Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 01.09.2005, Az.: 4 A 4100/00
Betrieb; Gebiet; Gebot; Gebäude; Gemenge; Gemengelage; Geräusch; Gewerbe; Immissionen; Immissionsrichtwert; Lage; Lärm; Richtwert; Rücksicht; Rücksichtnahmegebot; Schall; TA Lärm; Wert; Wirksamkeit
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 01.09.2005
- Aktenzeichen
- 4 A 4100/00
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 50774
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- nachfolgend
- OVG Niedersachsen - 14.02.2007 - AZ: 12 LC 37/07
- BVerwG - 12.09.2007 - AZ: BVerwG 7 B 24.07
Rechtsgrundlagen
- TA Lärm
- § 5 Abs 1 Nr 1 BImSchG
- § 6 Abs 1 BImSchG
- § 26 BImSchG
- § 9 BauNVO
- § 154 Abs 1 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Bei der Zwischenwertbildung gem. Ziffer 6.7 TA Lärm ist im Einzelfall eine Anhebung um mehr als 5 db(A) bzw. die Heraufstufung um mehr als eine Gebietsqualität i. S. d. Ziffer 6.1 TA Lärm zulässig.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen die gegenüber der Beigeladenen erfolgte Zulassung höherer Geräuschimmissionen.
Der Kläger ist seit 1973 Eigentümer des Grundstücks „C.“ in D., auf dem sich ein 1956 errichtetes Wohngebäude befindet. Die Straße „C.“ verläuft an der südöstlichen Grenze einer sich keilförmig über eine Länge von etwa 400 Metern von Südwesten nach Nordosten erstreckenden Forstplantage, dem sog. C.. Auf dieser Seite des C. befinden sich bis zur etwa 120 bis 150 Meter entfernten Industriebahnstrecke überwiegend 11/2-geschossige Wohngebäude. Das Wohnhaus des Klägers liegt etwa 100 Meter von der nordöstlichen Spitze des C. entfernt. Nordöstlich des Grundstücks des Klägers befinden sich ein weiteres Wohngrundstück, eine unbebaute Fläche und - an die nordöstliche Spitze des C. grenzend - einzelne Gebäude, die teils zu Wohn-, teils zu gewerblichen Zwecken genutzt werden sowie das Betriebsgelände einer Wellpappenfabrik.
Die nordwestliche Grenze des C. bildet die N. Straße, an der sich über die Gesamtlänge des C. und über dessen nordöstliches Ende hinaus das Betriebsgelände der Beigeladenen befindet. Das Wohnhaus des Klägers ist etwa 80 Meter Luftlinie von dem Betriebsgelände der Beigeladenen entfernt. Sowohl das Grundstück des Klägers als auch das Betriebsgelände der Beigeladenen befinden sich am Rande des unbeplanten Innenbereichs der Stadt D. in einem Tal, das vom Gewässer „W.“ durchflossen wird.
Die Beigeladene betreibt eine genehmigungsbedürftige Anlage, die der Herstellung von Karton und Vollpappe dient und - mit nur wenigen Unterbrechungen während des Jahres - im Tag- und Nachtbetrieb arbeitet. Mit Bescheid vom 23.6.1992 genehmigte ihr der Beklagte die Änderung der Kartonmaschinen I und III sowie der seinerzeit noch zu der Beigeladenen gehörenden Wellpappenfabrik. Als Nebenbestimmung schrieb der Bescheid vor, dass die von der Anlage zur Herstellung von Karton und Wellpappe verursachten Geräuschimmissionen an dem Wohngebäude „C.“ 55 dB(A) tagsüber und 40 dB(A) nachts nicht überschreiten dürfen. Nachdem es der Beigeladenen trotz Durchführung von Lärmminderungsmaßnahmen nicht gelungen war, die für die Nachtzeit vorgegebenen Immissionswerte einzuhalten, beantragte sie unter dem 15.7.1998, den Immissionswert für die Nachtzeit auf 45 dB(A) anzuheben. Mit Bescheid vom 13.7.1999 setzte der Beklagte die zulässigen Geräuschimmissionen während der Nachtzeit auf 44 dB(A) herauf. Als Messpunkt bestimmte er das Wohngebäude des Klägers. Zur Begründung gab der Beklagte an:
Die Schutzbedürftigkeit des klägerischen Grundstücks sei zunächst an den Kriterien für ein allgemeines Wohngebiet zu messen. Das Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Nutzungsarten - Industriegebiet einerseits und allgemeines Wohngebiet andererseits - ziehe die Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme nach sich. Der Stand der Lärmminderungstechnik sei nach entsprechender Anordnung eingehalten worden. Die durchgeführte Lärmmessung habe eine nächtliche Belastung von 43 dB(A) ergeben. Das nds. Landesamt für Ökologie (NLÖ) habe bestätigt, dass weitere Maßnahmen unverhältnismäßig seien. Der Zwischenwert von 44 dB(A) sei gebildet worden, weil er für die Beigeladene keine unzumutbare Einschränkung darstelle und eine Belastung bis zu 45 dB(A) - wie sie für Mischgebiete zugelassen sei - noch gesunden Wohnverhältnissen entspreche.
Den gegen diesen Bescheid erhobenen Widerspruch des Klägers wies die Bezirksregierung Braunschweig mit Bescheid vom 29.5.2000, zugestellt am 3.6.2000, zurück.
Am 3.7.2000 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung führt er aus:
Vor 1988 seien von der Beigeladenen keine störenden Emissionen ausgegangen. Der seinem Grundstück unmittelbar gegenüber liegende Teil des Betriebsgeländes sei unbebaut gewesen. Danach habe die Beigeladene infolge mehrerer Betriebserweiterungen ihre Betriebsgebäude um 100 bis 150 Meter in Richtung seines Grundstücks verlagert. Seit 1992 gingen erhebliche Störungen von dem Betrieb aus. Die von dem Beklagten festgesetzten Immissionswerte seien zu hoch. Sie hätten bei ihm und seiner Familie bereits zu gesundheitlichen Beschwerden geführt. Südöstlich des C. befinde sich ein einheitliches Wohngebiet, das als reines Wohngebiet zu bewerten sei. Eine Vorbelastung des Gebiets bestehe nicht. 1956 seien die Betriebsgebäude der Beigeladenen noch etwa 200 Meter von seinem Wohnhaus entfernt gewesen. Auf dem seinem Haus gegenüber gelegenen Teil des Betriebsgeländes habe sich ein Holzlager befunden. Die Priorität der Wohnbebauung habe der Beklagte bei seiner Entscheidung nicht beachtet. Es dränge sich zudem auf, dass die Grenzwerte nach dem Ergebnis der zuvor durchgeführten Lärmmessung festgesetzt worden seien. Die in der Vergangenheit durchgeführten Lärmmessungen seien zudem fehlerhaft.
Der Kläger beantragt,
die der Beigeladenen vom Beklagten am 13.7.1999 erteilte Änderungsgenehmigung und den Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Braunschweig vom 29.5.2000 insoweit aufzuheben, als an seinem - des Klägers - Wohngebäude Geräuschimmissionen zur Nachtzeit von 44 dB(A) statt bisher 40 dB(A) zugelassen werden.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Entgegen der Ansicht des Klägers hätten sich die Immissionen seit 1992 nicht erhöht. Vielmehr belegten die seit 1991 durchgeführten Lärmmessungen eine stetige Verringerung der Lärmbeeinträchtigung. Auch auffällige Geräuschspitzen seien reduziert worden. Durch den hier streitgegenständlichen Bescheid sei lediglich eine Anpassung an die Rechtslage erfolgt, die in dem 1992 ergangenen Bescheid nur unzureichend beachtet worden sei. Die Lärmmessungen seien in Übereinstimmung mit der TA Lärm erfolgt.
Die Beigeladene beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die an diesem Standort seit über 100 Jahren betriebene M. und die damit einhergehenden Geräuschemissionen prägten das gesamte Siedlungsgebiet, das deshalb allenfalls als allgemeines Wohngebiet klassifiziert werden könne.
Während des gerichtlichen Verfahrens - mit Verfügung vom 16.10.2000 - ordnete der Beklagte die sofortige Vollziehung des Bescheides vom 13.7.1999 an. Mit Bescheid vom 6.11.2000 genehmigte der Beklagte überdies eine weitere Änderung der Kartonmaschinen I und III mit dem Ziel, die Produktionskapazität auf 900 t Vollpappe pro Tag zu erhöhen. In der Begründung des Bescheides (Seite 7 des Bescheides, letzter Absatz) wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die mit Bescheid vom 13.7.1999 festgesetzten Immissionswerte fortgelten.
Das Gericht hat die Örtlichkeiten während der mündlichen Verhandlung am 1.9.2005 in Augenschein genommen. Wegen der Einzelheiten wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.
Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten und der Bezirksregierung Braunschweig verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig. Insbesondere ist der Kläger klagebefugt. Denn er beruft sich auf eine Verletzung des auch den Kläger als Nachbarn der Anlage schützenden § 5 Abs. 1 BImSchG. Die Klage ist jedoch unbegründet. Die Festsetzung der zulässigen Geräuschimmissionen in Höhe von 44 dB (A) während der Nachtzeit ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
Rechtsgrundlage des Bescheides vom 13.7.1999, der sich hinsichtlich der hier streitigen Regelung durch den nachfolgenden Bescheid nicht erledigt hat, sind die §§ 16, 6, 5 Abs. 1 Nr. 1 des BImSchG i.d.F. des Gesetzes vom 3.5.2000 (BGBl. I S. 632), das bei der letzten Behördenentscheidung - dem Widerspruchsbescheid vom 29.5.2000 - galt und bei der hier vorliegenden Drittanfechtung maßgebend ist.
Gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG ist die (Änderungs-)Genehmigung zu erteilen, wenn sichergestellt ist, dass die sich aus § 5 und einer aufgrund des § 7 BImSchG erlassenen Rechtsverordnung ergebenden Pflichten erfüllt werden. Nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG sind Anlagen so zu errichten und zu betreiben, dass zur Gewährleistung eines hohen Schutzniveaus für die Umwelt insgesamt u. a. erhebliche Nachteile und erhebliche Belästigungen für die Nachbarschaft nicht hervorgerufen werden können. Maßgebliche Anhaltspunkte für die Konkretisierung der Schutzpflicht des § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG in Ansehung von Lärmbelästigungen enthält die auf der Grundlage des § 48 BImSchG erlassene TA Lärm vom 26. August 1998 (GMBl. S. 503), die als allgemeine Verwaltungsvorschrift nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts zwar grundsätzlich keine unmittelbare Außenwirksamkeit, aber eine normkonkretisierende Wirkung besitzt, indem sie ein einheitliches Ermittlungs- und Beurteilungssystem zur Feststellung der maßgeblichen Geräuschkenngrößen und bestimmte Immissionsrichtwerte als Zumutbarkeitsmaßstab festlegt. Dies hat zur Folge, dass sie auch für die Verwaltungsgerichte grundsätzlich verbindlich ist (BVerwGE 107, 338; BVerwGE 110, 216; Nds. OVG, Urteil vom 21.1.2004 - 7 LB 54/02 -, NdsVBl 2004, 307).
Nach Ziffer 6.1. der TA Lärm bestimmen sich die Immissionsrichtwerte grundsätzlich nach der jeweiligen Nutzungsart des Gebietes. Grenzen jedoch gewerbliche, industriell oder hinsichtlich ihrer Geräuschauswirkungen vergleichbar genutzte und zum Wohnen dienende Gebiete aneinander (Gemengelage), können die für die zum Wohnen dienenden Gebiete geltenden Immissionsrichtwerte auf einen geeigneten Zwischenwert der für die aneinandergrenzenden Gebietskategorien geltenden Werte erhöht werden, soweit dies nach der gegenseitigen Pflicht zur Rücksichtnahme erforderlich ist. Die Immissionsrichtwerte für Kern-, Dorf und Mischgebiete sollen dabei nicht überschritten werden. Der Stand der Lärmminderungstechnik ist einzuhalten (Ziffer 6.7 Abs. 1 TA Lärm).
Eine solche Gemengelage liegt hier vor. Die Wohnbebauung südöstlich des C. beginnt etwa 80 bis 200 Meter entfernt von dem auf der gegenüberliegenden Seite des C. befindlichen Betriebsgelände der Beigeladenen, das industriell genutzt wird. Im Nordosten grenzt das Wohngebiet an ein Gebiet mit gewerblicher und industrieller Nutzung. Dass in Bereichen, in denen Gebiete von unterschiedlicher Qualität und unterschiedlicher Schutzwürdigkeit zusammentreffen, die Grundstücksnutzung mit einer spezifischen gegenseitigen Pflicht zur Rücksichtnahme belastet ist, wie sich aus Ziffer 6.7 TA Lärm ergibt, ist in der Rechtsprechung anerkannt (BVerwGE 50, 49). Dieser auch und gerade im Immissionsschutzrecht geltende Zwang zur gegenseitigen Rücksichtnahme führt schon generell dazu, dass die Bewohner eines bestimmten Gebietstyps, die an der Grenze zu einem weniger schützenswerten Gebiet liegen, mehr an Geräuschen hinnehmen müssen, als die Bewohner von gleichartig genutzten Gebieten, die nicht im Grenzbereich zu Gebieten liegen, in denen die Grenze der Zumutbarkeit durch Festsetzung höherer Immissionsrichtwerte gezogen ist. Dieser erhöhten Duldungspflicht des Nachbarn korrespondiert die Einschränkung des Rechts eines Anlagenbetreibers, der aus Rücksicht auf den Gebietscharakter der Umgebung nicht mehr soviel Lärm erzeugen darf, wie es der Charakter des Gebietes zulässt, in dem sich die Anlage befindet.
Bei der Bildung des Zwischenwertes wird eine rein rechnerische, von abstrakten Gebietsrichtwerten ausgehende Mittelwertbildung den Anforderungen des gegenseitigen Gebots der Rücksichtnahme nicht gerecht (BVerwG, Beschluss vom 29.10.1984, NVwZ 1985, 186 [BVerwG 29.10.1984 - BVerwG 7 B 149/84]). Ziffer 6.7 Abs. 2 TA Lärm bestimmt deshalb, dass für die Höhe des Zwischenwertes die konkrete Schutzwürdigkeit des betroffenen Gebietes maßgeblich ist. Wesentliche Kriterien sind die Prägung des Einwirkungsgebietes durch den Umfang der Wohnbebauung einerseits und durch Gewerbe- und Industriebetriebe andererseits, die Ortsüblichkeit eines Geräusches und die Frage, welche der unverträglichen Nutzungen zuerst verwirklicht wurde.
Maßgeblich für die Beurteilung der Schutzbedürftigkeit des Wohngebiets sind die tatsächlichen Verhältnisse und damit die Ortsüblichkeit, da ein Bebauungsplan als rechtliche Vorgabe fehlt (Jarass, BImSchG, 6. Aufl. 2005, Rn. 57 m.w.N.). Die Darstellungen des hier für das streitige Gebiet vorliegenden Flächennutzungsplans sind bei der Festlegung der Zumutbarkeitsschwelle unerheblich. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 23.10.2000 - 7 B 71/00 -, DVBl 2001, 642) ist Maßstab der Schutzbedürftigkeit gegenüber Lärm im unbeplanten Innenbereich die vorhandene Bebauung (vgl. § 34 BauGB), was die Beachtlichkeit von Darstellungen des Flächennutzungsplans ausschließt.
Hier sind die tatsächlichen Verhältnisse dadurch bestimmt, dass zwischen der südöstlichen Seite des C. und der Industriebahnstrecke eine ausschließlich Wohnzwecken dienende Bebauung besteht, die durch den C. und die N. Straße zumindest optisch von der industriellen Nutzung getrennt ist. Die nordöstlich an den C. grenzende gewerbliche und industrielle Nutzung ist von der Wohnnutzung südöstlich des C. durch eine Freifläche, den Baumbestand des C. und die Verschwenkung der Straße „C.“ abgegrenzt. Nach dem Eindruck, den das Gericht während der Ortsbesichtigung gewonnen hat, entspricht das Gebiet, in dem sich das Grundstück des Klägers befindet, dem eines reinen Wohngebiets i.S.d. § 3 Baunutzungsverordnung (BauNVO). Ein im südöstlichen Teil des C. liegender Tennisplatz ist zwar aufgrund seiner Größe untypisch für ein reines Wohngebiet, wird aber von dem C. derart umschlossen, dass er den Charakter des weiter nördlich liegenden Wohngebiets nicht mehr zu beeinflussen vermag.
Nordwestlich des Wohngebiets erstreckt sich das Betriebsgelände der Beigeladenen, das als Industriegebiet i.S.d. § 9 BauNVO einzuordnen ist; das Gebiet nordöstlich des Wohngebiets entspricht einem Gewerbegebiet i.S.d. § 8 BauNVO.
Der Beklagte hat den für das Grundstück des Klägers einzuhaltenden Immissionswert auf 44 dB(A) während der Nachtzeit festgesetzt. Die Bildung dieses Wertes, der zwischen dem in einem reinen Wohngebiet einzuhaltenden Nachtwert von 35 dB(A) und dem für Industriegebiete geltenden Wert von 70 dB(A) liegt, hält das Gericht unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Beweisaufnahme für noch angemessen, um die widerstreitenden Interessen zum Ausgleich zu bringen.
Für die Kammer maßgebend war, dass der Betrieb der Beigeladenen den nordöstlichen Teil des Ortsbildes der Stadt D. entscheidend prägt. Auf dem weitläufigen Gelände besteht seit mehr als 100 Jahren eine M., so dass der Betrieb zu den gewachsenen Strukturen dieses Gebietes gehört.
Der Einwand des Klägers, der Betrieb sei seit dem Bau seines Wohnhauses um etwa 200 Meter näher gerückt, vermag daran nichts zu ändern. Die von dem Kläger vorgelegte Kopie einer Ansichtskarte aus dem Jahre 1937 belegt, dass bereits vor der Bebauung südöstlich des C. das Betriebsgelände der Beigeladenen - wenn auch nicht in demselben Umfang - für nicht dem Wohnen dienende Zwecke genutzt wurde. Der dort erkennbare Schornstein, der die übrigen Gebäude deutlich überragt, befindet sich noch heute auf dem Betriebsgelände. Wohn- und industrielle Nutzungen entwickelten sich danach allenfalls parallel. Für eine Priorität des Wohngebiets ist nichts ersichtlich.
Auch eine Erhöhung der Lärmimmission ist trotz mehrerer Betriebserweiterungen nicht erkennbar. Hierzu hat der Kläger vorgetragen, dass er bis 1992 den Betrieb der Beigeladenen nicht als störend empfunden hat. Erst ab 1992 habe sich infolge von Betriebserweiterungen die Lärmbelastung erhöht. Dieser Vortrag lässt sich anhand der vorliegenden Lärmgutachten nicht verifizieren.
Das Lärmgutachten vom 11.11.1991 ergab aufgrund einer im Oktober 1991 erfolgten dreiwöchigen Messung für das Grundstück „C.“ einen Beurteilungspegel für die Nachtzeit von 45dB(A). Da dieses Grundstück etwa 150 Meter und damit fast doppelt so weit wie das des Klägers vom Betriebsgelände der Beigeladenen entfernt liegt, ist davon auszugehen, dass die Immissionen auf dem Grundstück des Klägers über denen des beim damaligen Messpunkt ermittelten Wertes lagen.
Dem Gutachten vom 29.12.1994 über eine Messung vom 17.11. bis 13.12.1994 sind vor dem Wohngebäude des Klägers Nachtwerte von 45 dB(A) zu entnehmen. Zuschläge für Einzeltöne waren nach den Messungen seinerzeit nicht erforderlich, jedoch wahrnehmbar. Die Gutachter kamen zu dem Ergebnis, dass an den Hauptquellen dieser Einzeltöne lärmreduzierende Maßnahmen mit verhältnismäßigen Mitteln zu realisieren seien.
Zwei weitere Gutachten datieren vom 18.7.1997. Mit einer Messung am 20.6.1997 sollte die Wirksamkeit durchgeführter Lärmreduzierungsmaßnahmen an den Lärmquellen überprüft werden. Diese ergab, dass die Gesamtschallleistung des Betriebes sich durch die Maßnahmen um 6,6 dB(A) verringert hatte. Die Maßnahmen entsprachen nach Einschätzung der Gutachter dem Stand der Lärmminderungstechnik. Eine Messung vor dem Wohngebäude des Klägers in der Zeit vom 13.5.1997 bis 3.6.1997 ergab einen Nachtwert von 43 dB(A). Markante Einzeltöne waren gegenüber dem Vorgutachten nicht mehr feststellbar.
Vom 3.6. bis 2.7.2002 wurde eine weitere Messung vor dem Hause des Klägers durchgeführt. Das Gutachten vom 8.10.2002 errechnete für die Nachtzeit einen Beurteilungspegel von 45,8 dB(A) ± 0,5 dB(A). Aufgrund der Ziffer 6.9 der TA Lärm ergebe sich keine signifikante Überschreitung der von dem Beklagten vorgegebenen Immissionswerte. Nach Ziffer 6.9 TA Lärm ist der durch Messung ermittelte Beurteilungspegel zum Vergleich mit den maßgeblichen Immissionsrichtwerten um 3 dB(A) zu vermindern. Unter Berücksichtigung dieser Vorschrift war von einem nächtlichen Immissionswert zwischen 42,3 und 43,3 dB(A) auszugehen. In dem vierwöchigen Messzeitraum waren zwei Spitzenwertüberschreitungen (> 65 dB(A), Ziffer 6.3 TA Lärm) erkennbar. Die Gutachter kamen zu dem Ergebnis, dass regelmäßige Spitzenüberschreitungen nicht erkennbar seien.
Die Lärmbelastung vor dem Haus des Klägers hat sich danach zwischen 1991 und 2002 verringert, obwohl sich die Produktionsleistung in diesem Zeitraum nahezu verdoppelt hat.
Die Einwände des Klägers gegen die Gutachten greifen nicht durch. Die Gutachten sind jeweils von einer nach § 26 BImSchG zugelassenen Stelle erstellt worden. Sie sind - jedenfalls ab 1994 - vom Nds. Landesamt für Ökologie überprüft und bestätigt worden. Soweit der Kläger meint, die Gutachter hätten Einzeltonzuschläge nicht vorgenommen, obwohl Einzeltonquellen vorhanden seien, verkennt er, dass nicht jede Einzeltonquelle zu einem Zuschlag führt. Zuschläge für hervortretende oder impulshaltige Töne sind nach A.3.3.5 und A.3.3.6 des Anhangs zur TA Lärm vorzunehmen. Die unter A.3.3.5 genannte DIN-Norm zur Beurteilung hervortretender Geräusche ist in dem Gutachten vom 8.10.2002 angewandt worden. Impulsartige Geräusche konnten nicht festgestellt werden (Seite 17 d. Gutachtens). Im Übrigen sind die von dem Kläger genannten Geräuschquellen in die Berechnung des Mittelungspegel eingeflossen. Auch in den Vorgutachten ist nicht erkennbar, dass die Bestimmungen der seinerzeit geltenden TA Lärm vom 16.7.1968 (Beil. BAnz. Nr. 137) missachtet wurden. In den 1991, 1994 und 1997 erstellten Gutachten wurde zu der Erheblichkeit von Einzeltönen jeweils Stellung genommen. 1994 wurden - wenn auch nach der TA Lärm nicht erhebliche - Einzeltöne festgestellt und lärmreduzierende Maßnahmen angeregt.
Aus welchen Gründen der Kläger sonst zu einer Erhöhung der Lärmimmissionen seit 1992 kommt, ist nicht ersichtlich. Die von ihm vorgelegten Tages-Mittelungspegel von 1991, 1994 und 1997 sind hier nicht relevant, weil zum einen nicht der Mittelungs-, sondern der Beurteilungspegel maßgeblich ist und zum anderen im vorliegenden Verfahren lediglich die Immissionen während der Nachtzeit streitgegenständlich sind.
Kann danach nicht festgestellt werden, dass der Betrieb der Beigeladenen an die Wohnbebauung „herangerückt“ ist, sondern allenfalls eine parallele Entwicklung von industrieller und Wohnnutzung vorliegt, ist eine besondere, über das übliche Maß hinausgehende Schutzbedürftigkeit für das Wohngebiet beim Ausgleich der gegenseitigen Interessen nicht gegeben.
Der Umstand, dass sich Wohn- und Industriegebiet zumindest gleichzeitig entwickelt haben, rechtfertigt hier die Heraufsetzung um mehr als 5 dB(A) gegenüber den für reine Wohngebiete geltenden Werten. Denn die Heraufsetzung um (lediglich) 5 dB(A) greift häufig bereits dann ein, wenn ein Anlagenbetrieb der Wohnbebauung zeitlich nachfolgte (vgl. Hess. VGH, Urteil vom 4.11.1992 - 14 UE 21/88 -, NVwZ 1993, 1004 [OVG Nordrhein-Westfalen 09.07.1992 - 7 A 158/91] m.w.N.). Die Pflicht zur Rücksichtnahme auf Seiten der Beigeladenen wird dadurch nicht verletzt. Sie wäre bei Nichtbestehen der Gemengelage lediglich zur Einhaltung eines Immissionsrichtwertes von 70 dB (A) verpflichtet (Ziffer 6.1 a) TA Lärm).
Die Hinnahme höherer Belastungen ist dem Kläger auch eher zuzumuten als den Bewohnern der weiter südlich gelegenen Grundstücke. Das Grundstück des Klägers liegt am Rande des Wohngebietes und weist zum Betriebsgelände der Beigeladenen die geringste Entfernung auf. Es ist auf zwei Seiten in maximal 200 Metern Entfernung von Grundstücken mit industrieller bzw. gewerblicher Nutzung umgeben. In einer vergleichbaren Lage befindet sich lediglich das Nachbargrundstück des Klägers. Diese vergleichsweise nachteilige Lage innerhalb des Wohngebiets bestand bereits beim Bau des Wohngebäudes im Jahre 1956.
Dem Schutzbedürfnis der Wohnbevölkerung hat der Beklagte dadurch Rechnung getragen, dass er einen unter 45 dB(A) liegenden Nachtwert festgesetzt hat. Eine Lärmbelastung bis zu 45dB (A) nachts geht nicht über das in einem Misch- oder Dorfgebiet zulässige Maß hinaus (Ziffer 6.1 c) TA Lärm); auch diese Gebiete dienen aber dem Wohnen (vgl. §§ 6 Abs. 1 und 5 Abs. 1 der BauNVO). Nach der Begründung des Bundesrates zu Ziffer 6.7 TA Lärm, nach der dieser Wert auch bei Gemengelagen nicht überschritten werden soll, sind bei einer derartigen Immissionslage gesunde Wohnverhältnisse ohne passive Lärmschutzmaßnahmen noch gewährleistet (Bundesrats-Drucksache Nr. 254/98 vom 19.6.1998).
Die Festsetzung eines unter 45 dB(A) liegenden Wertes berücksichtigt zudem die der Beigeladenen technisch möglichen Lärmminderungsmaßnahmen.
Der Stand der Lärmminderungstechnik wird von der Beigeladenen eingehalten. Dies wird durch das Gutachten vom 18.7.1997 bestätigt. Auch das NLÖ kam in seiner Stellungnahme vom 7.10.1997 aufgrund eigener Berechnungen zu dem Ergebnis, dass weitere Lärmminderungsmaßnahmen technisch und wirtschaftlich kaum durchführbar sind. Substantiierte Einwände gegen diese gutachterlichen Stellungnahmen hat der Kläger nicht erhoben. Eine weitere Reduzierung der nächtlichen Immissionswerte wäre deshalb nur über eine spürbare Einschränkung der Produktion bzw. das Ruhen der Produktion während der Nachtzeit möglich. Eine Ausdehnung der Produktion zu der dem Grundstück des Klägers abgewandten Seite ist aufgrund der Hanglage nicht möglich.
Der Auffassung, dass bei der Zwischenwertbildung entsprechend der Abstufung in der TA Lärm im Regelfall eine Anhebung um maximal 5 dB(A) erfolgen darf (so Kutscheidt in: Landmann/Rohmer, BImSchG, Stand: April 2005, § 3 Rn. 15 c) und in NVwZ 1999, 577 (579); VG München, Urteil vom 26.3.1981 - M 71 XVI 78 -, GewArch 1982, 68; a.A.: Kunert, NuR 1999, 430 (433)), schließt sich das Gericht nicht an. Diese schematisierende Betrachtung steht einer Einzelfallbewertung entgegen und ermöglicht gerade beim Aufeinandertreffen an sich unverträglicher Nutzungsarten - wie hier bei einem Nebeneinander von reiner Wohn- und industrieller Nutzung - keinen sachgerechten Interessenausgleich. Der TA Lärm ist insoweit lediglich zu entnehmen, dass der für Mischgebiete geltende Richtwert im Regelfall nicht überschritten werden darf. Dies ist hier nicht geschehen.
Da der Kläger unterliegt, hat er gemäß §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen. Letztere waren aus Billigkeitsgründen für erstattungsfähig zu erklären, weil die Beigeladene mit der Folge eines eigenen Kostenrisikos (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO) einen Antrag gestellt hat. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Das Gericht lässt die Berufung zu, weil es der Frage, ob eine Anhebung des maßgeblichen Immissionswertes um mehr als 5 dB(A) bzw. die Heraufstufung um mehr als eine Gebietsqualität zulässig ist, grundsätzliche Bedeutung beimisst (§§ 124 a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO).