Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 06.02.2007, Az.: 2 A 508/05
Abweichung; Diagnose; Diagnostik; Differenz; DRT 3+; Eingliederung; Faktor; Feststellung; Förderung; HAWIK; Hilfe; Isolation; Legasthenie; Legasthenietherapie; Lesen; Rechtschreibstörung; Schema; Standard; Störung; T-Wert; Teilhabe; Test; Therapie
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 06.02.2007
- Aktenzeichen
- 2 A 508/05
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2007, 71820
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 35a Abs 1 Nr 1 SGB 8
- § 35a Abs 3 SGB 8
- § 2 SGB 9
- § 53 Abs 1 SGB 12
- § 53 Abs 4 SGB 12
- § 154 Abs 1 VwGO
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über eine Verpflichtung des Beklagten, die Kosten der bei dem Kläger durchgeführten außerschulischen Legasthenietherapie zu übernehmen.
Der 1996 geborene Kläger besuchte im Schuljahr 2004/2005 die 3. Klasse der Grundschule in G.. Derzeit wird er in der 5. Klasse auf der Realschule beschult.
Zunächst wurden beim Kläger schon im 2. Schuljahr Probleme im Fach Mathematik festgestellt. Der Beklagte übermittelte den Vorgang zur Feststellung der gesetzlichen Voraussetzungen der Leistungsgewährung an die eigens hierfür eingerichtete Fachstelle Diagnostik bei der Jugendhilfe Südniedersachsen e. V. Diese holte einen Elternfragebogen und einen Schulbericht über die Befindlichkeit und die Leistungen des Klägers ein und begutachtete den Kläger. Im Elternfragebogen wurde u.a. angegeben, dass der Kläger meistens ein fröhliches Kind sei, zwei bis drei Freunde habe, allerdings manchmal unglücklich, traurig oder niedergeschlagen sei und sich zurückzöge von anderen. Manchmal habe er Angst, in die Schule zu gehen und spreche davon, sich umzubringen. Mit Bescheid vom 13.07.2004 wurde vom Beklagten die Kostenübernahme einer Dyskalkulietherapie über 40 Stunden bewilligt. Der Beklagte ging dabei von einer Teilhabegefährdung infolge der sozialen Probleme des Klägers aus.
Spätestens im Laufe der Dyskalkulietherapie war in der Schule festgestellt worden, dass der Kläger ebenfalls große Probleme beim Lesen und in der Rechtschreibung hatte. Er begab sich erneut in Behandlung bei dem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie H. in E., der mit fachärztlicher Stellungnahme vom 30.05.2005 das Vorliegen einer Lese- und Rechtschreibstörung (ICD10 F81.0) feststellte und deshalb die Aufnahme einer Legasthenietherapie im Umfang von 40 Behandlungssitzungen empfahl. Der Arzt hatte den Kläger mit dem Rechtschreibtest WRT 3+ getestet, es ergab sich ein Prozentrang von 2,2 und ein T-Wert von 30. Das Ergebnis des zeitgleich durchgeführten Intelligenztests erbrachte einen T-Wert von 48.
Daraufhin stellten die Eltern des Klägers unter dem 30.06.2005, eingegangen am 19.07.2005, beim Beklagten einen Antrag auf Übernahme der Kosten für eine Legasthenietherapie nach § 35 a SGB VIII. Die Therapie wurde vor einer Entscheidung über den Antrag ab September 2005 bei dem Legasthenietherapeuten I. aus G. begonnen und wird auch jetzt noch durchgeführt. Ab Mai 2005 wurde der Kläger auf Anraten und Veranlassung des Arztes H. bis etwa Oktober 2005 mit dem ADS-Medikament Medikinet therapiert, obwohl eine Vorstellung des Klägers im Herbst 2004 in der Universitätsklinik E. keinen Anhalt für das Vorliegen einer Aufmerksamkeitsstörung erbracht hatte.
Der Beklagte übermittelte den Vorgang zur Feststellung der gesetzlichen Voraussetzungen der Leistungsgewährung an die Fachstelle Diagnostik. Diese holte erneut einen Elternfragebogen und einen Schulbericht über die Befindlichkeit und die Leistungen des Klägers ein. Gleichzeitig begutachtete sie den Kläger u.a. mit dem Rechtschreibtest DRT3, wobei der Kläger Leistungen erzielte, die mit einem Prozentrang von 25 einzustufen sind und einen T-Wert von 43 ergeben. Sodann empfahl sie die Ablehnung des Antrages, da eine T-Wert-Differenz von lediglich 5 Punkten keine Rechtschreibstörung belege.
Mit Bescheid vom 06.10.2005 lehnte der Beklagte daraufhin den Antrag des Klägers auf Kostenübernahme für eine Legasthenietherapie unter Wiederholung der Ansicht der Fachstelle ab.
Hiergegen hat der Kläger am 07.11.2005 Klage erhoben.
Er rügt die Sachverhaltsermittlung der Fachstelle als unsachgemäß. Nicht der von ihr verwendete Test, dessen Wortmaterial aus den 60-ger Jahren stamme, sondern der des Arztes H. entspreche dem aktuellen Stand der Wissenschaft. Ggf. müsse die Diskrepanz durch ein Obergutachten geklärt werden. Der bei der Fachstelle durchgeführte Rechtschreibtest sei möglicherweise deshalb so gut ausgefallen, weil er zu dieser Zeit unter medikamentöser Behandlung mit einem ADS-Medikament gestanden habe. Auch hätte im September 2005 von der Fachstelle ein neuer Intelligenztest durchgeführt werden müssen, um eine korrekte T-Wert-Differenz ermitteln zu können. Entgegen der Auffassung des Beklagten habe beim Kläger bei Antragstellung auch eine Teilhabegefährdung vorgelegen. Durch die wiederholten Misserfolgserlebnisse und die dadurch hervorgerufenen Versagensängste sei sein seelisches Gleichgewicht und sein Selbstbewusstsein sehr beeinträchtigt worden, zumal noch Hänseleien von Mitschülern hinzugekommen seien. Er hätte auch suizidale Gedanken geäußert. Obwohl er ein guter Sportler sei, habe er aus Angst vor Zurückweisung nie einem Verein beitreten wollen. Dass die Legasthenietherapie für ihn erforderlich gewesen sei, zeigten die Erfolge, die sich im Laufe der Therapie eingestellt hätten.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 06.10.2005 zu verpflichten, dem Kläger Legasthenietherapie in Form von 40 Stunden zu je 38,00 € zu bewilligen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er meint, dass im Zeitpunkt des Antrages bei dem Kläger keine Rechtschreibstörung mit Krankheitswert vorgelegen habe. Der in der Fachstelle durchgeführte Rechtschreibtest DRT 3+ sei allgemein anerkannt und 1995 zuletzt normiert worden. Mangels 1 ½ Standartabweichungen der Rechtschreibfähigkeiten von den allgemeinen Leistungen und einem erreichten Prozentrang von 25 sei der Kläger kein Legastheniker. Er leide nur unter einer Rechtschreibschwäche. Zudem sei eine Teilhabegefährdung nicht festzustellen gewesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist nicht begründet.
Der Bescheid des Beklagten vom 06.10.2005 ist im Ergebnis rechtmäßig, so dass der Kläger einen Anspruch auf Förderleistungen für 40 Stunden Legasthenietherapie durch den Beklagten nicht hat (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).
Maßgeblich ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, denn in Fällen, in denen um die Gewährung von Leistungen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII gestritten wird, endet hier der Entscheidungszeitraum des Gerichts (vgl. Urteil der Kammer vom 29.6.2006 -2 A 155/05-, im Anschluss an BVerwG, Urteil vom 8.6.1995 -5 C 30.93-, FEVS 46, 94).
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine Legasthenietherapie aus Mitteln der Jugendhilfe ist mithin § 35 a Abs. 3 SGB VIII in der ab dem 01.10.2005 geltenden Fassung vom 08.09.2005 i.V.m. §§ 53 Abs. 4, 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII i.V.m. § 3 EingliederungshilfeVO. Gemäß § 35 a Abs. 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn
1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und
2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Die Voraussetzungen des § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII haben zur Überzeugung des Gerichts weder bei Antragstellung im Juli 2005 noch bei der Bescheidung im Oktober 2005 vorgelegen haben. Das Vorliegen einer Rechtschreibstörung beim Kläger hat seine Testung in der Fachstelle Diagnostik am 14.09.2005, gegen die das Gericht keine Einwände erhebt, nicht bestätigt.
Eine seelische Störung, die eine wesentliche Einschränkung der Teilhabefähigkeit im Sinne des 53 Abs. 1 SGB XII zur Folge haben kann, liegt vor bei
1. körperlich nicht begründbaren Psychosen,
2. seelischen Störungen als Folge von Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns, von Anfallsleiden oder von anderen Krankheiten oder körperlichen Beeinträchtigungen,
3. Suchtkrankheiten,
4. Neurosen und Persönlichkeitsstörungen.
Problematisch an diesem Definitionskatalog, wie auch an der gesetzlichen Definition der Behinderung in § 2 SGB IX, ist, dass der Begriff „seelische Behinderung“ ein sozialrechtlicher Begriff und keine medizinische Diagnose ist. Zum anderen handelt es sich bei den in § 3 Eingliederungshilfe-Verordnung aufgeführten Begriffen um erwachsenenspezifische Begriffe, die zudem aus fachlicher Sicht mittlerweile überholt scheinen (vgl. OVG Münster, Urteil vom 20.02.2002 - 12 A 5322/00 -, NDV-RD 2002, 84; Jans/Happe/Saurbier/Maas, Jugendhilferecht, § 35 a KJHG Rn. 14; Fahlbusch, Gutachten vom 04.01.2005 für den DV „Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendhilfe mit Autismus“, jeweils m.w.N). Deshalb wird zur weiteren Diagnose einer seelischen Behinderung auf die internationale Klassifikation der WHO (ICD-10) zurückgegriffen. Dies entspricht auch der Vorstellung des Gesetzgebers (vgl. Regierungsbegründung des SGB IX, BT-Ds 14/5074/2001, S. 121).
Insoweit hat das Gericht in seiner Grundsatzentscheidung vom 26. Januar 2006 -2 A 161/05- (veröffentlicht in der Internetentscheidungssammlung des Nds. Oberverwaltungsgerichts) ausgeführt:
„In Abschnitt V F 81 der ICD-10 werden umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten definiert. Danach handelt es sich bei allen diesen Störungen, seien es Lese- und Rechtschreibstörung (F 81.0), isolierte Rechtschreibstörung (F 81.1), Rechenstörung (F 81.2), kombinierte Störungen schulischer Fertigkeiten (F 81.3), sonstige Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten (F 81.8) oder Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten, die nicht näher bezeichnet werden (F 81.9) um Störungen, bei denen die normalen Muster des Fertigkeitserwerbs von frühen Entwicklungsstadien an gestört sind. Dies ist nicht einfach Folge eines Mangels an Gelegenheit zu lernen; es ist auch nicht allein als Folge einer Intelligenzminderung oder irgendeiner erworbenen Hirnschädigung oder -krankheit aufzufassen. Bei der hier im Streit befindlichen isolierten Rechtschreibstörung (F 81.1) handelt es sich um eine Störung, deren Hauptmerkmal in einer umschriebenen und bedeutsamen Beeinträchtigung der Entwicklung von Rechtschreibfertigkeit besteht, ohne Vorgeschichte einer Lesestörung. Mit den Beteiligten geht die Kammer davon aus, dass es im Fall des Klägers trotz der Tatsache, dass er in der Vergangenheit auch eine Lesestörung hatte, nur um die Frage geht, ob bei ihm eine isolierte Rechtschreibstörung vorliegt. Die Lesestörung ist ausweislich der vorliegenden Stellungnahmen weitestgehend behoben. Damit es sich um eine isolierte Rechtschreibstörung im Sinne der ICD-10 handelt, darf die Entwicklungsbeeinträchtigung nicht allein durch ein zu niedriges Intelligenzalter, durch Visusprobleme oder unangemessene Beschulung erklärbar sein.
Die Klassifikationen nach ICD-10 enthalten indes keine Vorgaben für die fachärztliche Diagnose der isolierten Rechtschreibstörung oder der Lese-Rechtschreibstörung. Insoweit legt die Kammer ihrer Entscheidung die fachlich anerkannten Standards der Kinder- und Jugendpsychiatrie zugrunde. Diese ergeben sich aus den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin vom 25. Juni 2004, gültig bis 2008 (zitiert nach Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften -AWMF- online). Danach beruht die Diagnose der umschriebenen Entwicklungsstörungen auf dem durch Remschmidt, Schmidt und Poustka 2001 auch im deutschsprachigen Raum etablierten multiaxialen Klassifikationsschema (MAK) für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters nach ICD-10 (so auch Jans u.a., a.a.O., Rn. 15; Fahlbusch, a.a.O.; Mehler-Wex/ Warnke, Diagnostische Möglichkeiten zur Feststellung einer seelischen Behinderung (§ 35 a SGB VIII), SGB VIII-online-Handbuch).
Die Achse 1 betrifft das klinisch-psychiatrische Syndrom, was auf der ausführlichen Anamneseerhebung und dem psychopathologischen Untersuchungsbefund des Kindes oder Jugendlichen basiert. Die Achse 2 erfordert die Abklärung umschriebener Entwicklungsstörungen wie Legasthenie und Dyskalkulie unter Zuhilfenahme der schulischen Stellungnahmen und Zeugnisnoten (deutlich schlechtere Noten in Deutsch bzw. Mathematik als in den übrigen Fächern) und zum anderen spezieller Testungen durch standardisierte Rechtschreibtests (z. B. WRT 3+ und/oder eines standardisierten Lesetest mit einem Prozentrang <= 10 % (Richtwert). Auf Achse 3 wird das Intelligenzniveau angegeben, festgestellt durch
psychologische Intelligenz- und Leistungsdiagnostik (z. B. HAWIK oder CFT 20). Werte im CFT 1 und CFT 20 im unteren Durchschnittsbereich (IQ 85 -95) erfordern eine weitere Überprüfung durch eines der übrigen Testverfahren, um eine Intelligenzminderung sicher auszuschließen. Das Intelligenzniveau ist auch von besonderer Bedeutung für die Diagnose einer Entwicklungsstörung (Achse 2), da diese einen IQ >= 70 voraussetzt. Außerdem kann eine Teilleistungsstörung danach im schulischen Bereich nur dann attestiert werden, wenn die Ergebnisse aus den Rechen-, Lese- und Rechtschreibtests in Bezug zum Intelligenzniveau gesetzt wurden. Die T-Wert-Diskrepanz zwischen Gesamt-IQ und den jeweiligen Testergebnissen im Lesen/Schreiben/Rechnen sollte >= 12 Punkte betragen bzw. eine Diskrepanz von mind. 1,5 Standardabweichungen sollte bestehen. Auf der Achse 4 sollen organische Ursachen der psychischen Störung ausgeschlossen werden. Achse 5 gibt die assoziierten aktuellen abnormen psychosozialen Umstände an, die das Kind im Zeitraum der letzten 6 Monaten vor Behandlungszeitpunkt direkt und durchgehend betroffen haben. Auf der Achse 6 werden schließlich die Art der Beziehungen des Kindes oder Jugendlichen zur Familie, Gleichaltrigen und Außenstehenden, die sozialen Kompetenzen, schulische/berufliche Adaption, Interessenlage und Freizeitaktivitäten beurteilt.
Gelegentlich werden geringfügig abweichende Diagnosekriterien für sachgerecht gehalten. So sieht R. (Legasthenie Diagnose und Therapie in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Praxis, Vortrag auf der Jahrestagung des BKJPP vom 15.11.2002 in Stuttgart) die sog. T-Wert-Differenz von 12 kritisch, misst ihr aber dennoch richtungsweisende Bedeutung zu. Harnach-Beck (NDV 1998, 230, 231) hält eine Standardabweichung von 1,0 für ausreichend. Dem folgt die Kammer im Interesse einer einheitlichen, fachlich anerkannten Diagnosepraxis im Grundsatz ebenso wenig wie in der therapeutischen Praxis vertretenen Ansätzen, die darüber hinaus auf die Art der Rechtschreibfehler sowie auf den sog. Mehrfachfehlerquotienten, der angibt, wie viele Fehlentscheidungen ein Kind in einem falsch geschriebenen Wort macht, abstellen (vgl. interessanter Weise die im Internet nachgewiesene Ansicht des den Kläger behandelnden Therapeuten, www.lrs-bartels. de/diagnose). Diese abweichenden Ansätze mögen allenfalls zu einer besonders kritischen Würdigung der auf der Basis der Leitlinien gefundenen Ergebnisse Anlass geben.
Von besonderer Bedeutung für die Diagnose einer Teilleistungsstörung sind nach den genannten fachlichen Standards im wesentlichen drei Faktoren.
Zum einen der bei den durchgeführten Lese-, Rechen- und Rechtschreibtests erzielte Prozentrang. Zweitens das durch anerkannte Testverfahren ermittelte Intelligenzniveau sowie drittens die Differenz zwischen ermitteltem Teilleistungsvermögen und Intelligenzvermögen, wobei einerseits auf eine rechnerische Differenz (T-Wert und Standardabweichung) und andererseits auf eine Diskrepanz zwischen den Schulnoten in den Fächern mit Teilleistungsstörung einerseits und solchen ohne eine Störung andererseits abgestellt wird.“
Hieran hält der Einzelrichter auch unter Berücksichtigung der vom Kläger erhobenen Einwände fest. Dass für die Diagnose einer Teilleistungsstörung auf die internationale Klassifikation der Krankheiten abzustellen ist, wurde durch die mit Gesetz zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe - KICK - vom 8. September 2005 (BGBl I S. 2729) eingeführte Regelung in § 35 a Abs. 1 a Satz 2 SGB VIII bestätigt. Insbesondere bleibt es bei der Auffassung, dass bei einem von dem Kind oder Jugendlichen in einem anerkannten Schreibtest erzielten Prozentrang der Rechtschreibleistung von deutlich über 10 von einer Rechtsschreibstörung mit Krankheitswert im Sinne von § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII auch dann nicht ausgegangen werden kann, wenn die sog. T-Wertdifferenz, d.h. die Differenz der durch anerkannte Tests ermittelten Werte für die Rechtschreibleistung einerseits und die allgemeine Intelligenzleistung andererseits, mehr als 12 Punkte (hier: 22) beträgt. Diese Annahme wird durch die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin, die den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten zusammenfasst bestätigt. Danach ist es ausgeschlossen wegen einer T-Wertdifferenz von „nur“ 5 Punkten eine Rechtschreibstörung anzunehmen, wenn und soweit die isoliert betrachtete Rechtschreibleistung, wie hier, im durchschnittlichen Bereich vergleichbarer Kinder liegt. Diese Leitlinien sind am 25.06.2004 erstellt worden und ihre Überprüfung ist erst im Jahre 2008 geplant. Sie geben den aktuellen Erkenntnisstand wider, so dass kein „Obergutachten“ einzuholen ist, da für andere wissenschaftliche Erkenntnisse nichts ersichtlich ist.
Soweit der Kläger eingewandt hat, in der Behandlungspraxis des Kinder- und Jugendlichenpsychiater und -psychotherapeuten H. würden andere Kriterien gelten, dringt er hiermit nicht durch. Dem kann schon im Interesse einer fachlich anerkannten, einheitlichen Handhabung der umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten nicht gefolgt werden. Zum anderen setzen selbst die für die Praxis erstellten Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie (Anm. des Gerichts: Die vom Gericht herangezogenen Leitlinien gelten für die klinisch-wissenschaftliche Arbeit) nach dem Stand: Januar 1999, zuletzt im Mai 2003 überarbeitet, für die Annahme einer Lese- und/oder Rechtschreibstörung voraus, dass der Prozentrang im Rechtschreib- bzw. Lesetest nicht signifikant größer als 10 sein sollte. An anderer Stelle heißt es ein Prozentrang kleiner 10 sei diagnostisch richtungsweisend.
Gemessen an diesen diagnostischen Vorgaben kann nicht festgestellt werden, dass der Kläger im Sinne von § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII seelisch behindert war oder ihm eine derartige seelische Behinderung bei Bescheidung des Antrages drohte. In dem von der Fachstelle durchgeführten Rechtschreibtest erreichte der Kläger einen Prozentrang von 25 und damit deutlich über 10. Die abweichenden Feststellungen des Arztes H. entsprechen nicht den oben dargelegten Vorgaben und sind damit bei der Anwendung des § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII nicht haltbar.
Da beim Kläger die Voraussetzungen des § 35 a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII nicht vorlagen, ist die Frage, ob beim Kläger auch eine Teilhabebeeinträchtigung am Leben in der Gemeinschaft, also das zweite Tatbestandsmerkmal des § 35 a Abs. 1 SGB VIII, die Nr. 2, vorlag, aus Rechtsgründen nicht zu beantworten.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 S. 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.