Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 18.11.2021, Az.: 13 Verg 6/21
Sofortige Beschwerde gegen den Beschluss einer Vergabekammer; Hinreichende Bestimmtheit von Vergabeunterlagen
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 18.11.2021
- Aktenzeichen
- 13 Verg 6/21
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2021, 48700
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2021:1118.13VERG6.21.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- VK Niedersachsen - 15.07.2021 - AZ: VgK-27/2021
Rechtsgrundlagen
- § 57 Abs. 1 VgV
- § 133 BGB
- § 157 BGB
- § 175 Abs. 2 GWB
- § 71 S. 1 GWB
Fundstellen
- IBR 2022, 90
- VS 2022, 15
- VergabeR 2022, 122-125
Amtlicher Leitsatz
Aus den Vergabeunterlagen muss für die Bieter eindeutig und unmissverständlich hervorgehen, welche Erklärungen von ihnen verlangt werden.
Die Auslegung der Leistungsbeschreibung hat unter Berücksichtigung der Grundsätze der §§ 133, 157 BGB nach dem objektiven Empfängerhorizont aus Sicht des potentiellen Bieters zu erfolgen.
Tenor:
Der Beschluss der Vergabekammer Niedersachsen vom 15. Juli 2021 wird auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin mit Ausnahme der Zurückweisung des Antrags, den Zuschlag auf das Angebot der Antragstellerin zu erteilen, aufgehoben.
Der Antragsgegnerin wird bis zu einer fehlerfreien Wiederholung der Wertung der Angebote unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats untersagt, den Zuschlag in dem Vergabeverfahren "Lieferung und Montage von interaktiven Schultafeln mit Schreib- oder Zeichenoberflächen oder Zeichengeräten sowie die Wartung und Pflege der Geräte, bekannt gemacht im EU-Amtsblatt am 26. Februar 2021 (2021/S 040-097674)" zu erteilen.
Die Kosten des Nachprüfungsverfahrens vor der Vergabekammer einschließlich der notwendigen Aufwendungen tragen die Antragstellerin zu 50 % und die Antragsgegnerin zu jeweils 50 %. Die Hinzuziehung von Verfahrensbevollmächtigten war sowohl für die Antragstellerin als auch für die Antragsgegnerin notwendig.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die Kosten des Verfahrens nach § 173 Abs. 1 Satz 3 GWB trägt die Antragsgegnerin.
Die Beigeladene trägt ihre Kosten selbst.
Der Gegenstandswert für das Beschwerdeverfahren wird auf 28.185,74 € festgesetzt.
Gründe
I.
Die Antragsgegnerin hat die Ausstattung der Schulen in ihrem Stadtgebiet mit interaktiven Tafeln europaweit ausgeschrieben. Die näheren Anforderungen an die Hardware, die Software und die begleitenden Dienstleistungen sind dem Leistungsverzeichnis in Form einer Excel-Tabelle zu entnehmen. Ziff. 1 der Tabelle enthält 28 Spezifikationen für die interaktiven Tafeln, u.a. als Ziff. 1.23: "Ablagefläche für Stifte und Schwämme unterhalb des Displays". Es handelt sich um ein Ausschlusskriterium. Unter Ziff. 6 sind 13 Spezifikationen für die Wandhalterung aufgelistet. Die Wandhalterung muss danach über mindestens 220 cm hohe Pylonen und eine manuelle Höhenverstellung für die Displays verfügen. Unter Ziff. 14.1 wird - ebenfalls als Ausschlusskriterium - gefordert: "Deutschsprachige Telefonhotline in der Zeit von 8.00 Uhr bis 17.00 Uhr Montag bis Freitag, sowohl vom Hersteller als auch vom Bieter".
Die Antragstellerin und vier weitere Bieter gaben ein Angebot ab. Mit Schreiben vom 8. Juni 2021 informierte die Antragsgegnerin die Antragstellerin, dass ihr Angebot auszuschließen sei. Aus dem Leistungsverzeichnis ergebe sich, dass die Ablage für Stifte und Schwämme mit der interaktiven Tafel - und nicht mit der Wandhalterung - verbunden sein müsse, "um die volle Funktionsfähigkeit auch im Fall einer Nutzung ohne die zusätzlich geforderten Tafelflügel oder die Wandhalterung/Höhenverstellung erfüllen zu können". Das Angebot der Antragstellerin erfülle dieses Kriterium nicht. Außerdem erfülle das Angebot die Anforderungen an die Telefonhotline nicht. Der Hersteller biete zwar eine deutschsprachige Hotline an, der technische Support sei aber nur englischsprachig verfügbar. Die Antragsgegnerin beabsichtige, den Zuschlag auf das Angebot der Beigeladenen zu erteilen.
Nach erfolgloser Rüge hat die Antragstellerin bei der Vergabekammer beantragt, ein Nachprüfungsverfahren einzuleiten und der Antragsgegnerin zu untersagen, den Zuschlag auf das Angebot der Antragsgegnerin zu erteilen sowie sie zu verpflichten, die Wertung zu wiederholen und den Zuschlag auf das Angebot der Antragstellerin zu erteilen.
Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag zurückgewiesen. Sie hat ausgeführt: Der Ausschluss des Angebots sei zu Recht erfolgt. Aus der Gliederung des Leistungsverzeichnisses - Zuordnung der geforderten Ablagefläche zu Ziff. 1 "Spezifikationen - Interaktive Tafel" - ergebe sich für einen sachkundigen Bieter die Forderung, dass die Ablagefläche unmittelbar am Display installiert sein müsse und eine Befestigung an der Wandhalterung nicht genüge. Auf die Frage, ob die telefonische technische Unterstützung in deutscher Sprache angeboten werde, komme es daher nicht mehr an. Die Antragsgegnerin habe bei einem Testanruf festgestellt, dass die technische Unterstützung bisher nur in englischer Sprache angeboten werde. Auch wenn das zutreffe, sei es nicht relevant, weil kein Anbieter verpflichtet sei, begleitende Dienstleistungen bereits in der Angebotsphase anzubieten.
Gegen diesen Beschluss hat die Antragstellerin sofortige Beschwerde eingelegt, mit der sie ihre vor der Vergabekammer gestellten Anträge inzwischen in eingeschränktem Umfang weiterverfolgt. Die Antragsgegnerin habe in ihrem Leistungsverzeichnis an keiner Stelle gefordert, dass die Ablagefläche unmittelbar am Display selbst installiert werden müsse und eine Befestigung an der Wandhalterung nicht ausreiche. Soweit die Antragsgegnerin ausdrücklich eine Montage der Ablagefläche am Display selbst wünsche, hätte sie dies durch einen Zusatz im Leistungsverzeichnis deutlich machen können. Solche Zusätze habe sie z.B. in Ziff. 5. 6 und 6.8 des Leistungsverzeichnisses verwendet. Aus der Gliederung des Leistungsverzeichnisses ergebe sich nichts anderes. Sie lasse keinen Rückschluss auf den Ort der Montage der Ablagefläche zu.
Die Antragstellerin beantragt,
1. den Beschluss der Vergabekammer Niedersachsen bei dem Niedersächsischen Ministerium für Wirtschaft, Arbeit, Verkehr und Digitalisierung vom 15. Juli 2021 zu dem Aktenzeichen VgK-27/2021 aufzuheben, soweit damit der Nachprüfungsantrag zurückgewiesen wurde,
2. der Antragsgegnerin zu untersagen, den Zuschlag in dem Vergabeverfahren "Lieferung und Montage von interaktiven Schultafeln mit Schreib- oder Zeichenoberflächen oder Zeichengeräten sowie die Wartung und Pflege der Geräte, bekannt gemacht im EU-Amtsblatt am 26. Februar 2021 (2021/S 040-097674)", auf das Angebot der Beigeladenen zu erteilen,
3. die Antragsgegnerin zu verpflichten, die Wertung der Angebote unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats zu wiederholen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
die sofortige Beschwerde vom 28. Juli 2021 gegen den Beschluss der Vergabekammer Niedersachsen vom 15. Juli 2021 zurückzuweisen.
Die Antragsgegnerin verteidigt die Entscheidung der Vergabekammer. Die Beigeladene hat keinen eigenen Antrag gestellt und sich auch im Übrigen nicht am Verfahren beteiligt.
II.
Die sofortige Beschwerde führt in der Sache zum Erfolg, weil der von der Antragsgegnerin mit Schreiben vom 8. Juni 2021 erklärte, auf § 57 Abs. 1 VgV gestützte Ausschluss des Angebots der Antragstellerin nicht gerechtfertigt ist.
1.
Der Ausschluss des Angebots lässt sich nicht darauf stützen, dass bei der von der Antragstellerin angebotenen Lösung die Ablage für Stifte und Schwämme nicht fest mit der interaktiven Tafel (Display) verbunden ist.
Angebote, die Änderungen an den Vergabeunterlagen vornehmen, sind regelmäßig ohne Weiteres von der Wertung auszuschließen, § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV. Es entspricht allerdings - gerade mit Blick auf die Ausschlusssanktion - der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass aus den Vergabeunterlagen für die Bieter eindeutig und unmissverständlich hervorgehen muss, welche Erklärungen von ihnen verlangt werden. Die Vergabestellen trifft insoweit die Verpflichtung, die Vergabeunterlagen klar und eindeutig zu formulieren und Widersprüchlichkeiten zu vermeiden (BGH, Urteil vom 3. April 2012 - X ZR 130/10, juris Rn. 9). Da sich die Leistungsbeschreibung an eine Vielzahl von Bietern richtet, hat die Auslegung unter Berücksichtigung der Grundsätze der §§ 133, 157 BGB nach dem objektiven Empfängerhorizont aus Sicht des potentiellen Bieters zu erfolgen (Csaki in: Boyk/Jaeger, Vergaberecht, 4. Aufl., § 121 GWB Rn. 9 mit Nachw.).
Das vorliegende Leistungsverzeichnis enthält - wie auch die weiteren Vergabeunterlagen - keine Anforderung, dass die Ablagefläche für Stifte und Schwämme mit der interaktiven Tafel verbunden sein muss. Es heißt insoweit nur
"1. Spezifikationen - Interaktive Tafel
...
1.17 Stifte im Lieferumfang ....
1.18 Schwämme im Lieferumfang ...
...
1.23 Ablagefläche für Stifte und Schwämme unterhalb des Displays ...".
Eine Vorgabe, dass die Ablagefläche mit der interaktiven Tafel, d.h. dem Display, verbunden sein muss, findet sich im Leistungsverzeichnis nicht. Dies ergibt sich entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin auch nicht daraus, dass die Spezifikation "Ablagefläche für Stifte und Schwämme unterhalb des Displays" in der Gliederung des Leistungsverzeichnisses unter Ziff. 1 "Spezifikationen - Interaktive Tafel" - und nicht unter Ziff. 6 "Spezifikationen Wandhalterung" - aufgeführt ist. Gegenstand der Beschaffung waren nicht die einzelnen Komponenten, sondern ein Gesamtsystem (Lieferung und Montage der gesamten Hardware einschließlich interaktiver Tafeln und Wandhalterung, der Software sowie Wartung und Pflege der Geräte). Den Vergabeunterlagen lässt sich nicht einmal entnehmen, dass es der Antragsgegnerin überhaupt darauf ankam, an welchem Bauteil die Ablagefläche befestigt sein sollte. Aus dem Einsatzzweck als Schultafeln und der unter Ziff. 2 des Leistungsverzeichnisses "Wandhalterung" geforderten manuellen Höhenverstellung mag abzuleiten sein, dass sich die Ablage bei der Höheverstellung des Displays mitbewegen sollte, damit die Stifte und Schwämme für größere und kleinere Personen stets griffbereit unter dem Display liegen. Dies ist aber bei der angebotenen Befestigung der Ablage an den waagerechten Halterungen, auf denen das Display montiert ist, der Fall.
Soweit die Vergabekammer ausführt, die Antragsgegnerin habe im Vergabevermerk dargestellt, dass sie sich vorbehalte, die Displays auch ohne die Wandhalterung nutzen zu können, und dass die Antragsgegnerin im Nachprüfungsverfahren erklärt habe, dass auch der Einsatz in kleineren Besprechungsräumen (ohne die Wandhalterung) möglich sei solle, kommt es darauf schon deshalb nicht an, weil dies den Bietern vor Abgabe der Angebote nicht mitgeteilt worden war. Hiervon abgesehen heißt es oben im Leistungsverzeichnis "Einsatzzweck - Unterrichtsräume der Laatzener Schuleinrichtungen". Dass die interaktiven Tafeln mit Diagonalen von 74 - 77'' bzw. 84 - 87'', also Diagonalen von etwa zwei Metern, auch ohne die Wandhalterung verwendet werden sollen, war für die Bieter nicht erkennbar, erst recht nicht, dass nach der Vorstellung der Antragsgegnerin wegen eines solchen Einsatzzwecks die Ablageflächen für die Stifte und Schwämme fest mit dem Display verbunden sein mussten.
2.
Der Ausschluss des Angebots der Antragstellerin lässt sich, wie die Vergabekammer zutreffend ausgeführt hat, auch nicht damit begründen, dass das Angebot die Forderung "Deutschsprachige Telefonhotline ... sowohl vom Hersteller als auch vom Bieter" (Ziff. 14.1 des Leistungsverzeichnisses) nicht erfülle, weil der technische Support des Herstellers nicht verfügbar sei, wie sich aus der Website des Herstellers und bei Testanrufen ergeben habe.
Die Antragstellerin hat unstreitig bei der Anforderung unter Ziff.14.1 des Leistungsverzeichnisses "erfüllt" eingetragen und der Antragsgegnerin ein unterzeichnetes Angebot unterbreitet. Somit ist die geforderte deutschsprachige Telefonhotline von ihrem Angebot erfasst. Die Antragstellerin musste dieses Dienstleistungselement des Auftrags nicht bereits vor Auftragserteilung vorhalten. Sie hat, nachdem die Antragsgegnerin den Ausschluss des Angebots auch mit der nur englischsprachigen Verfügbarkeit des technischen Supports begründete, erklärt, dass sie bei Bedarf der Antragsgegnerin eine Bestätigung des Herstellers zukommen lassen könne, dass im Auftragsfall eine Nummer für eine die Anforderungen erfüllende deutschsprachige Servicehotline mitgeteilt werde (Schreiben vom 9. Juni 2021). Die Bestätigung des Herstellers hat die Antragstellerin inzwischen vorgelegt (Bl. 90 der Vergabekammerakten). Soweit die Antragsgegnerin geltend macht, dass die Antragstellerin die Bestätigung bereits mit dem Angebot hätte vorlegen müssen, war dies, soweit ersichtlich, in den Vergabeunterlagen nicht gefordert.
3.
Die Kostenentscheidung für das Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer folgt aus § 182 Abs. 3, 4 Satz 1 GWB unter Berücksichtigung des weitergehenden Ziels der Antragstellerin, die Antragsgegnerin zur Erteilung des Zuschlags auf ihr Angebot zu verpflichten. Die Notwendigkeit der Hinzuziehung von Verfahrensbevollmächtigten auf Antragsgegnerseite für das Nachprüfungsverfahren vor der Vergabekammer hat diese bereits festgestellt; Gleiches gilt entsprechend § 80 Abs. 2 und 3 Satz 2 VwVfG auch für die Antragstellerin.
Die Kostenentscheidung folgt für das Beschwerdeverfahren aus § 175 Abs. 2 i. V. m. § 71 Satz 1 GWB in der seit dem 19. Januar 2021 geltenden Fassung. Danach haben die im Beschwerdeverfahren unterlegenen Beteiligten die Kosten des Verfahrens zu tragen und zwar einschließlich der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen. Insoweit hat der zwischenzeitlich fallen gelassene Antrag auf Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Erteilung des Zuschlags auf das Angebot der Antragstellerin keinen Mehraufwand verursacht. Die Hinzuziehung der Verfahrensbevollmächtigten im Beschwerdeverfahren ist nicht gesondert für notwendig zu erklären, weil es sich bei dem Beschwerdeverfahren ohnehin um einen Anwaltsprozess handelt, § 175 Abs. 1 Satz 1 GWB. Gleiches gilt für die Kosten des Verfahrens nach § 173 Abs. 1 Satz 3 GWB, das ebenfalls nach den Grundsätzen des Obsiegens und Unterliegens in der Hauptsache zu beurteilen ist (vgl. Senatsbeschluss vom 29. Juni 2017 - 13 Verg 1/17, juris Rn. 79).
Eine Auslagenentscheidung auch zugunsten der Beigeladenen ist mangels aktiver Beteiligung in den Verfahren nicht veranlasst.
Der Gegenstandswert beträgt gemäß § 50 Abs. 2 GKG fünf Prozent der Bruttoauftragssumme. Die Bruttoauftragssumme beträgt hier 563.714,76 €. Fünf Prozent davon sind 28.185,74 €.