Sozialgericht Stade
Urt. v. 22.03.2005, Az.: S 4 RA 139/03
Gewährung von Übergangsgeld unter Zugrundelegung eines beendeten Beschäftigungsverhältnisses; Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben durch Gewährung einer Umschulung zum Industriekaufmann; Arbeitslosmeldung nach Ende eines Krankengeldbezuges
Bibliographie
- Gericht
- SG Stade
- Datum
- 22.03.2005
- Aktenzeichen
- S 4 RA 139/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 36616
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGSTADE:2005:0322.S4RA139.03.0A
Rechtsgrundlagen
- § 119 SGB III
- § 46 SGB IX
- § 47 Abs. 1 S. 1 SGB IX
- § 49 SGB IX
Tenor:
Der Bescheid der Beklagten vom 14. Januar 2003 und der Widerspruchsbescheid vom 04. Juli 2003 werden abgeändert. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab 04. November 2002Übergangsgeld zu gewähren unter Zugrundelegung des am 31. Januar 2001 beendeten Beschäftigungsverhältnisses bei der Firma H. GmbH als letztem vor Beginn der Leistung abgerechneten Entgeltabrechnungszeitraum.
Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung höherenÜbergangsgeldes.
Der 1965 geborene Kläger ist gelernter Tischler und war von 1982 bis Juni 1999 in seinem Beruf tätig. Von August 1999 bis Januar 2001 war er beschäftigt bei der I. H. GmbH Bau- und Möbeltischlerei. Laut Arbeitsvertrag erfolgte die Einstellung als Außendienstmitarbeiter. Im Arbeitsvertrag war zugleich geregelt, dass dem Kläger im Bedarfsfalle jederzeit Arbeiten übertragen werden könnten, die seiner Vorbildung und seinen Fähigkeiten entsprechen würden. Tatsächlich musste der Kläger während des gesamten Arbeitsverhältnisses etwa 50% der Arbeitszeit als Tischlergeselle für seinen Arbeitgeber arbeiten. Vom 08. Januar bis 06. Juni 2001 war der Kläger arbeitsunfähig erkrankt und bezog Krankengeld. Nach kurzzeitiger Arbeitslosmeldung und Arbeitslosengeldbezug war der Kläger ab 01. Juli 2001 bei der Firma J. Montagetechnik als Verkäufer im Außendienst beschäftigt. Nach wenigen Arbeitstagen kam es am 13. Juli 2001 zu einer erneuten Arbeitsunfähigkeit. Daraufhin kündigte der Arbeitgeber das Beschäftigungsverhältnis zum 31. Juli 2001. In der Folgezeit war der Kläger bis 19. November 2001 arbeitsunfähig erkrankt und bezog Krankengeld. Vom 20. November 2001 bis 03. November 2002 war er arbeitslos gemeldet und bezog Arbeitslosengeld. Ab 04. November 2002 erhält der Kläger von der Beklagten Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben durch Gewährung einer Umschulung zum Industriekaufmann.
Mit Bescheid vom 14. Januar 2003 bewilligte die Beklagte dem Kläger für die Zeit der Umschulung Übergangsgeld in Höhe von 33,09 EUR täglich. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 04. Juli 2003 zurück und führte aus, die Berechnung des Übergangsgeldes beruhe auf§§ 46, 47 Sozialgesetzbuch (SGB) IX. Zugrunde gelegt werde das vom Leistungsempfänger im letzten vor Beginn der Leistung oder einer vorangegangenen Arbeitsunfähigkeit abgerechneten Entgeltabrechnungszeitraum erzielte Arbeitsentgelt. Letzter Entgeltabrechnungszeitraum sei Juli 2001. In dieser Zeit habe der Kläger ein Nettoarbeitsentgelt von 1.296,45 EUR erhalten. Da Provisionszahlungen im Juli 2001 nicht zum Tragen gekommen seien, sei von dem genannten Nettoarbeitsentgelt als Berechnungsgrundlage auszugehen.
Hiergegen hat der Kläger am 21. Juli 2003 Klage erhoben und trägt vor, bei dem im Juli 2001 erzielten Arbeitseinkommen handele es sich nicht um ein regelmäßiges Arbeitseinkommen im Sinne von §§ 46, 47 SGB IX. Zudem habe es sich lediglich um ein Probearbeitsverhältnis gehandelt. Wenn die Beklagte dennoch das Arbeitseinkommen aus dem Juli 2001 zugrunde legen wolle, müsste sie zumindest hypothetische Provisionszahlungen einberechnen, die der Kläger in einem weiteren dauerhaften Verlauf des Beschäftigungsverhältnisses mit Sicherheit erzielt hätte.
Der Kläger beantragt,
- 1.
den Bescheid der Beklagten vom 14. Januar 2003 und den Widerspruchsbescheid vom 04. Juli 2003 abzuändern,
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 04. November 2002 Übergangsgeld zu gewähren unter Zugrundelegung des am 31. Januar 2001 beendeten Beschäftigungsverhältnisses bei der Firma H. GmbH als letztem vor Beginn der Leistung abgerechneten Entgeltabrechnungszeitraum.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig. Sie vertritt die Auffassung, eine durchgehende Arbeitsunfähigkeit des Klägers von Januar 2001 bis November 2002 wäre nur dann relevant, wenn der Kläger durchgehend Krankengeld bezogen hätte. Dies folge aus § 49 SGB IX, der die Kontinuität der Bemessungsgrundlage regele und den durchgehenden Bezug bestimmter aufgezählter Leistungen, z.B. Krankengeld, voraussetze. Unerheblich sei hingegen, wenn der Versicherte durchgängig arbeitsunfähig gewesen sei, ohne Krankengeld zu beziehen.
Das Gericht hat zur weiteren Sachverhaltsaufklärung Auskünfte der Firmen H. GmbH und J. GmbH sowie der Agentur für Arbeit K. eingeholt. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und begründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf Gewährung von Übergangsgeld unter Zugrundelegung seines erzielten Arbeitsentgeltes während der Beschäftigung bei der Firma H. GmbH bis Januar 2001.
Die Rechtswidrigkeit der Entscheidung der Beklagten und der weitergehende Anspruch des Klägers folgt nicht aus § 49 SGB IX. Die in dieser Vorschrift geregelte Kontinuität der Bemessungsgrundlage kommt nicht zum Tragen, da der Kläger bis zum Beginn der Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nicht durchgehend Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übergangsgeld bezogen hat. Da der Klägerüber weite Strecken des Zeitraumes zwischen Januar 2001 und November 2002 Arbeitslosengeld bezogen hat, findet § 49 SGB IX insoweit keine Anwendung.
Auch die Argumentation des Klägers führt nicht zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung bzw. zur Begründung eines weitergehenden Anspruchs des Klägers. Bei dem Beschäftigungsverhältnis ab 01. Juli 2001 mit der Firma J. GmbH handelte es sich um ein normales unbefristetes Beschäftigungsverhältnis, nicht hingegen um ein Probearbeitsverhältnis. Es erfolgte lediglich innerhalb der Probezeit die arbeitgeberseitige Kündigung. Auch stellt das vom Kläger im Juli 2001 von der Firma J. GmbH bezogene Arbeitseinkommen durchaus ein regelmäßiges Arbeitseinkommen im Sinne von §§ 46, 47 SGB IX dar. Grundsätzlich ist auch ein derart kurzes Beschäftigungsverhältnis geeignet, als Grundlage für die Berechnung der Höhe des Übergangsgeldes nach § 47 SGB IX zu dienen (vgl Neumann/Pahlen/Majerski-Pahlen, SGB IX, 10. Aufl,§ 47 Rn 8).
Jedoch steht dem Kläger unter Anwendung von § 47 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ein Anspruch auf höheres Übergangsgeld unter Zugrundelegung des letzten Entgeltabrechnungszeitraums innerhalb des Beschäftigungsverhältnisses bei der H. GmbH (bis Januar 2001) zu.
Nach § 47 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wird zur Berechnung des Regelentgelts das von den Leistungsempfängern im letzten vor Beginn der Leistung oder einer vorangegangenen Arbeitsunfähigkeit abgerechneten Entgeltabrechnungszeitraum, mindestens das während der letzten abgerechneten vier Wochen (Bemessungszeitraum) erzielte und um einmalig gezahltes Arbeitsentgelt verminderte Arbeitsentgelt durch die Zahl der Stunden geteilt, für die es gezahlt wurde.
Richtigerweise ist im Falle des Klägers der letzte Abrechnungszeitraum des Beschäftigungsverhältnisses bei der H. GmbH bis Januar 2001 als Bemessungsgrundlage zugrunde zu legen. Denn zwischen dem Ende des Beschäftigungsverhältnisses bei der H. GmbH und dem Beginn der Leistung am 04. November 2002 war der Kläger zur Überzeugung der Kammer durchgehend arbeitsunfähig im Sinne des § 47 SGB IX. Hinsichtlich des Rechtsbegriffs der Arbeitsunfähigkeit ist grundsätzlich auf die letzte Tätigkeit abzustellen. Im Falle des Klägers ist die Tätigkeit als Tischlergeselle bzw. Tischler mit Verkaufstätigkeit zugrunde zu legen, die er bis Januar 2001 ausgeübt hat. Dagegen kann der Kläger im Hinblick auf die Frage der Arbeitsunfähigkeit nicht als kaufmännischer Angestellter bzw. Außendienstmitarbeiter im engeren Sinne angesehen werden. Der Kläger war als gelernter Tischler von 1982 bis 1999 ausschließlich als Tischler beschäftigt. Von August 1999 bis Januar 2001 war er als Außendienstmitarbeiter und Berater im Bereich Tischlerei angestellt, musste jedoch entsprechend der Regelungen im Arbeitsvertrag bis zu 50% der Arbeitszeit als Tischlergeselle arbeiten. Zu bedenken ist weiterhin, dass die Außendienst- bzw. Verkaufstätigkeit, die der Kläger in dieser Zeit für die H. GmbH ausübte, eine Tätigkeit war, die er nur auszuüben imstande war, weil er auf seine Erfahrungen und Kenntnisse als Tischler zurückgreifen konnte. Es handelte sich um eine sehr spezifische, auf den Kenntnissen des Klägers als gelernter Tischler beruhende Tätigkeit. Der Kläger verfügte zu diesem Zeitpunkt über keine kaufmännische Ausbildung und Weiterbildung und wurde von seinem Arbeitgeber sicher vor allem aufgrund seiner Kenntnisse und Erfahrungen als Tischler eingestellt. Während des gesamten Verfahrens hat der Kläger immer wieder dargelegt, dass er mangels Ausbildung im kaufmännischen Bereich große Schwierigkeiten bei der Ausübung des kaufmännischen Teils seiner Tätigkeit hatte. Letztlich bestätigt auch die Tatsache, dass die Beklagte dem Kläger eine Umschulung zum Industriekaufmann bewilligt hat, diesen Sachverhalt.
Gegen die Annahme, den Kläger als kaufmännischen bzw. Außendienstmitarbeiter im engeren Sinne anzusehen, wodurch ggf. die Arbeitsunfähigkeit während des Zeitraums 08. Januar 2001 bis 3. November 2002 zeitweise entfallen sein könnte, spricht zudem, dass auch die Beklagte bis zur Bewilligung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben davon ausgegangen ist, dass der Kläger als Tischler bzw. Tischler mit Verkaufstätigkeit betrachtet werden müsse. Nur unter diesem Hintergrund erscheint die Entscheidung der Beklagten, dem Kläger Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben zu bewilligen, plausibel. Insoweit hat die Vertreterin der Beklagten im Termin am 22. März 2005 diese Entscheidungsgrundlage auch bestätigt. Auch aus der Stellungnahme desÄrztlichen Dienstes der Beklagten vom August 2001 (Bl. 67 der Leistungsakte) geht hervor, dass der Kläger als Tischler angesehen wurde und nicht etwa als Außendienstmitarbeiter. Demzufolge muss aber auch die Frage, ob der Kläger im genannten Zeitraum durchgehend arbeitsunfähig gewesen ist, unter der Maßgabe betrachtet und entschieden werden, dass der Beruf des Tischlers bzw. Tischler mit Verkaufstätigkeit zugrunde zu legen ist. Nach Würdigung der vorliegenden medizinischen Unterlagen steht fest, dass der Kläger im genannten Zeitraum nicht mehr als Tischler bzw. Tischler mit Verkaufstätigkeit arbeiten konnte. Dies wird u.a. bestätigt durch das MDK-Gutachten vom 15. Juni 2001, den Bericht des Diakoniekrankenhauses L. vom 10. September 2001, durch das Gutachten von Dr. Lamann vom 12. Dezember 2001 und durch die zitierte Stellungnahme desÄrztlichen Dienstes der Beklagten vom August 2001.
Die Tatsache, dass der Kläger innerhalb des Zeitraumes 08. Januar 2001 bis 03. November 2002 am 1. Juli 2001 ein Beschäftigungsverhältnis aufgenommen hat als Verkäufer im Außendienst bei der J. GmbH, steht diesem Ergebnis nicht entgegen. Denn wenn sogenannte Zwischenbeschäftigungen im Sinne von Arbeitsversuchen bei fortbestehender Arbeitsunfähigkeit ausgeübt worden sind, orientiert sich der Bemessungszeitraum am Zeitpunkt der erstmaligen Feststellung der Arbeitsunfähigkeit (GK-SGB IX/Löschau § 47 Rn 29). Bei dem am 1. Juli 2001 aufgenommenen, nur wenige Tage dauernden, Beschäftigungsverhältnis handelt es sich um einen Arbeitsversuch des Klägers in diesem Sinne, der nicht erfolgreich verlaufen ist. Bereits nach wenigen Arbeitstagen wurde die Arbeitsunfähigkeit des Klägers am 13. Juli 2001 wiederum bestätigt. Dieser Verlauf des Arbeitsversuches zeigt, dass auch zu diesem Zeitpunkt weiterhin Arbeitsunfähigkeit für die Tätigkeiten als Tischler bzw. Tischler mit Verkaufstätigkeit vorgelegen hat. Die Beklagte hätte demzufolge das im Juli 2001 erzielte Arbeitsentgelt nur als Bemessungsgrundlage heranziehen dürfen, wenn der Kläger im Juli 2001 nicht arbeitsunfähig, sondern arbeitsfähig gewesen wäre (vgl BSG, Urteil vom 15. März 1988, Az.: 4/11a RA 18/87, zur früheren Gesetzeslage im Hinblick auf§ 18 Abs. 1 AVG i.V.m. § 182 Abs. 5 RVO). Diese Voraussetzung lag hier jedoch wie dargelegt nicht vor.
Entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten führt auch die Tatsache, dass der Kläger nicht während des gesamten Zeitraumes der Arbeitsunfähigkeit zugleich Krankengeld bezogen hat, zu keinem anderen Ergebnis. Insoweit ist schon nicht nachvollziehbar, woher die Beklagte die Erkenntnis nimmt, dass Arbeitsunfähigkeit im Sinne von § 47 SGB IX grundsätzlich nur gegeben sein kann, wenn Krankengeldbezug vorliegt. Weder in der schriftlichen Stellungnahme noch im Termin war die Beklagte in der Lage, eine Rechtsgrundlage für diese Rechtsauffassung zu benennen. Die Stellungnahme der Beklagten vom 09. Dezember 2004 ist in diesem Zusammenhang wenig nachvollziehbar und lässt darauf schließen, dass eine klare Differenzierung zwischen den Anwendungsbereichen und Voraussetzungen von § 47 SGB IX und § 49 SGB IX nicht erfolgt ist. Tatsächlich schließt der fehlende Bezug von Krankengeld die Anwendung von § 49 SGB IX aus, nicht jedoch die Anwendung von § 47 SGB IX, der ausdrücklich zur Bestimmung des Bemessungszeitraums das Kriterium der "vorangegangenen Arbeitsunfähigkeit" benennt, nicht dagegen das des vorangegangenen Krankengeldbezuges.
Dagegen entspricht es dem üblichen Ablauf, dass ein Versicherter, der hinsichtlich seiner letzten Tätigkeit arbeitsunfähig ist, sich nach dem Ende des Krankengeldbezuges arbeitslos meldet und sich im Rahmen seiner Möglichkeiten dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellt, um Leistungen von der Bundesagentur für Arbeit zu erhalten. Insoweit ist zu beachten, dass sich die Verfügbarkeit im Sinne von § 119 SGB III auf andere als die bisherige Tätigkeit erstrecken kann (vgl BSG a.a.O.). Demzufolge konnte auch der Kläger sich trotz Arbeitsunfähigkeit für seine letzte Tätigkeit dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen und Arbeitslosengeld beziehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG).