Sozialgericht Stade
Urt. v. 19.10.2004, Az.: S 11 U 260/02

Voraussetzungen der Anerkennung einer Netzhautablösung als Folge eines Arbeitsunfalles

Bibliographie

Gericht
SG Stade
Datum
19.10.2004
Aktenzeichen
S 11 U 260/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 37647
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGSTADE:2004:1019.S11U260.02.0A

Tenor:

Der Bescheid der Beklagten vom 20. Februar 2002 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 2002 wird aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, die Netzhautablösung als Folge des Unfalls vom 30. Juni 1998 anzuerkennen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand

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Die Klägerin begehrt die Feststellung, dass es sich bei der seit dem 03. Juli 1998 ärztlich behandelten Netzhautablösung um eine Folge des Unfalls vom 30. Juni 1998 handelt.

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Die am 26. September 1935 geborene Klägerin ist in dem landwirtschaftlichen Betrieb ihres Sohnes tätig. Ihren Angaben zufolge stieß sie am Morgen des 30. Juni 1998 beim Füttern der Schweine mit der linken Kopfseite an den über dem Futtertrog befindlichen Balken. Als unmittelbare Folge dieser Verletzung beklagte die Klägerin Benommenheit, Kopfschmerzen und ein Flimmern vor den Augen. Nachdem sie, bis zu diesem Zeitpunkt augenärztlich ohne Befund, am 02. Juli 1998 eine deutlich reduzierte Sehschärfe des linken Auges bemerkt hatte, begab sie sich zu dem Augenarzt Dr. med. H ... Dieser diagnostizierte im Rahmen der Erstbehandlung am 03. Juli 1998 in Unkenntnis des Unfalles "Astigmatismus, Presbyopie, Hyperopie, Ausschluß Sehschwäche, Strabismus, Ausschluß Glaukom, Ausschluß Medientrübungen, Conjunktivitis sicca, LA GK-Blutung, RA be-ginnende senile Maculadystrophie". Am 04. Juli 1998 war die Klägerin bei der Notdienst habenden Augenärztin I. in Behandlung. Diese stellte ebenfalls eine Glaskörper-Blutung im linken Auge fest und überwies die Klägerin zur Ultraschalluntersuchung zu Dr. med. J ... Bei der von diesem am 17. Juli 1998 durchgeführten Ultraschalluntersuchung des linken Auges war Blut im Glaskörperraum sichtbar und eine Netzhautablösung von oben darstellbar. Dr. med. J. diagnostizierte eine rhegmatogene Amotio retinae (= rissbedingte Netzhautablösung) und überwies die Klägerin sofort in das Krankenhaus K ... Der operative Eingriff durch den Chefarzt der Augenklinik Prof. Dr. med. L. (Cerclage, ppV, Ölauffüllung, Kryokoagulation) erfolgte noch am 17. Juli 1998. Am 24. Juli 1998 wurde die Klägerin aus der stationären Behandlung entlassen. Im Befundbericht vom 26. November 1998 teilte Prof. Dr. med. L. mit, ein ursächlicher Zusammenhang des geschilderten Ereignisses mit der Erkrankung sei nicht sicher auszuschließen. Die Klägerin befand sich nachfolgend mehrfach wegen wiederholter Netzhautablösung in stationärer Behandlung im Krankenhaus K ... In dem im Auftrag der Beklagten am 05. Juni 2001 erstellten augenärztlichen Gut-achten führte Dr. med. M. aus, die behandelnden Ärzte des K. gingen von einer mit hoher Wahrscheinlichkeit nach stumpfen Kopf-Bulbustrauma verursachten Netzhautablösung links aus. Mit dieser Einschätzung bestätigte er die Zwischenberichte vom 09. November 2000 und vom 23. März 2001. Demgegenüber führte der ebenfalls von der Beklagten befragte Augenarzt N. in seiner augenärztlichen Stellungnahme vom 13. Dezember 2001 aus, es bestehe eine theoretische Möglichkeit, dass bei der sogenannten rhegmatogenen Netzhautablösung eine Akzeleration (Beschleunigung) oder Dezeleration (Verlangsamung) des Glaskörpers eine kleine Netzhautruptur auslösen kann. Die höchstwahrscheinliche Schadensanlage könne jetzt nach durchgemachten Operationen nicht sicher beurteilt werden. Vermutlich habe die Klägerin eine häufig vorkommende periphere Degeneration der Netzhaut gehabt, die als Hintergrund für eine Netzhautablösung auch bekannt ist.

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Mit Bescheid vom 20. Februar 2002 lehnte die Beklagte daraufhin die Anerkennung der seit dem 03. Juli 1998 ärztlich behandelten Netzhautablösung als Folge des Arbeitsunfalles vom 30. Juni 1998 ab. Im Widerspruchsverfahren holte die Beklagte eine weitere Stellungnahme von Dr. med. J. ein. Dieser führte aus, da die Klägerin am kontralateralen Auge keinerlei pathologischen Veränderungen aufzuweisen hatte bzw. hat, sei die Veränderung am linken Auge mit Glaskörperblutung und Netzhautablösung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf den Unfall vom 30. Juni 1998 zurückzuführen. In einem weiteren von der Beklagten in Auftrag gegebenen Zusammenhangsgutachten vom 03. September 2002 führte Prof. Dr. med. O. aus, es sei von einem indirekten Trauma auszugehen. Diesbezüglich bestehe weitgehend Konsens, einen Kausalzusammenhang abzulehnen. Es bestehe unter den deutschen Klinikern nahezu einhellig die Auffassung, dass ein indirektes Trauma keine Netzhautablösung auslösen könne, es sei denn, es läge bereits eine so hochgradige Disposition vor, dass diese, aber nicht das Trauma die rechtlich wesentliche Ursache sei. Daraufhin wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin mit Widerspruchsbescheid vom 19. November 2002 zurück.

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Die Klägerin hat am 23 Dezember 2002 Klage erhoben. Zur Begründung beruft sie sich auf die Einschätzungen der Dres. med. J. und M ...

5

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 20. Februar 2002 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19. November 2002 aufzuheben und der Beklagten aufzugeben, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts den Antrag der Klägerin neu zu bescheiden.

6

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

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Die Beklagte verteidigt die angegriffenen Bescheide mit den Gründen des Widerspruchsbescheides.

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Das Gericht hat auf Antrag der Klägerin gemäß § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Begutachtung durch Dr. med. M. angeordnet. In seinem augenärztlichen Gut-achten vom 28. Januar 2004 räumt dieser ein, bei sog. indirekten Bulbustraumen, bei denen es nicht zu einer direkten Deformierung des Augapfels komme, werde heute in der Regel ein Zusammenhang abgelehnt, wenn es erst später zum Auftreten einer Netzhautablösung kommt. In dem speziellen Fall der Klägerin bestehe allerdings ein dermaßen enger zeitlicher Zusammenhang, dass nach Ansicht der Gutachter auch von einem ursächlichen Zusammenhang ausgegangen werden müsse. Ferner weist Dr. med. M. darauf hin, dass sich am anderen Auge kein Anhalt finde für periphere Degeneration oder dünne Stellen in der Netzhaut, die bei rhegmatogenen Netzhautablösungen, die infolge der physiologischen Glaskörperschrumpfung auftreten, in aller Regel zu finden sind.

9

Der Kammer hat außer der Prozessakte die Verwaltungsakte der Beklagten vorgelegen. Die Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrags der Beteiligten wird auf den Inhalt der Prozess- und Beiakten ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig und begründet.

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Das Gericht geht bei verständiger Würdigung des Begehrens der Klägerin davon aus, dass diese die Verpflichtung der Beklagten erstrebt, die Netzhautablösung als Folge des Arbeitsunfalles vom 30. Juni 1998 anzuerkennen. Das Gericht ist an die Fassung der Anträge nicht gebunden (§ 123 SGG). Eine Verurteilung der Beklagten, der Klägerin Leistungen in gesetzlichem Umfang zu gewähren, kommt demgegenüber nicht in Betracht, da das Gericht der Klägerin in diesem Falle mehr zugesprochen hätte, als beantragt worden ist.

12

Bei der seit dem 03. Juli 1998 ärztlich behandelten Netzhautablösung handelt es sich um eine Folge des Arbeitsunfalls vom 30. Juni 1998. Gemäß § 8 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Siebentes Buch (SGB VII) sind Arbeitsunfälle Unfälle von Versicherten infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeiten (versicherten Tätigkeiten). Gemäß § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII sind Unfälle zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Voraussetzung für die Anerkennung eines Gesundheitsschadens als Unfallfolge ist ein doppelter Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und der zum Unfall führenden Verrichtung (sog. haftungsbegründende Kausalität) und zwischen dem Unfallereignis und dem Gesundheitsschaden (sog. haftungsausfüllende Kausalität). Dabei reicht sowohl für die Bejahung der haftungsbegründenden als auch der haftungsausfüllenden Kausalität die hinreichende Wahrscheinlichkeit aus. Hierunter ist eine Wahrscheinlichkeit zu verstehen, nach der bei vernünftiger Abwägung aller Umstände den für den Zusammenhang sprechenden Umständen ein deutliches Übergewicht zukommt, so dass darauf die richterliche Überzeugung gegründet werden kann. Die bloße Möglichkeit der Verursachung genügt nicht. Nach der aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung des Gerichts überwiegen vorliegend die für den Zusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall vom 30. Juni 1998 und der Netzhautablösung sprechenden Umstände. Die Klägerin, im Zeitpunkt des Arbeitsunfalles fast 63-jährig, hatte sich vor dem Unfallereignis nicht in augenärztlicher Behandlung befunden. Anhaltspunkte für eine bereits vorhandene, aber bisher ruhende Krankheitsanlage liegen nicht vor. Vielmehr spricht die Feststellung des Sachverständigen Dr. med. M., am rechten Auge finde sich kein Anhalt für periphere Degeration oder dünne Stellen in der Netzhaut, die bei rhegmatogenen Netzhautablösungen, die infolge der physiologischen Glaskörperschrumpfung auftreten, in der Regel zu finden sind, gegen die Vermutung des Augenarztes N., es habe bereits eine Krankheitsanlage bestanden. Für den inneren Zusammenhang spricht darüber hinaus die vom Sachverständigen Dr. med. M. nochmals aufgezeigte enge zeitliche Verbindung der Netzhautablösung mit dem Arbeitsunfall. Das Gericht hat bei der Würdigung der im Verwaltungsverfahren eingeholten medizinischen Stellungnahme und des Sachverständigengutachtens ferner berücksichtigt, dass die Drs. Med. J., L. und M., die übereinstimmend den inneren Zusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall vom 30. Juni 1998 und der Netzhautablösung bejahen, die Klägerin in zeitlicher Nähe zum Unfallereignis untersuchten, wohingegen die Untersuchungen durch die Augenärzte N. und Prof. Dr. med. O. erst drei bzw. vier Jahre nach dem Arbeitsunfall und nach mehreren zwischen-zeitlich durchgeführten Netzhautoperationen erfolgte. Der Augenarzt N. räumte in seiner Stellungnahme vom 13. Dezember 2001 selbst ein, dass aufgrund der mehrfachen Operationen eine Zusammenhangsbeurteilung nicht sicher erfolgen könne. Demgegenüber hielt das Gericht die Ausführungen des Prof. Dr. med. O. nicht für überzeugend. Soweit dieser behauptet, unter den deutschen Klinikern bestehe nahezu einhellig die Auffassung, dass ein indirektes Trauma keine Netzhautablösung auslösen kann, es sei denn, es läge bereits eine so hochgradige Disposition vor, dass diese, aber nicht das Trauma die rechtlich wesentliche Ursache ist, entspricht dieses im Grundsatz der herrschenden medizinische Lehrmeinung. Danach können "indirektes Trauma und Erschütterung ( ...) ausschließlich als Ursache einer Netzhautablösung betrachtet werden, wenn Knochenbrüche im Schädel und eindeutige Gehirnerschütterungen vorliegen. Traumatische Optikusschädigungen oder Korpuseinblutungen treten auf "(Schönber-ger/Mehrtens/Valentin: Arbeitsunfall und Berufskrankheit Kapitel 6.2.7.3.). Zwar wurde vorliegend eine Gehirnerschütterung nicht diagnostiziert. Aufgrund der glaubhaften Schilderung des Unfallereignisses durch die Klägerin in der mündlichen Verhandlung, der zufolge sie mit der linken Stirnhälfte heftig gegen den Balken gestoßen war, und der von ihr beschriebenen Symptome - Kopfschmerzen, Benommenheit, Flimmern vor den Augen - , bei welchen es sich um typische Folgen einer Gehirnerschütterung handelt, besteht jedoch eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Klägerin tatsächlich eine Gehirnerschütterung erlitten hatte, von welcher sie sich durch selbst verordnete Schonung erholte. Nach Auffassung des Gerichts wurde dem Aspekt des nicht nur möglichen, sondern in Anbetracht der Schilderung der Klägerin wahrscheinlichen Vorliegens einer Gehirnerschütterung durch Prof. Dr. med. O. nicht hinreichend Rechnung getragen. Das Gericht hält es daher nicht für sachgerecht, den Zusammenhang ohne umfassende Würdigung der für diesen sprechenden, eingangs dargelegten Umstände zu verneinen. Bei Würdigung der für den Zusammenhang sprechenden Umständen kommt diesen wie dargelegt ein deutliches Übergewicht zu.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.