Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 28.05.1997, Az.: 4 L 5905/96

Gewährung einer Eingliederungshilfe zur angemessenen Schulbildung in einer Einrichtung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
28.05.1997
Aktenzeichen
4 L 5905/96
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1997, 24855
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1997:0528.4L5905.96.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 13.09.1966 - AZ: 9 A 2325/95

Verfahrensgegenstand

Jugendhilfe (Kostenbeitrag)

Der 4. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts hat
am 28. Mai 1997
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberverwaltungsgericht Klay,
den Richter am Oberverwaltungsgericht Willikonsky und
den Richter am Verwaltungsgericht Müller sowie
die ehrenamtlichen Richterinnen Baumann und Bratsch
ohne mündliche Verhandlung
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 9. Kammer Hannover - vom 13. September 1996 wird zurückgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Der Beklagte trägt die außergerichtliche Kosten ds Berufungsverfahrens. Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Klägerin ist Dipl. -Verwaltungswirtin - FH - und beim Beklagten im gehobenen Dienst im Beamtenverhältnis beschäftigt. Sie lebt mit ihren Kindern Alexander, der im Jahre 1984 geboren und hörbehindert ist, und Sophie, geboren im Jahre 1985, in einem Eigenheim in der Stadt B. Ihre Ehe mit dem Vater der Kinder ist geschieden.

2

Vom 14. Juni bis zum 7. September 1993 unterzog sich die Klägerin einer ärztlich verordneten Kur. Der Beklagte gewährte ihr durch Bescheid vom 18. Juni 1993 Hilfe in einer Notsituation nach § 20 SGB VIII durch Übernahme der Kosten für die Betreuung der Kinder in einem Kinder- und Jugendheim in B. für die Zeit vom 11. Juni 1993 bis zum Ende der Kur. Von den Gesamtkosten von 34.328,80 DM erstattete die AOK Hannover, bei der die Klägerin krankenversichert ist, dem Beklagten 9.620,-- DM (Haushaltshilfe nach § 38 SGB-V und Pflegegeld für Alexander nach § 56 SGB V während der Verhinderung der Pflegeperson).

3

Mit Bescheid vom 9. September 1993 zog der Beklagte die Klägerin gemäß §§ 91 ff. SGB VIII zu einem Kostenbeitrag von 541,-- DM monatlich heran. Den insgesamt für die Dauer der Heimbetreuung der Kinder zu zahlenden Kostenbeitrag bezifferte er mit 1.551,-- DM. Diesen Betrag behielt er von den den Kindern gewährten Leistungen nach dem Unterhaltsvorschußgesetz für die Monate September bis November 1993 ein. Nach der dem Bescheid beigefügten Berechnung vom 14. Juni 1993 nahm der Beklagte an, daß das einzusetzende monatliche Gesamteinkommen der Klägerin und ihrer Kinder (Dienstbezüge, Kindergeld, Wohngeld und Unterhaltsvorschußleistungen) nach Berücksichtigung der Hortgebühren, die während der Kur weiter zu entrichten waren, als besondere Belastung die maßgebliche Einkommensgrenze des § 79 BSHG um 541,-- DM übersteige. Den hiergegen eingelegten Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 28. Februar 1995 zurück. Zur Begründung führte er nunmehr aus: Aus dem Einkommen der Klägerin (Dienstbezüge und Wohngeld) sei ein Kostenbeitrag nicht zu fordern, da es die Einkommensgrenze "zu weit" unterschreite. Nach § 93 Abs. 5 SGB VIII sei aber der Einsatz der Geldleistungen nach dem Unterhaltsvorschußgesetz (2 x 318,-- DM = 636,-- DM) und dem Bundeskindergeldgesetz (200,-- DM) zu verlangen, da sie dem gleichen Zweck wie die den Kindern in dem Heim gewährten Leistungen zum Lebensunterhalt gedient hätten. In Höhe der Hortgebühren von 295,-- DM monatlich werde nach § 93 Abs. 6 Satz 2 SGB VIII von der Heranziehung abgesehen, da sich insoweit aus ihr eine besondere Härte ergäbe. Im Ergebnis bleibe es also bei der "Kostenbeteiligung" in Höhe von 541,-- DM monatlich.

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Die Klägerin hat daraufhin Klage erhoben und geltend gemacht, die Heranziehung zu den Kosten der Jugendhilfe bedeute für sie als Alleinerziehende mit zwei Kindern, von denen eines schwerbehindert sei, unter Berücksichtigung ihrer hohen Belastungen, auch für das Eigenheim, eine besondere Härte.

5

Sie hat sinngemäß beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 9. September 1993 und seinen Widerspruchsbescheid vom 28. Februar 1995 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, die einbehaltenen Leistungen nach dem Unterhaltsvorschußgesetz in Höhe von 1.551,-- DM zuzüglich Zinsen zu erstatten.

6

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

7

Das Verwaltungsgericht hat durch Gerichtsbescheid vom 13. September 1996 die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Klage im übrigen abgewiesen. Es hat zur Begründung ausgeführt: Von der Klägerin könne ein Kostenbeitrag nicht verlangt werden, weil die Betreuung ihrer Kinder in dem Heim in B. während ihrer Kur nicht zu den Maßnahmen gehört habe, die in dem - abschließenden - Katalog des § 91 SGB VIII aufgeführt seien. Es habe sich nicht um die in § 91 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII genannte Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsituationen nach § 20 SGB VIII gehandelt, da in dessen Abs. 2 beim Ausfall des alleinerziehenden Elternteils ausdrücklich nur die Versorgung und Betreuung des Kindes im elterlichen Haushalt geregelt sei. Zwar schließe diese Soll-Vorschrift eine andere Form der Betreuung nicht aus. Treffe- der Jugendhilfeträger aber eine solche andere Regelung - wie hier die Heimunterbringung -, handele es sich nicht um eine Maßnahme nach § 20 SGB VIII, die allein die Kostenbeitragspflicht nach § 91 Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII auslöse.

8

Für die Klage auf Erstattung der einbehaltenen Leistungen nach dem Unterhaltsvorschußgesetz und auf Zahlung von Zinsen nach § 44 SGB I fehle es an einem Rechtsschutzbedürfnis, da anzunehmen sei, daß der Beklagte nach Rechtskraft dieser Entscheidung die Beträge auch ohne gerichtliche Entscheidung zahlen werde. Im übrigen sei die Klägerin nicht befugt, Leistungen nach dem Unterhaltsvorschußgesetz im eigenen Namen geltend zu machen. Anspruchsberechtigt und klagebefugt seien insoweit nur die Kinder.

9

Gegen diesen Gerichtsbescheid hat der Beklagte Berufung eingelegt. Er trägt vor: Die vorübergehende Unterbringung der Kinder der Klägerin in einem Heim während ihrer Kur in ihrem Einverständnis sei sehr wohl eine Maßnahme nach § 20 Abs. 2 SGB VIII gewesen, da die Versorgung der Kinder im elterlichen Haushalt in dieser Zeit durch eine Pflegeperson, die ständig hätte anwesend sein müssen, nicht möglich gewesen sei. Aber selbst wenn es sich nicht um eine Maßnahme nach § 20 Abs. 2, sondern um eine Heimunterbringung nach § 34 SGB VIII gehandelt hätte, wäre die Klägerin nach § 91 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. c SGB VIII zu den Kosten heranzuziehen. Kindergeld und Leistungen nach dem Unterhaltsvorschußgesetz dienten demselben Zweck wie die Leistungen der Jugendhilfe zum Lebensunterhalt der Kinder in dem Heim. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, nach der Kindergeld und Leistungen für den Lebensunterhalt in einer Einrichtung, die im Rahmen der Eingliederungshilfe zu einer angemessenen Schulbildung gewährt würden, keine zweckgleichen Leistungen im Sinne des § 43 Abs. 3 BSHG seien, sei auf § 93 Abs. 5 SGB VIII nicht zu übertragen. Anspruchsberechtigt hinsichtlich der Leistungen nach dem Unterhaltsvorschußgesetz seien zwar die Kinder, erhalten habe diese Leistungen aber die Klägerin, die deshalb auch insoweit zu den Kosten der Maßnahme heranzuziehen sei.

10

Der Beklagte beantragt,

den angefochtenen Gerichtsbescheid zu ändern und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.

11

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

12

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

13

Die Berufung, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 125 in Verbindung mit § 101 Abs. 2 VwGO), ist zulässig, aber nicht begründet.

14

Das Verwaltungsgericht hat der Anfechtungsklage im Ergebnis zu Recht stattgegeben.

15

Der Senat teilt allerdings nicht die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Betreuung der Kinder der Klägerin in dem Heim während ihrer Kur gehöre nicht zu den Maßnahmen, zu deren Kosten das Kind oder der Jugendliche und dessen Eltern nach § 91 Abs. 1 SGB VIII heranzuziehen seien. Um die Betreuung und Versorgung eines Kindes in einer Notsituation nach § 20 Abs. 2 SGB VIII handelt es sich auch (und erst recht) dann, wenn - wie es hier der Fall gewesen ist - beim (vorübergehenden) Ausfall des alleinerziehenden Elternteils die vorrangig anzustrebende Versorgung des Kindes im elterlichen Haushalt nicht möglich ist (weil eine geeignete Pflegeperson, die das Kind dort Tag und Nacht versorgt, nicht zu finden ist) und deshalb eine vorübergehende Heimunterbringung erforderlich ist. Jedenfalls handelt es sich dann - wie der Beklagte zu Recht hervorhebt - um eine Maßnahme nach § 34 SGB VIII, zu deren Kosten nach § 91 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. c SGB VIII heranzuziehen ist.

16

Die angefochtenen Bescheide sind aber rechtswidrig, weil die Voraussetzungen für die Heranziehung der Klägerin durch Erhebung eines Kostenbeitrages nach § 93 SGB VIII nicht erfüllt sind. Zu Recht nimmt der Beklagte selbst an, das nach § 93 Abs. 4 SGB VIII in Verbindung mit § 76 BSHG zu berücksichtigende Einkommen der Klägerin, bestehend aus den Dienstbezügen und dem Wohngeld, habe die nach § 93 Abs. 2 SGB VIII in Verbindung mit § 79 BSHG maßgebende Einkommensgrenze so weit unterschritten, daß auch ein Kostenbeitrag in Höhe der häuslichen Ersparnis nach § 93 Abs. 2 SGB VIII in Verbindung mit § 85 Nr. 3 Satz 1 BSHG a.F. (oder nach § 94 Abs. 2 SGB VIII, wenn es sich um eine Maßnahme nach § 34 SGB VIII gehandelt haben sollte) nicht zu verlangen sei. Zu Unrecht meint der Beklagte jedoch, die Klägerin habe nach § 93 Abs. 5 SGB VIII Mittel in Höhe (eines Teils) der Geldleistungen nach dem Bundeskindergeldgesetz und dem Unterhaltsvorschußgesetz einzusetzen, da diese dem gleichen Zweck gedient hätten wie die Leistung der Jugendhilfe zum Lebensunterhalt der Kinder während der Heimbetreuung. Diese Zweckgleichheit besteht zwischen dem Kindergeld und den Leistungen zum Lebensunterhalt in einer Einrichtung nicht. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in dem Urteil vom 29. September 1994 (5 C 56.92 - BVerwGE 96, 379 = FEVS 45, 452 = NDV 1995, 293) zu § 43 Abs. 3 BSHG für den Fall entschieden, daß Eingliederungshilfe zu einer angemessenen Schulbildung in einer Einrichtung gewährt wird. Diese Entscheidung, der der Senat folgt, ist auf § 93 Abs. 5 SGB VIII zu übertragen. Das hat das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 12. Juli 1996 (5 C 18.95 - FEVS 47, 149 = NDV-RD 1997, 13 = ZfSH/SGB 1997, 160) getan, in dem es Zweckgleichheit im Sinne des § 93 Abs. 2 Nr. 2 Satz 4 SGB VIII F. 1990 (= § 93 Abs. 5 SGB VIII F. 1993) zwischen dem Sozialzuschlag zum Arbeitseinkommen im öffentlichen Dienst und Leistungen zum Lebensunterhalt bei der Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege verneint und dabei ausdrücklich auf das Urteil vom 29. September 1994 Bezug genommen hat. Zweckgleichheit ist deshalb zu verneinen, weil das Kindergeld allgemein dem Familienlastenausgleich und nicht der Deckung eines bestimmten Bedarfs des Kindes im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt in einer Einrichtung dient. In dem Urteil vom 12. Juli 1996 hat das Bundesverwaltungsgericht ferner ausgeführt, daß sich aus § 39 Abs. 6 SGB VIII F. 1993, der die Anrechnung von Kindergeld auf laufende Leistungen zum Unterhalt des Kindes oder Jugendlichen im Rahmen der Hilfe zur Erziehung anordnet, nichts anderes ergibt. Denn während § 39 Abs. 6 SGB VIII dem Grundsatz der Nachrangigkeit der Jugendhilfe Rechnung trägt und staatliche Doppelleistungen für den selben Bedarf vermeiden soll, regelt § 93 Abs. 2 Nr. 2 SGB VIII F. 1990 (- § 93 Abs. 5 SGB VIII F. 1993), unter welchen Voraussetzungen der Jugendhilfeträger von den Eltern des Kindes oder Jugendlichen einen Beitrag zu den Kosten der Erziehung verlangen kann.

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Hinsichtlich der Geldleistungen nach dem Unterhaltsvorschußgesetz ist nicht die Klägerin, sondern sind die Kinder selbst nach § 93 Abs. 3 und 5 SGB VIII kostenbeitragspflichtig, da diese Leistungen ihr Einkommen sind. Anspruchsberechtigt ist nämlich nach § 1 Abs. 1 UVG das Kind und nicht der alleinerziehende Elternteil. Daß die Leistung an diesen als gesetzlichen Vertreter des minderjährigen Kindes ausgezahlt und von ihm für das Kind verwendet wird, macht ihn - entgegen der Auffassung des Beklagten - nicht zum Leistungsempfänger. Zweckbestimmte Drittleistungen sind aber von dem Kostenpflichtigen einzusetzen, dem sie rechtlich zugeordnet sind (Stähr in Hauck, SGB VIII, K § 93 Rz. 26). Das sind hier die Kinder.

18

Sollte der Beklagte noch beabsichtigen, die Kinder der Klägerin - gesetzlich vertreten durch sie - zu einem Kostenbeitrag in Höhe eines Teils der Geldleistungen nach dem Unterhaltsvorschußgesetz heranzuziehen, wird er prüfen müssen-, inwieweit Zweckgleichheit mit den Leistungen zum Lebensunterhalt in dem Heim bestanden hat. Da die Leistung nach dem Unterhaltsvorschußgesetz u.a. auch dazu dient, den Bedarf des Kindes an Unterkunft und Heizung in der elterlichen Wohnung, an Bekleidung usw. zu decken, wird Zweckgleichheit im wesentlichen nur hinsichtlich der Teile der Leistungen anzunehmen sein, die für Ernährung vorgesehen sind, da die Kinder diese in dem Heim erhalten haben. Schließlich wird der Beklagte an seiner Entscheidung, in Höhe der Hortgebühren von einer Heranziehung abzusehen, da sie eine besondere Härte im Sinne des § 93 Abs. 6 Satz 2 SGB VIII bedeuten würde, festzuhalten sein.

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Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 154 Abs. 2, 188 Satz 2, 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10 ZPO.

20

Ein Grund für die Zulassung der Revision nach § 132 Abs. 2 VwGO ist nicht gegeben.

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Rechtsmittelbelehrung

22

Die Nichtzulassung der Revision kann innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Urteils beim Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht, Uelzener Straße 40, 21335 Lüneburg, oder Postfach 2371, 21313 Lüneburg, durch Beschwerde angefochten werden.

23

...

Klay
Willikonsky
Müller