen, trotzdem sei es für sie zu gefährlich gewesen. Wenn sie ihre Gefühle in der Öffentlichkeit gezeigt hätten, hätten sie Probleme bekommen. Homosexuelle lebten gestresst und in Gefahr in Lettland. Wenn in Riga der LGBT Pride durchgeführt werde, so werde dieser von der Polizei bewacht. Die Menschen würden die Teilnehmer aber mit Tomaten und mit unterschiedlichen Gegenständen bewerfen. Und Riga sei eine Großstadt, wo sich die Situation der Homosexuellen relativiere. In Daugavpils, wo er mit seinem Partner gelebt habe, sei die Gefahr größer gewesen. In Liepaja sei er nicht bedroht worden. Er sei dort aber verhöhnt worden und so habe es zuvor in Daugavpils auch angefangen. Sie hätten die Bedrohungen nicht abwarten wollen und hätten beschlossen, auszureisen. Die Russophobie habe dabei auch eine Rolle gespielt. Es sei bei der Arbeitssuche hinderlich, dass in seinem Pass stehe, dass er Russe sei.

Aus dem Vortrag des Antragstellers ergeben sich keine Verfolgungshandlungen, die nach § 3a Abs. 1 AsylG eine Verfolgung begründen, weil sie aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1) oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte bestehen, die so gravierend ist, das eine Person davon in ähnlicher wie in Nummer 1 beschriebener Weise betroffen ist (Nr. 2).

Soweit der Antragsteller angegeben hat, aufgrund seiner sexuellen Orientierung angefeindet worden zu sein, knüpfen die Anfeindungen zwar an ein asylrechtlich relevantes Merkmal im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG an, das eine Verfolgung begründen kann. Die vom Antragsteller geschilderten Situationen waren jedoch in ihrer Art und Wiederholung weder einzeln noch in ihrer Gesamtheit so gravierend, dass sie eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellen. Insbesondere beschränkten sich die vom Antragsteller geschilderten Bedrohungen auf seine Zeit in Daugavpils und hat der Antragsteller nach eigenen Angaben in Liepaja entsprechende Situationen gar nicht erlebt.

Zusätzlich relativiert wird der Vortrag des Antragstellers durch den Umstand, dass dessen Lebenspartner, der zusammen mit dem Antragsteller ausgereist und zusammen mit dem Antragsteller im Bundesgebiet einen Asylantrag gestellt hatte, seinen Asylantrag zurückgenommen und gegenüber der für ihn zuständigen Ausländerbehörde erklärt hat, bis zum 30.04.2024 freiwillig nach Lettland zurückgehen zu wollen. Die Bundesamtsakte des Lebenspartners mit dessen Erklärung vom 11.04.2024 liegt dem Gericht vor.

Darüber hinaus ergibt auch eine Auswertung der aktuellen Erkenntnismittel, dass die allgemeinen Verhältnisse in Lettland die Annahme eines individuellen Verfolgungsschicksals des Antragstellers nicht zu stützen vermögen.

So gibt es in Lettland keine Gesetze, die einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen verbieten. Die Regierung erlaubt im Allgemeinen die freie Meinungsäußerung, Vereinigung und friedliche Versammlung von LGBTQI+ Personen und anderen Personen, die sich zu LGBTQI+ Themen äußern. Im Mai 2022 erkannte ein Gericht zum ersten Mal ein gleichgeschlechtliches Paar als Familieneinheit an und berief sich auf ein Urteil des Verfassungsgerichts, wonach alle Familien gleichermaßen durch die Verfassung geschützt sind. Im Jahr 2022 haben die Gerichte sodann 28 bzw. 31 - insoweit gibt es unterschiedliche Angaben - weitere gleichgeschlechtliche Paare als legale Familieneinheit anerkannt (Aktueller Jahresbericht zur Menschenrechtslage des US State Departments vom 20.03.2023, https://www.ecoi.net/de/dokument/2089497.html; ILGA-Bericht zur Lage von LGBTI-Personen in Europa vom 20.02.23, https://www.ecoi.net/de/dokument/2087591.html; Jahresbericht von Amnesty International vom 28.03.2024). Im Jahr 2023 wurden weitere 40 gleichgeschlechtliche Paare von Gerichten anerkannt (ILGA-Bericht vom 29.02.2024, https://www.ilga-europe.org/files/uploads/2024/02/2024_latvia.pdf). Das Parlament wählte 2023 den offen schwulen Außenminister Edgars Rinkevics zum neuen Präsidenten des Landes. Die Polizei leitete eine Untersuchung ein, nachdem der ehemalige Europaabgeordnete Andrejs Mamikins als Reaktion auf die Wahl von Präsident Rinkevics einen homophoben Beitrag in den sozialen Medien veröffentlicht hatte (ILGA-Bericht vom 29.02.2024, https://www.ilga-europe.org/files/uploads/2024/02/2024_latvia.pdf).

Der Vortrag des Antragstellers, weit über 80 % der Gesellschaft Lettlands lehne Homosexualität ab, erweist sich als überholt. Auch ein von der Kirche im Sommer 2006 herausgegebener Text, auf den der Antragsteller verweist, ist ersichtlich kein Beleg für die aktuelle Situation von Homosexuellen in Lettland. Nach einer Umfrage eines lettischen Meinungsforschungsinstituts zusammen mit der lettischen Nichtregierungsorganisation Mozaika (Assoziation der LGBT und deren Freunde) im November 2022 nehmen 49 % der Befragten eine neutrale Haltung gegenüber homosexuellen Menschen ein und akzeptieren 25 % diese (ILGA-Bericht zur Lage von LGBTI-Personen in Europa vom 20.02.23, https://www.ecoi.net/de/dokument/2087591.html). Eine weitere Umfrage im März 2023 bestätigt diese Zahlen (ILGA-Bericht vom 29.02.2024, https://www.ilga-europe.org/files/uploads/2024/02/2024_latvia.pdf).

Ob es über die vorhandenen Erkenntnismittel weiterer Stellungnahmen zu den vom Antragsteller formulierten Fragen bedarf, wird im Hauptsacheverfahren zu entscheiden sein. Die Eilentscheidung ergeht lediglich unter Heranziehung der verfügbaren Beweismittel (vgl. W.-R. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 80 Rn. 125).

Auch in Bezug auf seine Herkunft aus Russland hat der Antragsteller keine Verfolgung schlüssig vorgetragen. Soweit er dazu angeben hat, sie sei bei der Arbeitssuche hinderlich gewesen, weil sie sich aus seinem Pass ergebe, ist damit ersichtlich keine politische Verfolgung dargelegt. Auch ist gar keine Benachteiligung des Antragstellers bei der Arbeitssuche erkennbar, da der Antragsteller nach eigenen Angaben in Lettland berufstätig war. Der Antragsteller hatte beim Bundesamt angegeben, als angestellter KFZ-Mechaniker und als Fachmann für Klimatechnik auf Baustellen gearbeitet zu haben.

Soweit der Antragsteller in seiner Antragsschrift darüber hinaus dazu vorträgt, dass nach dem Beginn von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine die Aufenthaltsregelungen für lettische Bürger russischer Herkunft wie ihn verschärft worden seien und von diesen für einen weiteren Aufenthalt in Lettland nun ein Sprachnachweis für die lettische Sprache auf dem Niveau A2 verlangt werde, hat er kein individuelles Verfolgungsschicksal dargetan, sondern lediglich zu allgemeinen Verhältnissen ausgeführt. In der Verschärfung des lettischen Aufenthaltsrechts (vgl. dazu Walter Mayr, Spiegel vom 09.03.2024; taz-Bericht von Barbara Oertel vom 15.01.2024, S. 10; taz-Bericht von Barbara Oertel vom 08.08.2023, S. 2) liegt zudem ersichtlich keine staatliche (Gruppen-) Verfolgung.

Dass der Antragsteller schließlich wegen seiner HIV-Erkrankung verfolgt worden ist, hat er selbst nicht vorgetragen.

Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich zugleich, dass dem Antragsteller bei einer Rückkehr nach Lettland auch kein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG droht.

Schließlich sind Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG weder substantiiert vorgetragen noch ersichtlich. Soweit der Antragsteller in der Antragsschrift angibt, es dürfe aufgrund seiner Lebensumstände schwer werden, überhaupt eine Wohnung zu erhalten, vermag der Vortrag eine Gefahr der Verelendung schon deshalb nicht zu begründen, weil der Antragsteller nach eigenen Angaben bisher in Lettland in Wohnungen gewohnt hat, die seiner Mutter gehörten. Weder hat er vorgetragen noch ist ersichtlich, dass er nicht in eine der Wohnung wieder einziehen kann. Auch ist er nach eigenem Vortrag in der Vergangenheit in Lettland nicht nur zur Schule gegangen und hat dort eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker gemacht, sondern auch gearbeitet, weshalb zu erwarten ist, dass er auch zukünftig dort seinen Lebensunterhalt sicherstellen wird. Ausweislich des Berichts der E. vom 11.07.2023 steht auch nicht zu befürchten, dass dem Antragsteller nach einer Rückkehr nach Lettland eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben droht. Seine HIV-Infektion ist nach den Angaben des Antragstellers gegenüber den behandelnden Ärzten der E. in der Vergangenheit in Lettland behandelt worden, weshalb nicht zu befürchten ist, dass dies zukünftig nicht der Fall sein wird.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).