Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 25.06.1997, Az.: III 240/91

Berücksichtigung des gleichen Lebenssachverhaltes zuungunsten des Steuerpflichtigen bei der Einkommensteuer und beim alten Grunderwerbsteuerrecht ; Voraussetzungen für das Merkmal des "bestimmten Sachverhalts"; Selbstnutzung des betroffenen Einfamilienhauses

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
25.06.1997
Aktenzeichen
III 240/91
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1997, 15994
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:1997:0625.III240.91.0A

Verfahrensgegenstand

Grunderwerbsteuer

Amtlicher Leitsatz

Zum Anwendungsbereich des § 174 Abs. 1 Nr. 1 AO bei Berücksichtigung des gleichen Lebenssachverhaltes zugunsten des Steuerpflichtigen bei der Einkommensteuer und beim alten Grunderwerbsteuerrecht (GrEStEigWoG).

Der III. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts hat
ohne mündliche Verhandlung
in der Sitzung vom 25. Juni 1997,
an der mitgewirkt haben:
Vorsitzender Richter am Finanzgericht ...
Richter am Finanzgericht ...
Richter am Finanzgericht ...
ehrenamtlicher Richter ...
ehrenamtliche Richterin ...
fürRecht erkannt:

Tenor:

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom ... und des Einspruchsbescheids vom ... verpflichtet, den Grunderwerbsteuerbescheid vom 6. August 1966 aufzuheben.

Der Beklagte trägt die Kosten.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der von dem Kläger zu erstattenden Kosten abzuwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit leistet.

Die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren war notwendig.

Tatbestand

1

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob ein an den Kl ergangener Grunderwerbsteuerbescheid wegen widerstreitender Steuerfestsetzung aufzuheben ist.

2

Der Kl. erwarb aufgrund notariellen Grundstückskaufvertrags vom ... sowie einer nicht notariell beglaubigten Zusatzvereinbarung ein in K. belegenes, mit einem Einfamilienhaus bebautes Grundstück zum Kaufpreis von 230.000 DM. Er beantragte bei dem beklagten Finanzamt - FA - zunächst die Grunderwerbsteuerbefreiung gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Grunderwerbsteuerbefreiung beim Erwerb von Einfamilienhäusern, Zweifamilienhäusern und Eigentumswohnungen (GrEStEigWoG). Das FA stellte den Erwerb daraufhin mit Bescheid vom ... zunächst von der Grunderwerbsteuer frei. Nach Ablauf der Fünfjahresfrist forderte das FA den Kl ... auf, die Erfüllung des steuerbegünstigten Zwecks nachzuweisen. Der Kl. erklärte mit Schreiben vom ... er habe das fragliche Einfamilienhaus vom 1. Juni 1986 bis Ende Juli 1987 ununterbrochen selbst bewohnt. Das FA stellte demgegenüber fest, daß der Kl. nur vom 29. September 1986 bis zum 11. Juli 1967 unter der Anschrift ... gemeldet war und setzte daraufhin durch Bescheid vom ... gegen den Kl. Grunderwerbsteuer von 16.100 DM sowie 4.749,50 DM Zinsen fest. Auf den hiergegen erhobenen Einspruch forderte das FA den Kl. auf, die behauptete Eigennutzung während des erklärten Zeitraums nachzuweisen. Mit Schreiben vom ... nahm der Kl. daraufhin seinen Einspruch unter Hinweis auf Nachweisschwierigkeiten zurück.

3

In den Jahren 1989 bis 1990 führte das Finanzamt für Fahndung und Strafsachen O. ein steuerstrafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Kl. durch und stellte in seinem Bericht vom ... fest, daß der Kl das fragliche Einfamilienhaus in der Zeit vom 15. Dezember 1982 bis 31. August 1987 zusammen mit seiner späteren Ehefrau selbst genutzt hatte. Für diese Zeit ermittelte das Wohnsitzfinanzamt des Kl. dessen Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung aus diesem Einfamilienhaus gemäß § 21 a EStG undänderte die Einkommensteuerbescheide ... entsprechend.

4

Mit Schriftsatz vom ... beantragte der Kl. die Aufhebung des Grunderwerbsteuerbescheids vom ... wegen widerstreitender Steuerfestsetzung. Das FA lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom ... ab. Den hiergegen erhobenen Einspruch wies das FA mit Bescheid vom ... als unbegründet zurück und führte zur Begründung im wesentlichen aus: Im Verhältnis zwischen Einkommensteuer und Grunderwerbsteuer bestehe kein nach § 174 Abs. 1 AO vorausgesetztes Verhältnis rechtlicher Unvereinbarkeit. Die grunderwerbsteuerliche Beurteilung eines Erwerbsvorgangs sei somit völlig unabhängig von der einkommensteuerlichen Behandlung. Für die Nacherhebung der Grunderwerbsteuer sei allein ausschlaggebend gewesen, daß der Kl. die Erfüllung des steuerbegünstigten Zwecks nicht nachgewiesen habe.

5

Hiergegen richtet sich die Klage, zu deren Begründung der Kl vorträgt: Entgegen der Auffassung des FA sei auch im Verhältnis zwischen Grunderwerbsteuer und Einkommensteuer eine widerstreitende Steuerfestsetzung i.S.d. § 174 Abs. 1 AO möglich, sofern - wie im Streitfall - derselbe Sachverhalt den Steuerfestsetzungen zugrunde liege. Die seinerzeit erfolgte Rücknahme des Einspruchs gegen den Grunderwerbsteuerbescheid vom ... sei nur deshalb erfolgt, um nicht den Sachverhalt bekannt werden zu lassen, der dann Gegenstand des Steuerstrafverfahrens geworden sei.

6

Der Kl. beantragt sinngemäß,

das FA unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom ... und des Einspruchsbescheids vom ... zu verpflichten, den Grunderwerbsteuerbescheid vom ... aufzuheben.

7

Das FA beantragt,

die Klage abzuweisen.

8

Es bleibt bei seiner Auffassung, daß die Anwendungsvoraussetzungen des § 174 Abs. 1 AO nicht vorliegen.

9

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im einzelnen wird auf die Grunderwerbsteuerakte des FA ... und die zur Gerichtsakte gereichten Schriftsätze Bezug genommen.

10

Die Beteiligten haben übereinstimmend auf mündliche Verhandlung vor dem Senat verzichtet.

Entscheidungsgründe

11

Die Klage ist begründet.

12

Der Kl. hat einen Anspruch auf Aufhebung des Grunderwerbsteuerbescheids vom ....

13

Ist ein bestimmter Sachverhalt in mehreren Steuerbescheiden zu Ungunsten eines Steuerpflichtigen berücksichtigt worden, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen, so ist der fehlerhafte Steuerbescheid gemäß § 174 Abs. 1 AO auf Antrag aufzuheben. Diese Aufhebungsvoraussetzungen sind im Streitfall erfüllt.

14

Das Merkmal des "bestimmten Sachverhalts" i.S.d. § 174 Abs. 1 Satz 1 AO betrifft jeden einzelnen Lebensvorgang, an das Gesetz steuerliche Folgen knüpft (BFH-Beschluß vom 6. Dezember 1979 IV B 56/79, BStBl II 1980 S. 314; BFH-Urteil vom 6. März 1990 VIII R 28/84, BStBl II 1990 S. 558; BFH-Urteil vom 26. Januar 1994 X R 57/89, BStBl II 1994 S. 597 m.w.N.). Ein derartiger Lebensvorgang ist vorliegend die Tatsache, daß der Kl. das fragliche Einfamilienhaus in der Zeit vom 15. Dezember 1982 bis 31. August 1987 selbst genutzt hat. Diese Tatsache hat das FA für Fahndung und Strafsachen O. in seinem Steuerbericht vom ... festgestellt; sie ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig. Es ist im übrigen auch nichts dafür erkennbar oder vorgetragen, daß anderweitige Befreiungsvoraussetzungen nach dem GrEStEigWoG vorliegend nicht erfüllt wären. Die Tatsache der Selbstnutzung des Einfamilienhauses in dem vorgenannten Zeitraum ist auch i.S.d. § 174 Abs. 1 AO in mehreren Bescheiden zu Ungunsten des Kl. "berücksichtigt", d.h. als Entscheidungsgrundlage herangezogen und verwertet (dazu BFH-Urteil vom 6. März 1990, a.a.O.) worden: In den an den Kl. ergangenen Einkommensteuerbescheiden ... ist eine Selbstnutzung des Gebäudes durch den Kl. angenommen worden und daher die Ermittlung der Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung gemäß § 21 a EStG erfolgt. In dem fraglichen Grunderwerbsteuerbescheid vom ... hat das FA hingegen angenommen, daß der Kl. das fragliche Einfamilienhaus nicht selbst mindestens ein Jahr lang ununterbrochen bewohnt habe und daher die Befreiung von der Grunderwerbsteuer nach dem GrEStG nicht zu gewähren sei.

15

Die Selbstnutzung des fraglichen Einfamilienhauses durch den Kl. in dem hier unstreitig gegebenen Zeitraum hätte i.S.d. § 174 Abs. 1 Satz 1 AO nur einmal zu seinen Ungunsten berücksichtigt werden dürfen. Das in dieser Vorschrift normierte Merkmal "obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen" ist nur gegeben, wenn die "mehreren" Berücksichtigungen des streitigen Sachverhalts zueinander in einem wechselseitigen Ausschließlichkeitsverhältnis stehen, das eine Berücksichtigung - also jeweils die weitere Berücksichtigung desselben Sachverhalts bei einem anderen Steuerpflichtigen, bei einer anderen Steuerart oder in einem anderen Veranlagungszeitraum - denkgesetzlich ausschließt (BFH-Urteil vom 11. Juli 1991 IV R 52/90, BStBl II 1992 S. 126; BFH-Urteil vom 26. Januar 1994, a.a.O.; Tipke/Kruse, Kommentar zur AO und FGO,§ 174 AO Rz. 4 a). Zwar trifft es zu - wie das FA annimmt -, daß die grunderwerbsteuerrechtliche Beurteilung eines Erwerbsvorgangs von der einkommensteuerlichen Behandlung grundsätzlich unabhängig ist (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 4. September 1974 II R 112/69, BStBl II 1975 S. 89; Boruttau/Egly/Sigloch, Kommentar zum GrEStG, 13, Aufl. 1992, Vorb. 831 m.w.N.). Bezugspunkt des von § 174 Abs. 1 S. 1 AO vorausgesetzten wechselseitigen Ausschließlichkeitsverhältnisses nach materiellem Recht ist jedoch - entgegen der Auffassung des FA - nicht das auf die Steuerarten bezogene abstrakte Verhältnis zwischen der Grunderwerb- und der Einkommensteuer, sondern das materiell-rechtliche Ausschließlichkeitsverhältnis in bezug auf einen "bestimmten Sachverhalt" i.S.d. § 174 Abs. 1 AO, Unter diesem Blickwinkel ist vorliegend eine die Anwendung des § 174 Abs. 1 AO rechtfertigende widerstreitende Rechtsfolge zu bejahen, weil angesichts der unstreitigen Selbstnutzung des fraglichen Familienhauses durch den Kl. in der Zeit vom 15. Dezember 1992 bis 31. August 1987 derselbe Sachverhalt mehrfach zu Ungunsten des Kl. berücksichtigt worden ist.

16

Der Anwendung des § 174 Abs. 1 AO steht schließlich auch nicht entgegen, daß der Kl. seinen Einspruch gegen den Grunderwerbsteuerbescheid vom ... mit Schreiben vom ... zurückgenommen hatte und seinen Nachweispflichten bezüglich der behaupteten Eigennutzung nicht in vollem Umfang nachgekommen war. Ob der Kl. bezüglich der Befreiungsvoraussetzungen nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 GrEStEigWoG seine Anzeigepflichten aus§ 2 GrEStEigWoG verletzt hat, kann offen bleiben, weil die Verletzung der Anzeigepflicht für sich allein jedenfalls nicht zur Steuerpflicht führt (BFH-Urteil vom 26. April 1976 II R 68/71, BStBl II 1978 S. 438 Boruttau/Egly/Sigloch, Kommentar zum GrEStG, 11. Aufl. 1982, Anhang Rz. 1976). Im übrigen ist auch das Vorliegen einer Verletzung der Anzeigepflicht zweifelhaft. Denn die vom Kl. in seiner Erklärung vom ... gemachten Angaben zum zeitlichen Umfang der Selbstnutzung waren, wie sich aus dem zwischen den Beteiligten nunmehr aufgrund des vom FA für Fahndung und Strafsachen O. festgestellten Sachverhalts unstreitig ist, letztlich zutreffend. Im übrigen hatte der Kl. die Rücknahme seines Einspruchs gegen den Grunderwerbsteuerbescheid vom ... seinerzeit lediglich mit Nachweisschwierigkeiten bezüglich der Selbstnutzung des fraglichen Einfamilienhauses begründet. Er hat hierzu im Klageverfahren ergänzend ausgeführt, daß die Rücknahme des Einspruchs letztlich allein deshalb erfolgt sei, um nicht den später im Rahmen des Steuerstrafverfahrens aufgedeckten Sachverhalt bekannt werden zu lassen.

17

Da die Aufhebungsvoraussetzungen des § 174 Abs. 1 AO im übrigen gegeben sind, war der Klage nach alledem stattzugeben.

18

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 151 Abs. 1 und 3 FGO in Verbindung mit den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Die Entscheidung über die Zuziehung eines Bevollmächtigten beruht auf§ 139 Abs. 3 Satz 3 FGO.

19

Die Revision ist nicht zugelassen worden.